Über die Ungeborenheit

Bankei
Im Laufe vieler Jahre habe ich immer wieder über ihn berichtet - den Zen- Meister Bankei, mir aufgrund seiner anarchistisch- spirituellen Attitüde so überaus sympathisch ist, über den sich aber auch einiges an Zeugnissen erhalten hat. Bankei lebte im 17. Jahrhundert, fiel so vollständig aus der Zeit und auch aus den Traditionen des Zen, dass er dadurch zum Erneuerer und Impulsator des Zen wurde. Um es einfach auszudrücken, war Zen damals in Traditionen, Riten und Gewohnheiten erstickt. Dagegen setzte Bankei den Begriff der Ungeborenheit - ein Zustand unmittelbarer geistiger Selbsterfahrung- einfach indem alles, was „geboren“ - tradiert, angelernt, angemaßt, Denkgewohnheiten, Geschlecht, soziale Schicht, usw - ist, im meditativen Akt abgelegt wird. 

Bankei forderte also von den Zen- Mönchen (nicht unähnlich den zahlreichen diesbezüglichen Aufforderungen Georg Kühlewinds gegenüber seinen anthroposophischen Zuhörern) inneres, aktives Arbeiten statt sinnentleerter Rituale oder ständiger Rückbezüge auf interne Traditionen. 

Der Vater Bankeis (mit 8 Geschwistern) war von seinem Amt als Ritter zurück getreten und war jetzt „a masterless samurai or ronin“*. Der Junge Bankei fiel als besonders intelligent, aber auch als extrem unruhig, unfügsam und willensstark auf. In früher Jugend führte er Banden an, beruhigte sich aber, als er mit 11 endlich in eine Schule durfte. Fast erwartungsgemäß machte ihm das Schreiben - also das endlose kalligrafische Kopieren von Schriften- Schwierigkeiten. Um nicht jede Anekdote zu wiederholen: Der ganze Junge war eine Schwierigkeit. Er hat z.B. etwa in dem Alter eine Hand voll giftiger Spinnen geschluckt, um sich nach einem Streit umzubringen. Dazu schloss er sich in einem buddhistischen Schrein ein- lag Stunden vielleicht sterbend in einem Sarkophag. Seine Lehrer, die reine Repetitoren waren, nervte er mit endlosen Fragen nach dem Sinn ihrer Gebete: „the awakening of religious doubt in his consciousness“.

Bankei hat diese jugendlichen Jahre damit verbracht, jede Religion, jeden Kult und jede Tradition in seiner weiteren Umgebung „nach Gehalt“ zu erkunden. Er fand leider nichts und „wandered about like a stray mountain lamb, aimlessly and alone“*. Endlich fand er in einem Zen- Kloster einen Lehrer - Umpo-, der ihm auf seine Fragen antwortete: „practice zazen“*. Bankei wurde augenblicklich Mönch, und lernte drei Jahre bei Umpo. Mit 19 verließ er das Kloster und streifte durch das ganze Land. Es war offenbar ein tiefer Abstieg. Nach den Klöstern und dem Wandern folgte ein Leben als Nichtsesshafter und Bettler, unter Brücken schlafend- und dennoch ständig Zazen praktizierend. Die Zweifel blieben, auch als er mit 23 zu Umpo zurück kehrte. Es folgten Jahre des Hungerns, des Lebens in einer nackten Zelle, des ständigen Meditierens. Bankei wird davon schwer krank, stirbt beinah- und erlebt an der Schwelle des Todes das Einssein aller Dinge in der Ungeborenheit: „I realized what it was that had escaped me until now: All things are perfectly resolved in the Unborn“*. Nach Jahren weiteren Studiums bei einem chinesischen Meister wird Bankei der Erbe und Nachfolger Umpos. Er, der zunächst stark umstritten in der Priesterschaft gewesen war, fand nun so viel Anerkennung, dass er eine eigene Schule innerhalb des Zen begründete. Bankei lehrte die nächsten 36 Jahre jeden, der vorbei kam und eine Frage stellte. Diese wunderbaren, geistreichen Gespräche zur Ungeborenheit gehören zum Weltkultur- Erbe. Wenigstens sind sie in einer englischen Übersetzung und mit einer detaillierten Einführung von Norman Waddell - auf die ich mich hier bezogen habe- versehen hier und da erhältlich*.

Aber auch Rudolf Steiner hat sich zwar auch zur Ungeborenheit als besonderer Qualität geäußert, wusste aber offensichtlich nicht von Meister Bankei:

Man darf überhaupt nicht unterschätzen die Bedeutung, welche im Worte liegt. In dem Augenblicke, wo sich der Gedanke umprägt zum Worte, selbst wenn das Wort als solches nur gedacht wird, wie in der Wortmeditation, in demselben Moment prägt sich das Wort ein in den Äther der Welt. 

Der Gedanke prägt sich als solcher nicht in den Äther der Welt ein, sonst könnten wir niemals im reinen Denken freie Wesen werden. Wir sind ja in dem Augenblicke gebunden, wo sich etwas einprägt. Für die Initiations - Wissenschaft liegt ja heute einfach die Tatsache vor, dass im ganzen Erden- Äther dadurch, dass die zivilisierten Sprachen kein gangbares Wort für Ungeborenheit haben, dieses für die Menschheit wichtige Ungeborensein überhaupt nicht dem Weltenäther eingeprägt wird. 

Alles das aber, was an wichtigen Worten eingeprägt wird in den Welten- Äther vom Entstehen, von alldem was den Menschen betrifft in seiner Kindheit, in seiner Jugend, all das bedeutet einen furchtbaren Schrecken für die ahrimanischen Mächte. Unsterblichkeit im Welten- Äther eingeschrieben, das vertragen die ahrimanischen Mächte eigentlich sehr gut, denn Unsterblichkeit bedeutet, dass sie mit dem Menschen eine neue Schöpfung beginnen und mit dem Menschen hinauswandern wollen. Das irritiert die ahrimanischen Mächte nicht, wenn sie immer wieder den Äther durchsausen, um mit dem Menschen ihr Spiel zu treiben, wenn da so und so viel von den Kanzeln von Unsterblichkeit verkündet wird und in den Weltenäther eingeschrieben wird. Das tut den ahrimanischen Wesen sehr wohl. 

Aber ein furchtbarer Schrecken für sie ist es, wenn sie das Wort «Ungeborenheit» in den Weltenäther eingeschrieben finden. Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen.“ **

Dass Zen- Anarchisten wie Bankei (1622- 1693) in diesen frühen Jahren auf eine spirituell verödete Umgebung stießen und sich mit der ihnen zur Verfügung stehenden Widerspenstigkeit und durch persönliche, gesellschaftliche und spirituelle Krise gehend, einen eigenen geistigen Standpunkt erarbeiten. hat mich natürlich immer umgetrieben. Der Begriff der Ungeborenheit, der mir nicht vertraut gewesen ist, mit dem ich aber gut im Betrachten eigener geistiger Erfahrung leben kann, ist ebenso wesentlich bei dieser jahrelangen Beschäftigung mit Bankei wie seine widerständige Art, an den Punkt seines Bewusstseins zu kommen, der sich auch gerade mit dem faden Ganz der Selbstbespiegelung beschäftigt: "Wenn du das verstanden und abgestellt hast, werden Selbstbespiegelungen und Illusionen nicht einmal mehr möglich sein, wenn du es wolltest, da du dauerhaft in der Ungeborenheit, dem Buddha- Bewusstsein, lebst. Sonst ist darüber nichts zu sagen."

Die Erfahrung der Ungeborenheit ist also nach Bankei mit der Erlangung des Buddha- Bewusstseins gleich zu setzen- zumindest dann, wenn diese Erfahrung nicht nur in Form einer einmaligen Erleuchtung, sondern als dauerhaftes Einleben- Könnens zur Verfügung steht.

Nun finde ich bemerkenswert, dass dieser Begriff auch von einem längst verstorbenen anthroposophischen Lehrer, Athys Floride, an dessen jährlichen Osterkursen ich auch öfter teilnahm, verwendet wurde- nämlich als Beschreibung der Umstände des Eintretens des echten inspirierten Stadiums der inneren Entwicklung:

"Die inspirierte Erkenntnis ermöglicht dem Meditierenden die Erfahrung der Ungeborenheit zu haben aufgrund der Tatsache, dass die Seele "außerhalb des Leibes" sich in geistiger Umgebung, welcher sie sich verbunden fühlt, zu erleben. Die Seele empfindet, dass sie vor der Geburt gelebt hat, dass sie ungeboren ist, d.h. dass sie nicht durch die Geburt entstanden ist. Der Mensch ist vielmehr geneigt, von der Unsterblichkeit der Seele zu sprechen, einem Wunsch entsprechend, nach dem Tod noch zu leben, was egoistisch gefärbt sein kann. Das Bewusstsein der Ungeborenheit der Seele, also von ihrer Existenz vor der Geburt, welche durch die irdische "Bekleidung" eine Hülle erhält, dieses Bewusstsein ist eine Errungenschaft von allergrößter Wichtigkeit."*** 

Vielleicht kann man der Formulierung Athys Florides "sich in geistiger Umgebung, welcher sie sich verbunden fühlt, zu erleben" nach gehen. Man kann darüber nachdenken, was er unter Seele versteht- ist es doch zuerst ein Bewusstsein, das sich als reines Bewusstsein erlebt, um das es geht. Aber die Inspiration, die Floride anspricht, durchdringt dieses Bewusstsein natürlich auch mit diesen großen Gefühlen, diesen offenen, weiten Empfindungen, die aus dem Wesen stammen, ja das Wesen selbst sind- es aber zugleich durchwehen, aber auch verdichtet zu Organen der Orientierung werden. Und eben das macht ja die Verbundenheit "in geistiger Umgebung" aus, die Floride meint. Das dialektische Ich- Das- Verhältnis, das hier aufgehoben ist in der Empfindung, die das Innerste des eigenen Wesens ausmacht und zugleich die Substanz ist, aus der Die Welt sich schafft. Die Ungeborenheit ist auch die Erfahrung der Aufhebung dieses Dualismus.
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*„The Unborn. The Life and Teaching of Zen Master Bankei 1622-1693“. San Francisco 1984 Textstellen frei übersetzt von M.E.

 ** Rudolf Steiner, GA 203, S. 275f
***Athys Floride, Stufen der Meditation, Verlag am Goetheanum, 1987, S. 52

Text überarbeitet aus verschiedenen Archiv- Arbeiten