Der Brunnen des lebendigen Wassers

In der meditativen Praxis sieht man zahlreiche individuelle Bemühungen, sofern man mit Praktizierenden darüber in ein Gespräch und in einen tatsächlichen Austausch gelangen kann. Letzteres ist schon deshalb nur selten der Fall, weil tatsächlich praktisch Tätige selten darüber sprechen- oft in der irrigen Annahme, durch das Sprechen darüber ginge etwas verloren. Hauptproblem bleibt aber, dass Kompetenz im meditativen Leben noch keine Fähigkeiten zum sprachlichen Ausdruck mit sich bringt- das Wortlose zur Sprache zu bringen, kann nur im Nachhinein gelingen und wirkt sehr leicht formelhaft und blutleer, da man ansonsten sprachschöpferisch tätig werden müsste. Lehnt man sich an die Wortgebilde Anderer an, gerät man leicht in ein Dozieren aus der Systematik eines Anderen und verfehlt das eigene Erleben. Ein Austausch ist dann kaum möglich.

Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass viele Praktizierende so in Anspruch genommen werden von den Inhalten des Erlebten – etwa schwer ausdrückbare Empfindungen oder eine Bilderflut-, dass sie kaum in der Lage sind, ihre eigenen methodischen Schritte zu reflektieren. Im Sinne der Übung wäre es sicherlich produktiv, auch den eigenen, mühsam gefundenen Zugang in seiner Methodik zu betrachten. Häufig wird dieser Zugang aber nicht infrage gestellt, sondern verabsolutiert- es ist ein sakrosankter Bereich, der zum Intimsten des eigenen Inneren gezählt wird. So etwas diskutiert man nicht.

Oder eben doch. Denn im 21. Jahrhundert schießen spirituelle Strömungen an allen möglichen Orten aus dem Boden. Es ist schon günstig, auch darauf ein gewisses Maß von Aufmerksamkeit richten zu können, um einen gewissen Grad von Beurteilungsbefähigung zu entwickeln. Häufig sieht man durchaus Parallelen und entwickelt Verständnis für eine Methodik oder auch für eine gewisse manipulative Technik. Man kann nur einschätzen, was man aus eigener Anschauung und Praxis kennt. Häufig bemerkt man dann ernüchtert, dass die mit Emphase vorgebrachte neue Erkenntnismethodik lediglich einen ausgebauten Nebenweg darstellt- im Grunde ein irrelevanter Trampelpfad, der lediglich mit Irrlichtern beleuchtet zum Königsweg erklärt wurde. In der Öffentlichkeit stark beachtete und beworbene Erleuchtungspfade führen nicht selten in sumpfiges Gelände, in ein Niemandsland.
Seriöse Praxis – so weit lässt sich eine Richtschnur formulieren- ist sich ihrer eigenen Methoden bewusst, kann sie abwägen und reflektieren. Die „Wissenschaftlichkeit“ von Anthroposophie besteht vor allem in genau dieser Haltung. Die moderne geistige Entwicklung verlangt nach Transparenz und Nachvollziehbarkeit, sonst ist es keine. Wir werden nun einmal von und an unserem Zeitgeist gemessen.

Worum es nun geht? In einem Mitgliederbrief 1925 formulierte Rudolf Steiner: „Der Mensch denkt in denselben Kräften, durch die er wächst und lebt. Nur müssen diese Kräfte, damit der Mensch zum Denker wird, ersterben.“ Das ist der natürliche Weg. Es werden leibgebundene Kräfte frei, um geistige Fähigkeit werden zu können- in der Kindheit und auch – wenn auch nicht immer bemerkt- im fortschreitenden Alter. Wolf-Ulrich Klünker („Anthroposophie als Ich- Berührung“, S. 83) akzentuiert diese Aussage anders: „Der Mensch wächst und lebt in denselben Kräften, durch die er denkt. Nur müssen diese Kräfte aus dem toten Denken wieder erstehen- damit eine gesunde leibliche und seelische Existenz möglich wird.“

Ich möchte diese Aussage noch fortführen: In den frei gewordenen, ehemals leibgebundenen Lebenskräften richten wir uns meditativ ein. Unser Denken ersteht neu als reine Gegenwärtigkeit- als lebendige Kraft. Wir wissen, dass die Tatsache, dass wir voll und ganz als Mensch in diesen Kräften bewusst sein können, darauf beruht, dass diese lebendigen Kräfte durchlichtet sind- denn in ihnen lebt die Auferstehungskraft, die in diesem Sinne heute universell und individuell zugleich auftritt. In früheren Kulturen konnte man diese Kraft bewusstseinmäßig noch nicht fassen und ertragen und fiel in eine Art geistige Ohnmacht. Heute ist diese, vom Logos durchlichtete Lebensenergie Allgemeingut.

Dieser meditativen Erfahrung gehen bestimmte Lernphasen voran- eine Zeit der Sammlung und Fokussierung, aber auch eine Phase der Gestaltung. Erstere hat Übungscharakter, letztere ist eine Art Vertiefung und Ausgestaltung. Um im Bild zu sprechen, weben wir eine Art Kleid, eine mystische Leiblichkeit. Es ist dies das biblische *Hochzeitskleid*. Anthroposophisch gesprochen arbeiten wir – oder besser es arbeitet an uns- die Wesensglieder um, befrieden und sortieren uns, bis Augenblicke vollkommener Hingabe und tiefer Versenkung möglich sind. Dazu bedarf es eines Einklangs aller inneren Impulse.

Wenn es gelingt, erleben wir das Denken im status nascendi- als reine Anfänglichkeit, als bewegliche, wache Energie, als sonnenhafte, aus dem tiefsten Inneren entspringende Quelle.
Die Quelle, die aus sich selbst gespeist wird, die reiner Anfang ist, die nicht versiegt: Das ist der Beginn moderner Einweihung. Es gibt dafür keine Voraussetzungen, keine Tradition, keine Hierarchie. Siehe, ich mache alles neu: „Und der auf dem Stuhl saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will den Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offenbarung 21)