Jenseits der überlebten spirituellen Direktiven

"Nein, die Rede ist von jenem Denken, das keinen Inhalt nötig hat, um den Geist wieder zu finden, weil es weiß, dass schon in seiner eigenen inneren Bewegung - jedoch nicht in deren dialektischer Hülle- der grenzenlose Strom des Geistes fließt, der auf die überlebten spirituellen Direktiven verzichten kann, weil das Denken in seinem eigenen Sein den Sinn der "Tradition" entdeckt: den Sinn dessen, worin die Geschichte des Geistes als fortdauerndes Ereignis gründet."

(Scaligero, Traktat über die unsterbliche Liebe, S. 35)

Inhaltloses Denken führt einen unweigerlich in den Tiefschlaf oder in den Zustand einer ohnmächtigen Paralyse, da das Denken immer an etwas anstößt- die Leere in Bezug auf die Denkinhalte kann aber auch, wenn geübter Wille tätig wird, hell und wach erlebt werden.

Dann allerdings kommt man in das Erleben einer Dynamik hinein, das zunächst jenseits des Erlebnishorizonts liegt. Wir erfahren im Denken normalerweise Resultate, aber keine Prozesse. Sich willentlich und hellwach in den "grenzenlosen Strom des Geistes" hinein zu stellen, bedarf daher der Übung.

In verschiedenen spirituellen Traditionen wurde dies seit jeher geübt und vermittelt- oft allerdings auch mit Mitteln, die das Denken nicht in das Prozess-hafte hinein stellten, sondern umgingen. Der Umgang mit dieser Dynamik kann nur weghaft sein- d.h. Schritt für Schritt vollzogen werden. Allerdings liegt im Umgang mit diesem Weghaften schon die ganze Lehre- es bedarf keiner Traditionen mehr, keiner religiösen Inhalte, keines Systems. Man erkennt z.B. sehr gut die eigenen Hemmnisse, die man in den Weg stellt und arbeitet daran. Insofern ist der Umgang mit der inneren Dynamik des Geistes eine Unabhängigkeitserklärung des Individuums- aber eine, die dem Weg folgt, der sich aus der Erfahrung selbst ergibt, da er als sinnvoll erkannt wird.

Das Sinnschöpfende ist eine Konstante in der Erfahrung des Geistes. Der Weg ist in sich stimmig und ergibt sich aus sich selbst.