Herzwunde


So weit ich mich erinnere, hat auch Rudolf Steiner davon gesprochen, dass man sich an einem bestimmten Abschnitt des Schulungsweges fühle, als würden einem die Knochen im Leib zerschlagen. Wie in der Homöopathie, in der das Ziel ist, den Krankheitsprozess mit einem einzigen Medikament zu heilen, kommt man dort, wo es besonders schmerzt, der einen inneren Wunde auf die Spur - diejenige, die einen angetrieben hat, die die höchsten Ideale angefacht hat, die meiste Energie. Es ist der Bereich, den zugleich niemand berühren darf, der mit Tabus belegt ist, weil hier die tiefsten Selbstzweifel angesiedelt sind. Schulungsweg und Psychoanalyse reichen sich an diesem Punkt die Hände, denn zweifellos sind das frühkindliche Erfahrungen, auf die man so oder so reagiert hat. Man hat diese Wunde nicht nur kaschiert, sondern auf ihr große Perspektiven und ein Selbstbild aufgebaut. Vielleicht ist hier das Ideal eines Partners entstanden, ein Ideal von einem Beruf oder gar eine Berufung. Man ist dem mit Leidenschaft gefolgt, nur um (hoffentlich) an dem Punkt, an dem „die Knochen zerschlagen“ werden, zu entdecken, dass die großen Ideale letztendlich eine Wunde, einen Selbstzweifel, ein existentielles Problem verdecken.

Ich denke, durch diese Krise muss man hindurch- allerdings nicht in dem Sinne, dass man neue emotionale Verkrustungen aufbaut, sich etwa selbst verurteilt oder gar aufgibt und resigniert. Es macht aber auch keinen Sinn, den existentiellen Käfig, in dem steckt, mit spirituellen Blümchen auszustatten oder mit Gefühlen des Gloriosen, Selbstidealisierung und Unangreifbarkeit neuerdings zu verdecken. An einem bestimmten Punkt wird man mit diesen inneren Zweifeln konfrontiert, aber man wird die seelische Konstellation, in der man steckt, nicht einfach „auflösen“ können. Sie sollte aber etwas von ihrem zwanghaften Charakter verlieren. Dennoch gehört das alles zu einem selbst- so wie sich ein Geschmack oder ein Geruch auch aus zahlreichen verdeckten Geschmäckern zusammen setzt. Auch Maiglöckchenduft trägt Aspekte von Verwesung in sich.

Man kann aber nicht einfach weiter machen, man muss sich mit den Ego- Strukturen allmählich anfreunden, sie integrieren und ihnen das Lastende nehmen. Nur so kommt man auch an die heilenden emotionalen und geistigen Kräfte heran. In einem inneren Schlachtfeld gedeihen keine Blumenfelder. Wenn der innere Unruhe- Zustand etwas an Licht, Luft und Leichtigkeit gewonnen hat, wenn das verkniffene Verteidigen von Standpunkten zur Ruhe kommt, wird auch wahrnehmbar, dass die Luft von wunderbaren Düften durchsetzt ist, die wohl immer da waren, aber man selbst war eben -beschäftigt mit der Selbstinszenierung.

Verdächtig ist es, wenn spirituell Suchende unangreifbare Positionen beziehen, weil man spirituelle Kompetenz nicht kritisieren kann. Der eine hat eine Christuserfahrung, der zweite eine krachende Erleuchtung, der dritte wird zum Ratgeber für Andere. Manchmal sind die grössten Ratgeber die ärmsten Würstchen, weil die eigenen existentiellen Unsicherheiten in dieser Rolle völlig verdeckt werden und weil der Erwartungsdruck der Ratsuchenden den Ratgeber geradezu zu einem grotesk überzogenen Selbstbild zwingt. Wer „die Wahrheit“ findet, verliert möglicherweise sich selbst völlig aus den Augen und zementiert nur das, was direkt der Herzwunde entspringt.

Auch wenn die Ratgeber hundertmal behaupten, ihre Ratschläge würden reinem „Herzdenken“ entspringen, haben sie vielleicht den eigentlich ins Auge springenden schwachen Punkt gerade damit überdeckt.