Swassjan: Die armen Seelen der bedürftigen Anthroposophen

"Es besteht - wohl seit den ersten anthroposophischen Zeiten- die zählebige Meinung, Rudolf Steiners späteres theosophisch- anthroposophisches Werk sei ein Fortschritt und Vorrücken seinem Frühwerk gegenüber, das nichts anderes darstelle als die philosophische Stellungnahme und Vorbereitung für die weiteren esoterischen Leistungen des anthroposophischen Lehrers. Manche Interpretatoren sind sogar so weit gegangen, hier, also zur Zeit der Jahrhundertwende, einen grundlegenden weltanschaulichen Umschwung zu halluzinieren, infolgedessen der ehemalige Nietzsche-, Stirner- und Haeckel- Verehrer Rudolf Steiner eine Art mystischer Verklärung erlitten haben und vom Exoterischen zum Esoterischen konvertiert sein soll.

Schade nur, dass er diese seine rührselige Bekehrung dann nicht durch so etwas wie "Bekenntnisse" a la Augustinus beglaubigte, um allen Biedermeier-Anforderungen unserer lyrisch- okkulten Bedürfigkeiten gerecht zu werden.

Man gebe sich aber einmal die Mühe, dieses Verhältnis schlechtweg umzudrehen, wie wenn hier gerade das Gegenteil gälte. (Die leichtsinnige Annahme, ein sonst mehr oder weniger gut verdauliches Wortpaar wie esoterisch-exoterisch bewahre auch im Fall Rudolf Steiners überhaupt einen Sinn, übergehen wir mit taktvollem Schweigen.) Es könnte nämlich sein, dass das Verhältnis zwischen Früh- und Spätwerk etwa demjenigen zwischen einem unverdünnten Konzentrat und dessen allmählichen, jedesmal aufs genaueste dosierten homöopathischen Lösungen gleichkäme. Das ganze spätere Werk Rudolf Steiners erschiene dann gegenüber der Philosophie der Freiheit als gewollter und gekonnter Rückzug- der Bedürftigkeiten der sich "esoterisch" stellenden armen Seelen der Zuhörer halber."

Karen Swassjan, Das Welterkennen als Selbsterkennen eines Menschen in: Urphänomene- Denkschriften für Hinschauende, 1/95. Überwindung der Philosophie, Dornach 1995