Die "Reglosigkeit" bei Sri Aurobindo

Ja, nach der "Unbewegtheit" Scaligeros und der "Unbewegtheit in der Leere" von Kühlewind kommen wir jetzt zu Sri Aurobindo bzw. zu dessen genialem und berühmtem Interpreten und Biografen Satprem, dessen "Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins" ich tatsächlich seit September 1976 immer wieder lese, und zwar mit Gewinn. Bei Satprem handelt es sich um den Begriff "Reglosigkeit":

"Der Sucher dagegen, der ein gewisses Maß an Reglosigkeit in sich erzeugt hat, wird sehen, dass diese Reglosigkeit die Erschütterungen zunichte macht, weil sie Weite besitzt; weil er nicht mehr ein kleines Einzelwesen ist, das sich vornüber krümmt und zusammen zieht wie mit Leibschmerzen, sondern ein Bewusstsein, das über die Grenzen des Körpers hinaus ragt - das Vitale, in das die Ruhe eingekehrt ist, erfährt wie der schweigende Geist spontan die Verallung: 
In der Yoga- Erfahrung erweitert sich das Bewusstsein in allen Richtungen - in die Umwelt, nach unten, nach oben - und erstreckt sich nach jeder Richtung bis ins Unendliche. 


Wenn das Bewusstsein des Yogi die Befreiung erlangt hat, ist es nicht der Körper, in dem er lebt, sondern immer diese unendliche Höhe, Tiefe und Weite. Die Grundlage ist ein unendliches Leersein oder Schweigen, aber alles kann sich darin offenbaren - Friede, Freiheit, Macht, Licht, Erkenntnis, Freude- Ananda. (Sri Aurobindo, Letters on Yoga II) Sobald ein Leid auftritt, von welcher Art es auch sei, ist es augenblicklich das Zeichen einer Verengung des Wesens und eines Verlustes an Bewusstsein. (...)
In der praktischen Durchführung ist es so, dass die große Barmherzigkeit von oben stets über uns wacht, um uns daran zu hindern, zu jenen Erfahrungen zu gelangen, für die wir nicht reif sind; wer weiss, wir sind vielleicht nur so lange klein und beschränkt, wie wir es nötig haben, klein und beschränkt zu sein."

 "Verallung" ist ein vielleicht etwas blumiger Begriff, der aber das Gefühl der inneren Weite schön beschreibt. Die Ebene des "Vitalen" darf man ohne Abstriche mit dem "Ätherischen" identifizieren, wenn man möchte. Die innere "Barmherzigkeit von oben" ist das Gefühl, ab einem bestimmten Stadium des Schulungsweges begleitet zu werden. Man bemerkt etwas wie eine didaktische Führung, die zwar eine innere, selbstbestimmte Führung ist, aber doch etwas, was wir uns nicht ausdenken, sondern was uns eben zum richtigen Zeitpunkt das Richtige abfordert. Es ist kein Rat von außen notwendig, auch keine Abhängigkeit von einem bestimmten Schulungsweg oder einer Kultur; die Schritte ergeben sich von innen heraus. Die Entdeckung dieses Autodidaktischen ist ein großer Schritt in Richtung Autonomie und absolut notwendig. Im Grunde ist ab diesem Punkt auch der Begriff der "Schulung" obsolet. Passender wäre vielleicht "organisches Wachstum", wobei Innen und Außen, Individualität und Schicksal letztlich immer weniger geschieden sind.