Die Welt aus dem Nullpunkt erfahren

Nachdem vor ein paar Tagen ein Textfragment Massimo Scaligeros über die Qualitäten innerer "Unbewegtheit" hier im Blog kontrovers diskutiert worden ist, habe ich heute endlich in Georg Kühlewinds postum erschienenem letzten Notizheft geblättert und eine ganz ähnliche Textstelle gefunden. Kühlewinds Buch heißt "Licht und Leere", und es handelt sich tatsächlich um ein fragmentarisches "inneres" Tagebuch, d.h. es geht nicht um persönliche Erlebnisse, sondern um meditative Notierungen mitsamt einer ganzen Reihe von Zitaten aus der Weltliteratur, vor allem aber aus dem Rahmen des Zen. Mir liegt dieses Fragmentarische sehr; im Grunde sind Textfluss, didaktischer Aufbau und Komposition bei Kühlewind nicht so wichtig, da er hoch konzentriert aus dem inneren Erleben heraus schreibt. Die Anstösse, die er damit zu geben vermag, sind im Fragment ebenso deutlich wie im ausformulierten Aufsatz oder Buch. Auf Seite 35 notiert er

"Leere = nicht dies, nicht das = Ich:
Die Welt aus dem Nullpunkt erfahren, unverändert werden und bleiben, wie ein Spiegel. Die wirkliche Aktivität ist unendliche Ruhe, ungerührt; mag sich alles andere bewegen, die Bewegung sei der Anderheit überlassen. (..)"

Die Erfahrung, um die es geht, ist jenseits dessen, was man als Übungsweg bezeichnen mag, denn solch ein weg kann immer nur an einen Punkt führen, indem man sich sammelt, das Störende aussondert, sich fokussiert: Das alles ist Übung, Vorbereitung, Wegebnung. Aber an dem Punkt der Unbewegtheit oder des Nullpunktes gibt es kein Dorthin und Dann mehr, keine Reifung mehr von etwas zu etwas. Die ganze Rhetorik des Weghaften hat keinen Sinn mehr, obwohl einem sehr wohl klar ist, wie unreif und unfertig man selbst sein mag. Aber Fertigkeiten, Bemühtheit und Strebsamkeit sind an diesem Platz nicht nur deplaciert; sie führen auch in die Irre. Es gibt nur ein Ruhen in der Ruhe, ein Zulassen- Können.

Ein im selben Zusammenhang von Kühlewind notiertes Steiner- Zitat ("Ein wirkliches Bewusstsein existiert nur, wenn es sich selbst verwirklicht") könnte auch dahin gehend missverstanden werden, dass man denkt, man könne das hervor bringen, man könne das erreichen, wenn man nur genügend wolle. Aber es geht eben mehr um Zulassen als um Entwickeln- Wollen.

Der liebe Himmel weiß, wie sehr ich mir an diesem Punkt die Zähne ausgebissen habe. Es liegt sicher auch an persönlichen Determinanten. Ich kann mich leicht und gut fokussieren, aber die Ruhe, die bis in die Untergründe geht, fällt mir sehr, sehr schwer. Dagegen opponiert ein seelischer Drang und Wind, mein ungestümer Wille und ein explizit lebhaftes seelisches Leben. Das Drängen und Wollen so zur Stille zu bringen, dass sie von innen her aufleuchten kann, ist für mein Temperament eine besondere Schwierigkeit. Es ist mehr so, dass ich manchmal, unverhofft, mit meinem Boot und dem winzigen Segel in günstigen Wind gerate und plötzlich bemerke: Ja, es bewegt sich doch. Aber hier gilt das Bewegen und Drängen nicht mehr, die Suche nach Überwinden von Flauten ist hier nicht mehr wichtig, ja sogar hinderlich. Erst wenn man ganz still steht, bemerkt man die Strömungen in Wasser und Luft; sie sind nicht mehr die treibenden Kräfte, sondern werden, da man nicht mehr angestossen und getrieben ist, durchsichtig, spürbar in den ihnen eigenen Kräften. Erst wenn die Sorge um das Fortkommen ganz und gar beendet ist, erwacht die Aufmerksamkeit für die quellenden, lebendigen Kräfte, die uns nicht nur umgeben, sondern auch umhüllen und durchleuchten. Das ist der Nullpunkt, an dem erfahren werden kann, was Kühlewind knapp notierte:

"-Licht im Denken = Verstehen
-Licht im Fühlen = Freude
-Licht im Wollen = Schaffen = Liebe"