Rosenkreuzer und der "Golden Dawn". Einige weitere Anmerkungen

Der Golden Dawn war im Ursprung etwas wie eine Schnittmenge zwischen englischer Freimaurerei , Theosophie und rein magischen Ritualen. Aus diesem "Orden" entsprangen um die vorletzte Jahrhundertwende unzählige Ableger, als wäre die Büchse der Pandora geöffnet worden. Dazu gehörten der O.T.O von Reuss und später Aleister Crowley, die Stella Matutina, eine rein magisch wirkende Ordensverbindung, aber auch die eher traditionellen Formen eines A.E. Waite: "In den Streitereien im Golden Dawn um 1900 herum nahm Waite Partei für die rebellierende Fraktion, deren Wortführer er mit der Absicht wurde, die Leitung des gesamten Ordens zu übernehmen. Als dieses Unternehmen scheiterte, trat Waite 1903 aus dem Golden Dawn aus und gründete mit seiner Fraktion eine eigene Organisation, den Independent and Rectified Rite of the Golden Dawn, der die meisten magischen Inhalte des ursprünglichen Ordens verwarf, um sie durch christosophische Betrachtungen, die er mit kabbalistischen Ideen ergänzte, zu ersetzen. Mit diesen Arbeiten beabsichtigte er die Verbindung zwischen den klassischen Geheimlehren und dem Christentum aufzuzeigen."

Für Anthroposophen ist daran besonders interessant, dass Rudolf Steiner um 1905 (bis 1914) ebenfalls versuchte, in seine interne esoterische Schulung rituelle Handlungen im Sinne der Freimaurerei zu integrieren. Zu diesem Zwecke erwarb er eine Art Lizenz von Reuss, dem er persönlich nicht im geringsten traute, mit dem er aber nicht das geringste zu tun haben gedachte, da es sich um eine exklusive Schulungseinheit nur für fortgeschrittene Theosophen handelte, im Kern aber auch um eine Wiederbelebung uralter freimaurerischer Rituale*. Steiner hatte die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht, da einerseits Reuss behauptete, Steiner sei Mitglied des O.T.O. Diese in die Welt gesetzte Lüge wird bis heute tradiert, obwohl sie immer wieder widerlegt worden ist. Außerdem weckte Rudolf Steiner die Begehrlichkeiten der Führer der Stella Matutina, die, selbst unfähig dazu, die neu entwickelten Rituale Steiners für ihre eigenen höheren Grade benutzen wollten. Der damalige Leiter der Stella Matutina schickte dazu seinen Vertreter Meakin zu Steiner, kam aber später auch selbst, und behauptete, er sei von Steiner "eingeweiht" worden und habe die Rituale erhalten. A.E. Waite und andere glaubten ihm kein Wort, da Felkin oft übertrieb und fantasierte. A.E. Waite suchte später in London Rudolf Steiner auf und bekam bestätigt, dass Felkin und Meakin nichts Relevantes bei ihren kurzen Besuchen erhalten hätten. Dennoch wurde auch diese Legende vielfach in der magischen Literatur so weiter tradiert, als hätte Steiner höhere magische Grade im Sinne der Stella Matutina initiiert.

Zurück zum Golden Dawn, der von Westcott begründet wurde: "William Wynn Westcott (1848–1925), physician, coroner and magician, listed among his recreations ‘Freemasonry’ – by which he meant not the mainstream craft, but the many odd Rites and Orders that flourished in late Victorian Britain. Westcott was active in most of them, including the Swedenborgian Rite of Freemasonry, of which Kenneth MacKenzie was the Grand Secretary. (..) In Westcott’s day, almost every occultist (if a man) was also a freemason and a member of the Masonic Rosicrucian Society, the Societas Rosicruciana in Anglia. But that was essentially a study society with a series of simple graded ceremonies."(Quelle: Revelations of the Golden Dawn by R.A. Gilbert)
Zu Westcott Zeiten (Mitte des 19. Jahrhunderts) war also praktisch jeder Okkultist Freimaurer, und jeder Freimaurer sah sich in der Tradition von Christian Rosenkreutz. Auch die magischen Rituale, die Westcott entwickelte - meist nach frei erfundenen angeblich alten Dokumenten- und die später von Samuel Mathers in Form und Gestalt gebracht wurde, bezeichnete man als "rosenkreuzerisch". Der Golden Dawn, 1888 gegründet, "appealed to esoterically-minded freemasons, most of whom were already members of the Societas Rosicruciana in Anglia, the one extant Rosicrucian body." (dito) Das bedeutet, dass der Golden Dawn die Formen der Freimaurerei zu eigenen "esoterischen" Zwecken variierte, was allerdings noch eine andere Quelle mit einbezog, nämlich den berühmten Magier Levi: "He had been for many years in communication with prominent British and Foreign Adepts, and he had enjoyed ample access to the writing of Eliphaz Lévi."
Nach und nach wurde der Golden Dawn vom Zweiten im Bunde, dem schillernden und dominanten Samuel Mathers, übernommen, der vor allem seine Frau Mina als ihm höriges Medium benutzte. Mathers behauptete stets, im Kontakt mit im Verborgenen wirkenden "Meistern" zu stehen, und prägte Rituale und Ausrichtung des Golden Dawn ganz maßgeblich. Die Ausbeutung von Frauen (manchmal auch Männern) als Medien, später auch explizit in rituellen sexuellen Akten (sowohl im O.T.O als auch in sämtlichen Aktivitäten Aleister Crowleys), bestimmte die "Erkenntnisquellen" dieser Logen. Diese trübe Quelle ist seitdem immer wieder aufgegriffen worden, von satanistischen Gruppen in Kalifornien der 1960er bis hin zu aktuellen "tantrischen" Methoden.

Schon Madame Blavatsky hatte in den frühen Jahren der Gründung des Golden Dawn Bedenken: "Many members, including those from masonic circles, were also theosophists and Mme Blavatsky viewed the growth of the new Order with some alarm, believing that it would siphon off those of her own members with a penchant for practical occultism." (R.A. Gilbert) Westcott selbst war zugleich Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Tatsächlich hatte der Golden Dawn seine Blütezeit kurz vor der Jahrhundertwende: "By the end of 1896 the Golden Dawn had some 300 members, of whom less than one-third progressed to the Inner Order, while even fewer played an active role within it." (dito)
Danach begann die Zersplitterung, teils wegen Streitigkeiten mit dem aggressiven, größenwahnsinnigen und nicht selten alkoholisierten Mathers, der sich in der Folge immer stärker auf Aleister Crowley einließ, teils wegen in der Boulevard- Presse lancierten Skandalen, die sexuelle Eskapaden und Betrügereien einzelner Mitglieder des Golden Dawn ausschlachteten. Das war die Ursache für eine vielfältige Zersplitterung, wobei die Stella Matutina eine führende Rolle gerade in die magisch- mediale Richtung nahm.

Daher ist es so schwer zu begreifen, dass Judith von Halle - ausgerechnet eine Anthroposophin - im Epilog ihres letzten Buches Anna Katharina Emmerick. Eine Rehabilitation (Verlag für Anthroposophie, Dornach 2013) diese Logen und ihre Repräsentanten verklärt und behauptet, Rudolf Steiner sei in den "ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheimer Großmeister aller in London bestehenden Rosenkreuzer- Logen" gewesen. Denn die "rosenkreuzerische Initiation" in den Ritualien des Golden Dawn hatten im zweiten Grad eine mehr als üblen Charakter: "The ‘Ceremony of the 5 = 6 Grade of Adeptus Minor’ was quite unlike anything that the candidate had experienced before. It was a second initiation, not a mere progression, and it involved the symbolic death and resurrection of the candidate. For the first of its three parts, or Points, the candidate was symbolically bound upon the ‘Cross of Suffering’ and there took his Obligation – which was a far more awe-inspiring affair than that of the Neophyte; it bound the adept to strict secrecy and to the dedicated practice of magic and occult study; all in the presence of ‘the Divine One, and of the Great Avenging Angel HUA’. The legend of Christian Rosencreutz was then related to him, as far as the discovery of his tomb – at which point a curtain was drawn back and the door of a seven-sided vault was revealed. " (R.A. Gilbert) Diese Rituale sind übrigens seit langem frei zugänglich und auf dem Buchmarkt verfügbar. Es war damit intendiert, medial- rituell "human interaction with superhuman beings" (dito) zu erreichen.

Insbesondere Felkin steigerte in seiner Stella Matutina die magischen Rituale noch weiter durch das Herbeirufen von Kräften, indem er die Initiation des Christian Rosenkreutz imitierte: "Dr R.W. Felkin, who was a member of the group, saw it in a favourable light. Its objects were, he said: to concentrate forces of growth, progress and purification, every Sunday at noon, and the progress was 1st, the formulation of the twelve workers near but not in 36 [Blythe Road]; 2nd Formulation round London; 3rd Formulation round the Earth; 4th Formulation among the Constellations. Then gradually reverse the process, bringing the quintessence of the greater forces to the lesser. The process was to take about an hour. Nonetheless, however noble their intent, such practices proved disruptive and led to increasing dissension in the post-Mathers era. They eventually led to a complete rift between the mystics and the magicians who made up the Golden Dawn." (dito)

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*Siehe dazu Wiesberger, Rudolf Steiners esoterische Lehrtätigkeit. Wahrhaftigkeit - Kontinuität - Neugestaltung