Die Denunzierung Rudolf Steiners - O.T.O., Theodor Reuss, Aleister Crowley und "Baphomet"

In einer klaren und fachkundigen Übersicht hat Peter-Robert König 1998 das Verhältnis beider Männer - und damit die Beziehung Rudolf Steiners zu Reuss' O.T.O. zusammengefasst. Steiner war natürlich niemals - wie aber immer wieder unterstellt wird - Mitglied des O.T.O., sein Schulungsweg ist ein gänzlich anderer: "Der entscheidende  Punkt   in  Steiners  Schau  ist,  dass  nicht  das Bewusstsein durch körperliche Kräfte, sondern der Körper durch das geistige Bewusstsein  des individuellen  Egos kontrolliert  wird. Eurythmie und  die Sprechübungen  sind  künstlerische  Formen  der Bewusstwerdung und  des Hineinbringens  des Geistes  in den Körper und nicht umgekehrt, des Körperlichen in das Geistige. Sein Weg bildet die Brücke vom Unsichtbaren zum Sichtbaren "hinab" und nicht wie bei den Nicht-Asketikern "hinauf" vom Weltlichen zum Ueberweltlichen (Steiners Chakra-Uebungen arbeiten von oben nach unten. Als  Hauptchakra gilt vedantisch das Herz und nicht yogisch der Solarplexus). Als Verfechter des christlich-rosenkreuzerischen Weges lehnt  Steiner jegliche zeremonielle Magie ab (20.6.1912, GA133) .." (König)

Was Theodor Reuss aus Gral, freimaurerischen Ritualen, Parzival in Drogenexzessen und sexualmagischen Handlungen zusammengebraut, (und damit Aleister Crowley selbstverständlich angezogen hat), kann in keinem Zusammenhang mit einer Erkenntniswissenschaft zusammen gesehen werden: "Nach  Carl Kellners Tod 1905 stülpt Reuss Carl Kellners tantrischen Yoga-Übungen ein freimaurerähnliches System über (..). Reuss führt Kellners Yogapraktiken weiter, indem er den Manichäismus miteinbringt: Die Sexualorgane werden heilig und eine Heilige Messe bildet symbolisch die Schöpfung des Universums ab." (König)  Die unappetitlichen Details sparen wir uns hier.

Die tatsächliche Verbindung Steiners zu Reuss ergab sich durch Steiners Anliegen, in seiner seit 1904 aufgebauten Esoterischen Schule eine selbst geschöpfte, an freimaurererische Formen angelehnte Struktur aufzubauen: "Zum Aufbau  seiner E.S. will Steiner im Gebote  nach "absoluter Wahrhaftigkeit und  Aufrechterhaltung der Kontinuität" auch an symbolisch-rituelles Wirken, d.h. an maurerische Traditionen, "an schon Bestehendes" anknüpfen. So besteht die Steinersche E.S. bald - wie in der Theosophischen Gesellschaft - aus drei Abteilungen. (1) der Esoteric School  of Theosophy, (2) dem Misraim-Dienst und (3) aus einem gescheiterten Versuch, mit 12 "bewährten Schülern"eine Gesellschaft für theosophische Art und Kunst zu gründen." (König)

1905 hatte John Yarker Reuss die Bewilligung erteilt, die Grade seiner Form des Misraim- Dienstes zu bearbeiten und ihn im deutschen Raum zu repräsentieren. Daher zahlten Rudolf Steiner bzw. seine von ihm beauftragte zukünftige Frau Marie von Sivers an Reuss eine Art Lizenzgebühr, um formal korrekt zu handeln. Zugleich hielt Steiner seine persönliche Meinung über Reuss nicht zurück: "Reuss ist kein Mensch, auf den irgendwie zu bauen wäre ... Wir haben es mit "einem Rahmen", nicht mit mehr  in der Wirklichkeit zu tun. Augenblicklich steckt gar nichts hinter der Sache. Die okkulten Mächte haben sich GANZ davon zurückgezogen." (nach König, 30.11.1905, Brief Steiner an von Sivers) Steiners Intention war, "den Misraim-Dienst für die Zukunft zu retten." (König) Im Januar 1906 erhält Steiner die Charta zur Gründung von Steiners Mystica Aeterna: "Reuss unterzeichnet einen "Vertrag und brüderliches Uebereinkommen"zwischen ihm und Steiner, was diesen zum 30°, 67° und 89° von Berlin macht. Für die Aufnahme von Frauen wird Marie von Sivers autorisiert." (König)

Inhaltliche Überschneidungen zu bestehenden Formen oder zu dem von Reuss Vertretenen gibt es nicht; auch keine selbständige Logen- Organisation. Die Mystica Aeterna (ME) besteht als praktischer Teil der Esoterischen Schule Rudolf Steiners: "Die Intentionen und Inhalte der Steinerschen Rituale entstammen allein seiner eigenen Erkenntnis/Schau: nur  die Form bezieht sich auf Traditionelles. Trotzdem ist die Mystica aeterna keine eigentliche Organisation, vergleichbar mit einem Orden oder einer Loge (obwohl Steiner diesen Begriff in der Lektionsstunde vom 28.10.1911 verwendet); es gibt keine Tochtergründungen, keine Diplome, keine Ermächtigungen und der Kultus wird nur in Anwesenheit Steiners zelebriert und nur von und für Mitglieder(n) der Theosophischen Gesellschaft. In Steiners Schau kann ein äusserer Orden weder von "Meistern" gegründet, noch mentoriert werden. Dies steht allein der "Esoterischen  Schule" zu. Die Mystica aeterna gilt als die zweite, als die sog. "Erkenntniskultische" Abteilung in Steiners Esoterischer Schule." (König) Weitere Kontakte zu Reuss, von dem er sich bei Anfragen und in Briefen weiter deutlich distanziert, gibt es nicht: "Am 22.9.1906 beklagt sich Reuss bei Marie von Sivers, dass Rudolf Steiner ihm auf seinen Brief von vor vier Wochen nicht geantwortet habe. 1.10.1906,  9.2.1907 und 12.3.1907: Reuss bittet vergeblich um ein Treffen mit Steiner. Im Schreiben vom 9.2.1907 an von Sivers bestätigt Reuss, dass kein brieflicher Verkehr zwischen ihm und Steiner stattfinde, und dass er dies auch akzeptiere." (König)

Ein halbes Jahr vor Rudolf Steiners Rückzug aus der Theosophischen und Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 tritt auch Theodor Reuss in Großbritannien offiziell mit dem O.T.O. an die Öffentlichkeit. Er beklagt sich immer wieder über die völlige Abweisung durch Steiner, versucht auch indirekt Kontakte - oder wenigstens durch Verwendung des Wortes "Anthroposophie" eine Verbindung - herzustellen. Auch Alice Sprengel versucht, lange nach Reuss Tod, eine solche Verbindung Steiners zum O.T.O. zu konstruieren: "Ca. 1934: Alice Sprengel (ehemals Mitglied der M.E. bis zu ihrem Austritt 1915, dann Sekretärin von Reuss) notiert aus dem Gedächtnis das angebliche Gelöbnis, das Steiner bei seinem MM- Eintritt unterschrieben und es darauf zerrissen habe, weil es ihn zum O.T.O.-Mitglied gemacht haben soll." (König) Ganz offensichtlich geht es bei diesen Versuchen um eine Denunzierung Rudolf Steiners.

Seriöse Quellen stellen den komplizierten Sachverhalt heute weitgehend korrekt dar. So etwa Richard Kaczynski in der Aleister Crowley- Biografie "Perdurabo, Revised and Expanded Edition: The Life of Aleister Crowley":  "A case in point is the membership of Austrian esotericist Rudolf Steiner (1861–1925), later founder of the Anthroposophical Society and on whose philosophy the Waldorf Schools are based. Because of the uncertainty over precisely when the Academia Masonica of Kellner became the Ordo Templi Orientis of Reuss, Steiner has been erroneously called a member of OTO; indeed, even Crowley quipped that “Rudolf Steiner discovered what the secret of the IX° did actually mean and took flight.” The truth is that Reuss chartered Steiner to operate a Memphis-Mizraim lodge called Mystica Aeterna. This he did from 1906 to 1914, but he ultimately decided to devote his attention to his own Anthroposophical Society."

Kaczynski teilt auch noch einige weitere unschöne Details aus Theodor Reuss' Vergangenheit mit- etwa, dass dieser nicht nur Theosoph und Konzertveranstalter gewesen sei, sondern auch Geheimagent der Preussischen Polizei: "Whether performing or promoting concerts, Reuss was simultaneously working as a journalist and a spy: he had joined the Socialist League, working secretly as an informer for the Prussian political police and denouncing the anarchist Victor Dave until Reuss was exposed and expelled in 1886." Zugleich interessierte er sich für die Theosophische Gesellschaft: "Parallel with these activities, Reuss also had an abiding interest in the occult. He states that he joined the TS in London in 1885, knew H. P. Blavatsky, and was at Avenue Road in May 1891 when her ashes were put into a casket."

Vielleicht ist noch aufschlussreich, dass Aleister Crowley, der bereits seit zwei Jahren mit Reuss in einem engen "Arbeitsverhältnis" stand, 1912, bei dem offiziellen Auftreten des O.T.O. in London, ausgerechnet "Baphomet", das ahrimanische Signum, durch das in schwarz- magischen Logen die Inkarnation Ahrimans vorbereitet werden soll, zum Motto wählte - das Signum, das bei der Vernichtung des Templer- Ordens eine wesentliche Rolle spielte: "Crowley presumably received his charter in Berlin, but a formal installation ceremony later took place in London. In any case, AC received the X° title of “Supreme and Holy King of Ireland, Ionia and all the Britains within the Sanctuary of the Gnosis”—or, in plain English, administrative head of OTO for the United Kingdom. In this capacity, Crowley adopted the motto of “Baphomet” after the horned god the Templars were accused of worshiping when persecuted by the Catholic Church in 1307- 1314." (Kaczynski, S. 256)

Dies beleuchtet vielleicht die Kräfte, die hinter den Denunziationen gegenüber Steiner standen, aber auch hinter den Wirkkräften eines O.T.O.