Erkenntnistheorie, Wärme, Leben

Das Kreuz mit der Erkenntnistheorie ist doch, dass sie meistens theoretisch bleibt. Sie erfasst nicht einmal die Realitäten des Denkens, das sie zu betrachten oder gar zu erklären vorgibt. Dabei sind noch nicht einmal die Wortbalancierer, die Trickster und die lauwarmen Sonntagsredner gemeint, selbst ein kenntnisreicher, ein Leben lang Suchender, Ringender, Schaffender wie Jan Dostal* schreibt in seinem "Vier Stufen des spirituellen Denkens":
"Vom Ernst und von der Intensität des spirituellen Bemühens hängt es ab, wie weit sich die Wechselbeziehung zwischen Gefühl und Denken bis hinunter zu den Quellgründen moralischer Lebensgestaltung, der Liebesimpulse, des Opfermutes und weiterer Keimkräfte sittlichen Handelns ausdehnen kann, so dass sich dadurch der Wille an der Sinnerfassung und der Bildung des Gedankeninhalts beteiligt. Eine solche Einbeziehung des Willens kann dann als dritte Stufe der Geist- Annäherung des Denkens bezeichnet werden." (S. 71)

Das ist nett gedacht, aber leider vollkommen abstrakt. Es kommt weder auf den Gedankeninhalt an, noch folgt die meditative Arbeit gebetsmühlenartig einer Stufenfolge wie Denken- Fühlen- Wollen. Denn schon die bloße Fokussierung des Denkens ist ja ein Willensakt. Und schon der Impuls, den Willen aktivieren zu wollen, um das eigene Denken aktiv zu gestalten, folgt einem inneren moralischen Affekt, der nicht irgendwie aus dem Alltag zu erklären ist.

Worum es geht, ist eine Reinigung, eine Entmischung von all dem, was an ungesteuerten Impulsen in uns lebt. So schreibt Scaligero**: "Es ist das Denken, das er (der Mensch, M.E.) nicht als solches erkennt, denn es ist mit dem Fühlen und Wollen vermischt und hat dadurch ein Leben, das dem Bewusstsein entgeht: in welchem es fortwährend auftaucht, doch in Form von Gedanken, die nicht mehr ein Ausdruck der ursprünglichen Denkbewegung sind, sondern seiner Abhängigkeit vom Körper, der das Leben des ätherischen Leibes versklavt." (70) Aber die fortschreitende Entmischung ist eine Willenstätigkeit, die der Aktivierung einer inneren Orientierung bedarf; Abstraktionen und Moralvorstellungen helfen hier so wenig wie äußere Führung und Ratgebung; man muss seine Orientierung fühlend ertasten, seinen Rhythmus, seine Bedürfnisse, seine Hemmnisse, seine Fehlgriffe und Irrwege. Es ist immer der ganze Mensch daran beteiligt. Und letztlich ist es natürlich ganz einfach: "Es ist das Leben, das zu befreien ist".
Tatsächlich, das Leben. Das, was in uns, von uns, an uns, durch uns lebte, lebt und immer leben wird. Seine Präsenz zeigt uns, dass wir hier, nun, in diesem Augenblick in dieser Form erscheinen, in dieser wie in vielen möglichen anderen.
Denn: "Es ist das Leben, das zu befreien ist. Aber es kann nur im Denken befreit werden: als das Denken, das aus seiner Quelle schöpft, die nicht der ätherisch- physische Organismus ist, was jedoch nicht bedeutet, dass es aus sich herauszutreten habe." (70)

Freilich, man weiß, was Jan Dostal meinte. Natürlich erlebt das innere Leben, wenn es sich realisiert, eine Vertiefung. Aber das sind Fragen der Selbst- Realisation des Denkenden, die nicht zwangsläufig stufenweise erfolgen müssen; reiner Wille, die Wärme als das "Leben des Lichts" (Scaligero) können sich in einem einzigen Akt der Selbstrealisierung offenbaren, als ein Griff in die Tiefen des Selbstes. Dann aber wird sich auch zeigen, dass es vielleicht nicht bemerkt wurde, aber dass der Wille und die Wärme, die größer sind als vorstellbar, dennoch als Kräfte des menschlichen Lebens den Grund der Person darstellen, seine Substanz, sein Sein.

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* Jan Dorstal, Wie wächst man in die Anthroposophie hinein? Vier Stufen des spirituellen Denkens
** Massimo Scaligero, Das Licht. Die Entdeckung der schöpferischen Imagination