Valentin Tomberg: Der schamlose Blick

In "Sieben Vorträge über die innere Entwicklung des Menschen" (Schönach 1993/2) schreibt Tomberg (denn diese Vorträge sind zweifellos stark bearbeitet, stilistisch eingeebnet und strukturiert) über seine Zusammenschau der Stufen der Passion mit denen der inneren Entwicklung des Individuums. In Bezug auf die Dornenkrönung  (S. 100) meint er, dass man bedenken müsse, "dass die Dornenkrönung dem Menschen eine bestimmte Würde verleiht, und zwar eine Würde, die er vom "Hüter der Schwelle" erhält". Da der Hüter die Zusammenfassung all unserer negativen, unentwickelten Seiten ist, die sich vor unseren Augen in einem spezifischen Spiegelbild objektivieren, kann die Art von Würde, die Tomberg meint, nicht gerade angenehm sein. Man wird in dieser Erfahrung mit der "Mission" dieses Spiegelbilds betraut, d.h. dass man so weit und bereit ist, nicht mehr nur eine (niederschmetternde) Objektivierung äußerlich zu erleben, sondern diese Aspekte vollkommen auf sich zu beziehen, sie also anzunehmen und zu bejahen.

Einerseits hat man die Kraft, sich nicht mehr auszuweichen, sich nichts mehr vorzumachen, weder "vor- noch rückwärts" (S. 101) zu weichen. Andererseits bedeutet diese Würde, dass "Lächerliches und Unwürdiges" für die Welt, für Andere sichtbar werden: "Furcht und Scham, welche im Unterbewusstsein des Menschen leben, werden durch die Gegenkraft eines so stehenden Menschen überwunden"- eben das, was bislang um jeden, wirklich um jeden Preis "verborgen bleiben" wollte.

Nun sehen also die Menschen "mit einer Schärfe, die einem Hellsehen gleichkommt, an dem so stehenden Menschen die Mängel seiner Persönlichkeit und die Widersprüche seiner Aussagen, um damit scheinbar mit Recht sagen zu können: die Wahrheit, die dieser Mensch vertritt, wird auf unwürdige Art vertreten und ist damit eine unwürdige Wahrheit. Dieses gleichsam So-stehen-müssen vor schamlosen Augen, die einen entkleiden, vor Ohren, die fast mit Hellhörigkeit nach dem Negativen hinhören: das ist das Stehen in der Position des Dornengekrönten, das bedeutet, eine Würde zu haben, die den Menschen selbst verwundet, selbst sticht. Da muss der Mensch die Kraft haben, sich selbst gegenüber das Mitleid zu überwinden, hart muss der Mensch sich selbst gegenüber werden." (dito)
Es ist der Abschied von der Selbstliebe, den Illusionen und Masken. Der Dornengekrönte muss mit der tiefen Verachtung rechnen, die ihm - als Conditio humana - zu Recht entgegen schlägt. Denn es gibt ja diese Widersprüche, diese Einseitigkeiten, diese Schwächen.

In diesem Sinne macht es im übrigen ja auch wenig Sinn, einem so hoch entwickelten Menschen wie z.B. Rudolf Steiner immer wieder all das vorzuhalten, was zeitgebunden, unbedacht, engstirnig und widersprüchlich in seinem Leben war. Besonders in diesem Fall, in dem Einer völlig öffentlich und ständig dokumentiert gesprochen und gewirkt hat, liegen diese Aspekte offen zutage. Davor die Augen zu verschließen und ihn als "Meister" zu idealisieren (und diese Schwächen zu leugnen), ist allerdings ebenfalls widersinnig, da in diesem Fall nur eine Projektionsfläche des eigenen unbewältigten Unbewussten gesucht wird. Weder in der einen wie in der anderen Positionierung wird der realistische, mutige Rückbezug auf die eigene "Würde" bezogen. Zwischen Kritikern und Schwärmern muss der Weg ins eigene Innere gefunden werden.