Die Anthropotante an sich

Aus: Andrej Belyi "Verwandeln des Lebens" Basel 1990/3

"Einen völlig anderen Stil hatten seine Beziehungen zu den «Tanten» und «Onkeln»; er liebte den Menschen, nicht aber den «Onkel» und die «Tante» im Menschen; seine Späße über die «Tanten» waren zuweilen grausam; aber er hat unter ihnen wirklich gelitten; als sich jemand beklagte, Frau Z. hielte sich für die wiederverkörperte Maria Magdalena, antwortete er seufzend: «Leider ist das der fünfzigste Fall in meiner Erfahrung.»

Die «Tanten» überschütteten ihn mit der kochenden Brühe ihrer Ergebenheit, gemischt mit dem Dunst schwüler Verliebtheit, worüber er sich manches Mal vom Rednerpult aus beklagte, um mit der (zum wievielten Male?) erhaltenen Liebeserklärung in der erhobenen Hand zur Nüchternheit aufzurufen.

«Tante» - das war die Bezeichnung für eine Anthroposophin, die durch dogmatische Haltung die Anthroposophie zum Zerrbild machte; Steiner kämpfte sein Leben lang gegen die «Tante»; aber die «Tante» drängte sich unaufhaltsam in die Gesellschaft, wobei sie zwanzig Jahre lang sämtliche Hindernisse, die ihr im Weg standen, zu überwinden verstand; das heißt, es erschien zunächst nicht eine zudringliche «Tante», sondern eine Dame: nett, zuweilen nicht dumm, nicht einmal unbegabt, mit Ansätzen zu wirklicher Einsicht; aber nach zwei bis drei Jahren entpuppte sich die Dame als eine «Tante»; eine «Tante» ist das Produkt unbewältigter subjektiver Imagination; vielleicht hätte man eine «Tante» in die Anthroposophische Gesellschaft nicht aufgenommen; aufgenommen wurde ein Mensch weiblichen Geschlechts; Steiner unterstützte die Befreiung des «Menschen» in der Frau aus der Gewalt der deutschen Männerfaust; und dem «Menschen als Frau» standen die Tore der Gesellschaft weit offen; aber die kleinbürgerliche Umwelt, in der die Frau in Deutschland sich entwickelte, ließ sie unter der Einwirkung der anthroposophischen Nebelschwaden häufig zur «Tante» werden - zu einer bloßen «Tante»; die «Tante» kann das Verbrennungsprodukt verschiedener Stoffe sein; zur «Tante» konnten Malerinnen werden, aber auch ehemalige Köchinnen, Damen mit höherer Schulbildung, Damen aus Wohltätigkeitsvereinen; das Hoffräulein, die Kaufmanns- oder Beamtenfrau, die Schauspielerin, Haushälterin oder Sozialdemokratin formte sich innerlich in der Esse der Anthroposophischen Gesellschaft zur «Tante»; und für den Doktor ergab sich ein ernsthaftes Problem: die Befreiung von der «Tante»; man konnte sie doch nicht einfach vor die Tür setzen, weil sie ja ein Mensch war; solange sie nichts übles tat, konnte man sie nicht aus der Gesellschaft ausschließen; ebenso wenig ließ sie sich einem Examen unterziehen, was außerdem sinnlos gewesen wäre, da viele «Tanten» einen von der Öffentlichkeit bestätigten hohen Bildungsstand aufzuweisen hatten; ein «geistiges Examen» hätte eine Verletzung jener Freiheit bedeutet, für die Steiner eintrat; und außerdem wäre ein «geistiges Examen» mit den Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft als einer sozialen Organisation unvereinbar gewesen.

Mit einem Wort - es blieb kein anderer Ausweg als die Hoffnung, die «Tante» würde, enttäuscht von der Gesellschaft, diese mit einem freiwilligen Rückzug beglücken; aber unglücklicherweise endeten alle Versuche Steiners, die «Tante» zu einem Rückzug aus der Gesellschaft zu veranlassen, mit einem totalen Misserfolg; die «Tante» ertrug in der Folge alle Unbill ihres Daseins innerhalb der Gesellschaft, nur um in der Nähe des Doktors bleiben zu können, einschließlich der Empörung gegen die «Tante», ihre Nachbarin, die ihrerseits von der ersten behauptete, diese sei die klassische «Tante». Unter den Peitschenhieben der «Tantenwitze» bezichtigten die «Tanten» sich gegenseitig des «Tantentums».

So verliefen alle Versuche im Sande, die «Tante» auszumerzen; die «Tante» hatte dabei nur die Mimikry gelernt und blieb «Tante», ohne es zu zeigen; sie legte ihre auffälligsten Merkmale ab, die sie in den Jahren 1908 bis 1914 ausgezeichnet hatten: kurzes Haar, grelle Stola, Tunika, Brille, lange Nase, starkes Kinn und das Kreuz mit Rosen auf der Brust; so saß sie in den ersten Reihen vor Steiner und lächelte verklärt bei seinen Witzen über die «Tanten».

Der Ausdruck «Tante» ist eine Erfindung von Steiner.

Im nächsten Jahrsiebt, 1915-1921,saß sie in den letzten Reihen, ohne Stola und ohne Kreuz; sie war bemüht, als Dame zu erscheinen, nur als Dame; die ersten Reihen füllten sich mit eifrigen, stets diskussionsbereiten «Mittelalterlichen» Herren, oft mit Brille, glattrasiert, mit Aktentaschen unter dem Arm und einer Menge von Worten im Mund; sie traten nach Steiner an das Rednerpult und äußerten sich etwa so: «Ich bin derselben Meinung und in der Lage, anhand der Ergebnisse der. . . -wissenschaft, in der ich den Doktorgrad erworben habe, weitere Folgerungen aus dem von Doktor Steiner soeben Gesagten zu ziehen und zu beweisen ... »

Das Auditorium war damals nicht mehr mit Kreuzen, sondern mit Formeln angefüllt.

Einmal sah sich Steiner um und sagte schalkhaft: «Wissen Sie, wir haben jetzt nicht nur <Tanten>, sondern auch <Onkel>.»

Die Lachlust des Doktors kannte keine Grenzen; und seine Witze über die «Onkel und Tanten», die in der Gesellschaft klassisch geworden sind, sind zahllos; und wenn ich heute von Außenstehenden höre, wie komisch die Anthroposophen sind, denke ich im stillen: der Aufwand, mit dem man über uns spottet, lohnt sich nicht; wenn man gehört hätte, wie wir uns über uns selbst lustig gemacht haben, wären die besten Witze gar nicht so gut.

Mit den besten Witzen belehrte uns über unsere Schwächen - der Doktor. "

Andrej Belyj – Boris Bugajev