Emil Bock: Rudolf Steiners wilde Berliner Jahre

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"Nun, in den Kreisen des gesetzten, gebildeten Bürgertums hatte man Grund, auf den Kreis um Otto Erich Hartleben mit ganz gewaltiger moralischer Entrüstung herabzuschauen. Wer da verkehrte, war eben nicht salonfähig. So hatte sich Rudolf Steiner damals für einen der beiden Kreise zu entscheiden. Obwohl ihm das rundherum sehr übelgenommen wurde, geriet er in den Kreis von seltsamen Originalen, Sonderlingen, Bummelanten, Nachtschwärmern, Außenseitern der Gesellschaft. Aber da herrscht wirkliche Farbigkeit. Da geht es lebendig zu.

Um deutlich zu machen, welches der Stil auf diesem Kontinente ist, will ich zu Beginn eine kleine Anekdote erzählen - Otto Erich Hartleben liebte es nicht, abends zu Hause zu bleiben. Er liebte es aber auch nicht, wenn er in seinen Kneipen herumsaß, wieder nach Hause zu gehen. Es war immer schon heller Tag, wenn er den Heimweg antrat. Kein Wunder, dass er dann erst nachmittags aus dem Bett stieg. Eines Morgens machte er seinen üblichen Weg durch den Tiergarten. Da liegt auf einer Tiergartenbank einer und schläft. Hartleben schaut genau hin: das ist ja ein sehr guter Freund von ihm, nämlich der Dichter Peter Hille. Er geht zu ihm, rüttelt ihn wach und sagt-. "Peter, das geht doch nicht, dass du hier in dem feuchten Tiergarten kampierst. Du hast der Menschheit noch so viel zu geben. Los, geh und such ein Zimmer für dich." - Als sich Peter zum Erwachen durchgerungen hat, sind die beiden losgetrottet. Sie mussten allerdings noch den vollen Anbruch des Tages abwarten und vertrieben sich bis dahin die Zeit in einer Wirtschaft, wo die Nachtkutscher herumsaßen. Als dann die Häuser aufgemacht wurden, gingen die beiden in dem Viertel um den Nollendorfplatz herum von einem Haus zum andern, um ein billiges Zimmer zu suchen. Nach langem Suchen fanden sie im 5. Stock eines Hauses ein Zimmer, und Peter Hille träumte schon davon: hier wird die Redaktion einer Weltzeitschrift eingerichtet. Er will gleich los, um den Sack zu holen, in dem seine gesammelten Werke auf Papierschnitzeln enthalten sind, und den er bei Freunden untergestellt hat. Otto Erich zahlt für zwei Monate die Miete im voraus. Beide sind glücklich. Otto Erich hat ein gutes Werk getan, und Peter Hille hat wieder für eine kurze Zeit die Möglichkeit, ein ordentliches Leben zu führen. - Am nächsten Morgen kommt Hartleben ungefähr zur selben Stunde den gleichen Weg durch den Tiergarten, nur dass es regnet. Auf der Bank liegt, wie tags zuvor, Peter Hille. Hartleben wird wütend und schimpft. Da fragt Hille: "Sag mal, hast denn du die Adresse behalten?" Und Hartleben muss zugeben: "Nein, ich auch nicht."

Eine solche Anekdote beleuchtet wohl etwas das Milieu, in welchem dann Rudolf Steiner zwei volle Jahre mit Lebendigkeit daringestanden hat. (...)"

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