Liebe Mysa. Über Karma und Liebe

Die schöne Wegman 1908 (!)
Wie viele Beziehungen, Ehen, angeblich platonische Liebschaften, Verhältnisse mit „magnetischem Anziehungsband“ sind vor anthroposophischem (oder auch anderem esoterischem) Hintergrund schon geschlossen oder beendet worden? Viele dieser Menschen fühlen sich ja als sehr ernsthafte, ehrenwerte Herr- und Frauschaften und sehen sich als „weiter entwickelt“ an als der Durchschnittsverliebte. Daher braucht es eine höhere Warte, um das als moralisch vielleicht nicht ganz integre Verlangen auf zu werten, quasi zur Notwendigkeit zu machen- denn wer kann schon gegen das Karma an?

Daher wird das Verlangen in den Kontext einer karmischen Verwirklichung gestellt, um sich - vor allem vor sich selbst- zu rechtfertigen. Wie viele Male in den hundert Jahren anthroposophischer Geschichte wird eine Ehe mit der Begründung beendet oder begonnen worden sein, die oder der Neue sei eine mit einem selbst tief verbundene, über Jahrhunderte und Jahrtausende bestehende innige Beziehung? Dies vor allem dann, wenn es sich ohnehin um eine durch Waldorf-, Arztpraxis, Arbeitsverhältnisse, Wohngegenden, Lebensstil, Lesegewohnheiten, spirituelle Bedürfnisse bestehende Subkultur handelt. Ich kenne so gelagerte Freundeskreise, in denen praktisch jede Ehe/ Beziehung im Laufe der Jahre nicht nur mit ähnlichen Begründungen beendet worden ist, sondern dieselben Personen haben jeweils Partner innerhalb derselben Subkultur ausgetauscht. Von außen betrachtet sieht das aus wie ein Bäumchen- wechsel- dich- Spiel und kann zu komplizierten Arrangements bei Einladungen zu Festen führen. Nach innen wird nicht selten mit der Karma- Argumentation begründet - vielleicht sogar so empfunden. Schließlich gilt das Steinerwort („Okkulte Geschichte“ S. 60): „Den Egoismus zu überwinden und den Zug nach dem Allgemein- Menschlichen und Kosmischen sich anzueignen, ist nicht so leicht, wie mancher sich das vorstellt.“ Allerdings, vor allem in der Liebe.

Vor all dem war auch der Meister nicht gefeit. Die schöne, unabhängige, exotische Ita Wegman, aus Indonesien stammend, von der javanesischen „Insel der hundert Vulkane“, traf ab 1902 auf ihren Lehrer Rudolf Steiner, der sie zunächst nicht besonders beeindruckte. Er sprach „kurz und bedeutungsvoll“, „sah mich forschend an“, aber sie besuchte zunächst „nicht viele seiner Vorträge“, denn „etwas gefiel mir nicht.“ (Wegman, Notizen, in: van Emmichoven, Wer war Ita Wegman, Band 1, S. 45f)

Doch zwischendurch in ihren Notizen taucht dann doch etwas auf, was anders klingt: „Wir verstanden uns sehr gut.“ (s.o.) Der Biograf van Emmichoven spielt dann auch die Karmakarte: „Stiegen Schicksalsahnungen in ihr auf, Fragen vielleicht, die bis dahin unbewusst in ihr gelebt hatten, Bilder, die schon immer schweigend in ihr gewesen waren und jetzt zu sprechen begannen?

So oder so: Wegman sprach Steiner an mit der alles eröffnenden Frage „Kann man noch mehr von solcher Esoterik erfahren?“ (s.o., S. 46) Von 1907 bis 1914 verfolgte Wegman Studien und hatte Beziehungen. Von Steiner war sie 1906, als sie ihm nach Leipzig nach gereist war, brüsk zurück gewiesen worden - „was sie hier suche“ (s.o., S. 54). Aber 1914 saß sie - nach Andre Belyi („Verwandeln des Lebens“) praktisch ständig im Publikum in Dornach: „Zu meiner Beschreibung sagte man allgemein: „Das stimmt, das ist die Wegman. - Wenn das stimmt, dann kenne ich sie sehr genau, ohne je mit ihr bekannt geworden zu sein; über ein Jahr saß sie bei den Vorträgen Steiners in der Schreinerei uns gegenüber, am Fenster, meistens in weißer Bluse und schwarzem Rock; ich glaube, sie war immer allein. Wir begegneten ihr fast jeden Tag.“ Sie wurde in der Folge eine der wichtigsten Ärztinnen im anthroposophischen Umfeld, innovativ, mutig, eine Unternehmerin und Gründerin. Ab 1922 besuchte Steiner die von ihr geleitete Klinik bei jeder Gelegenheit- es kam zu seinem Lebensende hin zu einer intensiven Zusammenarbeit zweier selbständiger Persönlichkeiten. Wegmans Temperamentsausbrüche waren legendär- Steiner selbst sprach von ihrem „Gestrüpp“. Sie selbst meinte dazu selbstbewusst: „Es wird dem Doktor noch leid tun, wenn ich zu sanft geworden bin.“ (van Emmichoven, Band 1, S. 102)

Dann aber - 1924 - wurde Steiner ihr gegenüber sanft. In Briefen nannte er sie „meine liebe Mysa- Isa“: „Hoffentlich ist das Befinden meiner lieben Mysa gut .. Schön wäre es, wenn Mysa da wäre. Doch man muss diese Dinge eben „vernünftig“ einrichten.“ (Brief aus Prag, 1.4.24) Muss man das? Und war Steiners schwärmerischer Ton nicht auch insofern unvernünftig, als er selbst schon mit dem Kosenamen die karmische Karte spielte? Van Emmichoven erläutert: „Der Name „Mysa“ bezeichnet eine Mysterienpriesterin des Artemistempels in Ephesos im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Wahrscheinlich deutet der Name eine Funktion an; Steiner schrieb in manchen Gedichten auch „Artemysia“.“ (s.o., S. 201)

Während er in Koberwitz „Karmavorträge“ (Brief 8.5.24) hält, schreibt er an Wegman „Bei allem ist mein guter Freund M-I. bei mir, und meine Gedanken gehen zu ihr.“ (S. 204) M-I ist ein Kürzel für „Mysa-Ita“. Wenige Tage später (10.6.24) schreibt er Wegman: „Du gehst als Freund mit mir in geistige Welten.“ (S. 205) Nur einen Tag später wird er explizit: „Es ist so in unserem Karma, dass ich an Dir einen echten, unerschütterlichen Freund finden muss, wenn die Schülerschaft den rechten Weg gehen soll. So will es unser Karma. Wenn dies Karma zunächst einen tragischen Zug haben muss, so wird das nach keiner Richtung in der Zukunft mehr hemmend sein können. Es ist ja gewiß traurig, daß Du nicht schon früher mit mir zusammenkamest..“ (S. 206). Er erklärt Wegman, dass „wir“ „vorher“ große Impulse zu verwirklichen gehabt hätten, die Wegman auf ihre Art verwirklicht hätte. Er schreibt offensichtlich von einer gemeinsamen karmischen Vergangenheit: „Als Du damals von mir gingst, war viel von mir genommen. Die Jugend, die in Dir an meiner Seite stand, ward von mir genommen. Ich war in keiner Inkarnation so alt als damals. „Mit ihm ist mein Herz über den Pontus gegangen“. Das war meine Stimmung.“.

Es ist viel spekuliert worden, ob Steiner an dieser Stelle über Aristoteles und den jungen Alexander schreibt - „Pontus“ als Beginn der Reise Alexanders Richtung Asien. Wie dem auch sei, handelt es sich zugleich um einen Liebesbrief - „Du schreibst „Wirst du mich jetzt immer lieben bleiben?“ Meine liebe Mysa: Diese Liebe ruht auf dem unerschütterlichen Fels. Sie ruht ja auf dem, was Deine Wesenheit mir offenbart. Und das ist viel, sehr viel.“ (Koberwitz, 11.6.24) Steiners Beziehung mit Wegman strebt nun nach etwas ganz Einzigartigem: „..ich konnte doch zu keinem Menschen so stehen wie zu Dir. Du lernst mich auch ganz anders noch kennen als andre Menschen mich gekannt haben, oder kennen. Daß da manchmal sich in unser Zusammensein etwas gemischt hat, was Du vielleicht nicht haben wolltest, das hängt doch damit zusammen, daß ich nur im vollen Eins- sein mit Dir leben möchte.“ Die erhaltenen Briefe Wegmans wirken tatsächlich dem gegenüber kühl. Steiner zitiert sogar Wegmans Reaktion „Du sagst: „Es ist nicht immer gut alles zu schreiben“, in der sie ihn offensichtlich zur Zurückhaltung auffordert. Tatsächlich hat diese Mysa- Geschichte ja nach Rudolf Steiners Tod wenige Monate später zur völligen Ausgrenzung Ita Wegmans geführt, der vor allem von Steiners Ehefrau Marie Anmaßung spiritueller und karmischer Art vorgeworfen wurde. Wegman konnte gerade wegen Steiners schwärmerischer Bedrängung seiner Ärztin gegenüber die Rolle, in der sie sich und er sie sah, nicht ausleben, sondern wurde zur Geächteten.

Dabei scheint sie durch Rudolf Steiners Umdeutung ihrer jahrelangen Beziehung eher überfordert gewesen zu sein. Sie konnte sich kaum gegen die karmischen Zuordnungen ihres Lehrers, die dieser so explizit vorbrachte, wehren. Offensichtlich brachte er auch Hoffnungen auf Liebe, Freundschaft, gemeinsame Zukunft und einen Neuanfang für sich selbst ins Spiel. Ebenso offensichtlich sind seine Einsamkeit, das Gefühl des Eingeengtseins, seine Erschöpfung und Überforderung. Aus seinen Liebesbriefen spricht ein Mensch, den selbst die Umschwärmte eher als Lehrer zu sehen gewohnt war.