Die anthroposophische Speerspitze

Ach, es ist schön von fern auf diese anthroposophische Insel mit ihrem spezifischen Lifestyle zu blicken, die sich gern als kulturelle Speerspitze sieht, vom Rest der Welt aber eher als bräsiges Entwicklungsland betrachtet wird. So beginnt das aktuelle Heft der Anthroposophie weltweit schon mit dem Titel "Die Speerspitze der anthroposophischen Medizin"- einem Interview mit Harald Matthes, in dem dieser bekennt, dass die anthroposophische Mistel- und Krebsforschung seit 50 Jahren zerstritten isoliert vor sich hinwurstelt, ohne irgend einen belegbaren Fortschritt vorweisen können, aber dennoch oder gerade deshalb vor kurzem das Angebot eines großen Unternehmens zur Kooperation ausgeschlagen hat: "Ein großer Hersteller von Onkologika ist auf die anthroposophische Bewegung zugegangen und hat angefragt, ob die Mistel als anthroposophisches Mittel auch konventionell für die Schulmediziner in die Onkologie eingeführt werden kann. Die jetzige Situation der Mistelhersteller hat dazu geführt, dass dieses Angebot von außen hochwahrscheinlich nicht bedient werden kann. Eine solche Kooperation wird zurzeit eher aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt." So geht das mit der anthroposophischen Forschung - immer schön im eigenen Saft weiter köcheln. Dazu muss man auch wissen, dass es gar keine Mittel für eine eigenständige Weiterentwicklung der Mistelpräparate geben wird, da Genehmigungsverfahren ohne Kooperationen nicht annähernd zu finanzieren sind: "Wenn wir wirklich in die Mistelforschung gehen, ist unter 40 bis 50 Millionen Euro wahrscheinlich keine neue Mistel an den Markt zu bringen." Also lieber ein schöner Tod der Forschung als Kooperation.

Ebenso geht es zu in der hysterischen Debatte um die fortlaufende Kritische Ausgabe von Schriften Rudolf Steiners durch Christian Clement, durch die sich zahlreiche Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft düpiert fühlen, da man Textvergleich und kritische Textaufarbeitung offenbar mit Majestätsbeleidigung gleich setzt: "Die Auseinandersetzung um die «Kritische Ausgabe» von Schriften Rudolf Steiners im fromann-holzboog Verlag hat die Atmosphäre der vergangenen Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum zu einem erheblichen und wenig förderlichen Teil geprägt. Dabei gab eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema Gelegenheit, das Für und Wider dieses Projektes abzuwägen und kontrovers zu besprechen. Diese Gelegenheit wurde von zahlreichen engagierten Teilnehmern genutzt und die unterschiedlichen Standpunkte in ein faires und konstruktives Gespräch eingebracht. Die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung und der Rudolf Steiner Verlag erklärten dabei durch ihre anwesenden Vertreter, dass sie eine irreführende Formulierung im Impressum der Kritischen Ausgabe verändern und damit die Distanz der beiden Verlage in Zukunft deutlicher machen werden. Insofern entstand in diesem Gespräch für viele Teilnehmer eine neue Basis." Auch im vorliegenden Heft wird seitenlang von Hartwig Schiller* über die angeblichen Hintergründe der Mormonen fabuliert, da die Universität, an der der Herausgeber der Kritischen Ausgabe lehrt, einen solchen Hintergrund hat. Die "neue Basis" ist dabei offenkundig die alte: Zurück in die Kuschelecke im Elfenbeinturm.

Da gestaltet man selbst das Totengedenken im gewohnten Ambiente und in der beliebten Phraseologie: "Zu Beginn wurde kurz an den gerade verstorbenen Dr. Benediktus Hardorp gedacht. Das Arbeitszentrum hat in ihm einen Wohltäter in geistiger wie finanzieller Hinsicht verloren. Spontan wurde ein Lied für ihn auf einer Bass-Leier dargebracht." Nun muss man wissen, dass die Bass-Leier ein Format zwischen oberbayrischer Zither und ausgewachsener Harfe hat- schwer vorstellbar, dass jemand so etwas spontan aus der Aktentasche zieht. Aber möglich ist alles. Hier und da hat es bestimmt auch eine spontane Eurythmievorführung in Form eines Flashmobs gegeben.

Angesichts dieser eigenwilligen Details gerät dem Außenstehenden vielleicht etwas aus dem Auge, dass sich durch die ganzen Mitteilungen der Wechsel einer ganzen Generation der anthroposophischen Repräsentanten zieht. Das ist wohl auch dringend nötig. In der oberrheinischen Region z.B. war es völlig entgangen, dass der (ungenannte) Schatzmeister und seine Sekretärin sämtliche repräsentativen und führenden Positionen, ohne irgendwelche Gremien und Instanzen zu bilden, seit Jahrzehnten im Alleingang besetzt hielten. Nach deren abruptem Abgang müssen nun alle Strukturen ad hoc gebildet werden. Man kann sich die Provinzposse lebhaft vorstellen. Aber auch ohne jede vorhandene demokratische und administrative Struktur formiert sich bereits wieder die geistige Speerspitze und träumt von sich als "geistigem Zentrum": "Wie diese geistige Arbeit impulsiert werden und ein geistiges Zentrum für Freiburg entstehen kann, wie Verbindungen zu Studenten und zur Uni Freiburg gebildet werden, auch sogar Veranstaltungen an der Uni selbst angeboten werden, wie geistige Arbeit und Schulung, wie Meditation und meditative Techniken mehr bekannt gemacht werden, wie die verschiedenen anthroposophisch tätigen Gruppen und Institutionen besser untereinander bekannt werden und miteinander zusammenarbeiten können, all das sind Fragen und Anliegen, die in diesem neuen Initiativkreis vorhanden sind und mit der Zeit immer besser beantwortet und angegangen werden wollen."

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*Hartwig Schiller ruft in seinem Artikel "Die Wahrheit des anderen" zwar zu Toleranz und zum Verzicht von Polemik auf, ermahnt Clement seinerseits vage wegen "bestimmter Sprachformen" und angeblichem politischem "Opportunismus", referiert aber zugleich ausführlich die seltsamsten Polemiken in Bezug etwa auf mormonische Taufpraktiken, die mit der Herausgabe der Kritischen Ausgabe nicht das geringste zu tun haben: "Die Mormonen vollziehen ihr Taufritual also nicht als magischen Zwang, sondern verstehen ihn als Liebesdienst und stellen Annahme oder Ablehnung frei. Um Rudolf und Marie Steiner muss man sich da keine Sorgen machen." Das Hinzuziehen von allerlei Steinerzitaten und Christusbezügen macht die Sache nicht weniger merkwürdig, um es gelinde auszudrücken.