Rilke und die Anthroposophie

Radierung von Bernd Lehmann
"In einem der Briefe an einen jungen Dichter schreibt Rilke: Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Dass die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man ›Erscheinungen‹ nennt, die ganze sogenannte ›Geisterwelt‹, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, dass die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind." (..)

"Wir werden an dieser Stelle kurz Rilkes Verhältnis zum ›institutionalisierten Okkultismus‹ berühren. 1924 schrieb Rilke an die Spiritistin Nora Purtscher-Wydenbruck, dass es wichtig sei, »keine Beziehungen zu metaphysischen Gesellschaften« einzugehen. Dies ist bemerkenswert, auch wenn man Rilkes extremen Individualismus in Betracht zieht; ging Rilke doch zeitlebens allen Gruppierungen und Verbänden aus dem Weg. Hierdurch unterscheidet sich Rilke von zeitgenössischen Künstlern wie Kandinsky, Mondrian und Arnold Schönberg, die sich explizit auf die anglo- indische Theosophie Blavatskys beriefen." (..)

"Exemplarisch zeigen sich Rilkes Vorbehalte in seinem ambivalenten und kritischen Verhältnis zu Rudolf Steiner. Wenn man von seinem kurzen Kontakt mit dem vor- theosophischen Steiner absieht, kam Rilke insbesondere durch den schweizerischen Schriftsteller Albert Steffen und Hans Reinhart, den Bruder Max Reinharts, mit der Anthroposophie in Berührung. Beide scheinen missionarische Tendenzen gehabt zu haben, und in beiden Fällen reagierte Rilke reserviert oder ablehnend. 1918 wohnte Rilke einem Vortrag von Rudolf Steiner über »das Sinnlich-Übersinnliche in seiner Verwirklichung durch die Kunst« bei. Einem Bericht Albert Steffens zufolge wurde der Inhalt am drauf folgenden Tag von den Tischgenossen Rilkes diskutiert. Albert Steffen gesellte sich ihnen zu. Rilke ging nicht auf den Inhalt des Steinerschen Vortrages ein, sondern legte seine eigene Erkenntnistheorie des Übersinnlichen dar, wie wir sie aus seinem Aufsatz Urgeräusch kennen. Albert Steffen lehnte auf anthroposophischer Grundlage Rilkes synästhetische Spekulationen ab, indem er die Bedeutung der Erkenntnisfunktion für »ein Wiederbeleben« erstorbener parapsychischer Fähigkeiten hervorhob, worauf Rilke »mit innerer Abwehr« reagierte. (..) Obwohl Rilke in mancher Hinsicht dem Okkultismus Gustav Meyrinks und Rudolf Steiners nicht fremd war, erkennen wir, dass er einerseits ästhetische Einwände gegen eine unzulängliche sprachliche Verwirklichung des Übersinnlichen hatte und sich andererseits gegen eine rationalistische Zerkleinerung des Numinosen wehrte."


Aus: Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultische Modernität bei R.M. Rilke (2009)
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