Renate Riemeck, zwischen politischem Engagement, Esoterik und Gossenhistorie

Renate Riemeck & Ulrike Meinhof in guten Zeiten
Ich traf Renate Riemeck Anfang der Neunziger mehrmals auf einem Seminar in einer anthroposophischen Studienstätte. Nach den eigentlichen geschichtlichen Vorträgen und Seminaren hielt sie gern Hof, stets umgeben von einer großen Traube vor allem junger Anhänger. Wie umstritten Riemeck war, wusste ich damals noch nicht, hatte sie doch ungefiltert Material des umstrittenen anthroposophischen Historikers Karl Heise in Büchern verwendet, um ihr historisch alternatives Bild von Mitteleuropa (1) - ein Buch, das zu der Zeit durch Taschenbuchausgaben im Fischer- Verlag erhebliche Popularität erlangt hatte- zu unterfüttern. Heute ist das wohl eher eine Sache für den rechtslastigen Perseus- Verlag, der ja auch mit dem Kopp- Verlag und dessen Autoren kooperiert. Renate Riemeck hatte auch eine offenkundige Schwäche, denn wie heute viele der populistischen Historiker liebte sie die Aufmerksamkeit der Menge und pflegte dann zumindest dick aufzutragen, um nicht zu sagen, zu fabulieren- solange das Gesagte zumindest sensationell wirkte.

Als ehemalige Anti- Wiederbewaffnung- Demonstrantin, geschasste Dozentin und Ziehmutter von Ulrike Meinhof war Renate Riemeck auch nicht im Verdacht, dem rechten Spektrum zu entstammen, ganz im Gegenteil. Sie war schließlich aktive Politikerin, Publizistin und Mitbegründerin der Deutschen Friedensunion -einem Vorläufer der heutigen Grünen-, eine Kämpferin gegen die Atomwaffen- Aufrüstung des Westens im Kalten Krieg, ja eine Protagonistin der Außerparlamentarischen Opposition. So jemand wie sie wurde in den 70er und 80ern aus dem Staatsdienst entlassen und erhielt ein Verbot, als Dozentin zu lehren.

Über die heutigen rechtslastigen Protagonisten eines "freien" Europas wäre sie wahrscheinlich entsetzt gewesen, auch wenn sie eine Reihe verschwörungstheoretischer Erklärungen der angeblich von westlichen Logen gesteuerten Einflüsse auf Europa und die Ursprünge des Ersten Weltkrieges selbst vertrat. Schließlich hatte sie ihr Examen in Jena in den letzten Jahren des 2. Weltkrieges unter Tieffliegerangriffen gemacht, während ihre akademischen Freundinnen mit dem Judenstern herum laufen mussten (2). In einem Interview mit Alice Schwarzer (3) erzählte sie aus dieser Zeit: „Eigentlich hatte ich auch das Kriegsende schon eher erwartet, nach dem Untergang der 6. Armee. Aber es dauerte dann ja doch noch ein Jahr und ein halbes Jahr dazu, bis es endlich soweit war. Als dann die amerikanischen Soldaten vor Jena standen und, obwohl die deutschen Soldaten alle weg waren, noch anfingen zu ballern - da bin ich denen entgegengezogen und habe gesagt: Sie brauchen nicht mehr zu schießen! Kurz vorher war ich mit einem Bettlaken in der Aktentasche runtergegangen in die Stadt und hatte es zusammen mit einem Vorarbeiter als weiße Fahne auf dem Hochhaus der Zeiss-Werke gehißt. Mein Bettlaken. Das war mein schönstes Kriegserlebnis!“

Und natürlich wusste Riemeck, wie alle, von der systematischen Ermordung der Juden: „Von dem Ausmaß habe ich erst später erfahren. Ich wusste aber, dass sie alle nach Auschwitz geschickt und dort auch umgebracht wurden. Das hat mich natürlich geprägt. Ich habe 1945, kurz vor dem Zusammenbruch, zufällig gesehen, wie Leute aus dem KZ Buchenwald auf der Landstraße von Weimar nach Jena getrieben wurden. Ich sehe diesen ganzen Zug von Elendsgestalten noch heute vor mir... Damals sagte ich leise zu den KZlern: Es dauert nicht mehr lange, es dauert nicht mehr lange. Und ich habe mir geschworen: Nie in meinem Leben werde ich etwas gegen diese Menschen sagen oder sogar tun.“(3)

In ihren Erinnerungen (2) schreibt sie auch über die Umstände, denen sie zu der Zeit der Aktivität Ulrike Meinhofs in der Roten Armee Fraktion unterworfen war: „Im Frühjahr 1970 rief ihre Schwester Wienke mich an, um mir von dem Steckbrief zu berichten, der überall aushing. Ich hielt den Atem an und ahnte nichts Gutes. Von der politischen Hetzjagd, die nun begann, waren alle Freunde Ulrikes betroffen, und erst recht ich. Daß Kriminalbeamte mich im Morgengrauen in meiner Eppenhainer Wohnung aufsuchten und verhörten, war nur eines der vielen hektischen Unternehmen, mit denen die Verfolgung der „Baader- Meinhof- Bande“ begann. Ulrikes Verhaftung erfolgte am 15. Juni 1972 (..). Während ihrer Gefangenschaft in Hamburg und Stammheim lehnte sie jeden Kontakt mit mir ab. Und ich verstand, warum sie das tat. Ich hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt und die Konfrontation mit einem Menschen aus einer besseren Vergangenheit gemieden.“ Aber dass Renate Riemeck ihre Ziehtochter Ulrike nie mehr gesehen hat, war und blieb wohl dennoch eine offene Wunde, über die sie auch in dem Gespräch mit Alice Schwarzer berichtet. Auch der SPIEGEL bezieht sich in seinem Nachruf 2003 auf Riemecks öffentlichen Appell an Meinhof, den Terrorismus aufzugeben- was wohl der eigentliche Anlass für den persönlichen Bruch gewesen sein wird (4).

Aber, wie oben angedeutet, hatte Renate Riemeck im anthroposophischen Rahmen auch sehr esoterische Seiten. In den abendlichen Runden des Seminars erzählte sie - auch sie emotional bewegt von der Vision eines zukünftigen geistvollen Russlands- von einer Anfrage aus politischen Kreisen Moskaus, wie mit einer ganzen Gruppe hellsichtiger, blauäugiger Geistseher umzugehen sei bzw. wie sie ein solches, wachsendes Phänomen einschätzen würde. Riemeck sah darin die ersten Anzeichen eines neuen, spirituellen Russland, von dem Rudolf Steiner doch gesprochen habe und das die Welt verändern werde. Ich selbst habe ein halbes Leben lang gerätselt, was Riemeck da gemeint haben könnte. In einem neuen Buch des russischen TV- Manns Peter Pomerantsev (5) wird dieses Rätsel gelöst.

Es handelt sich um die radikale Sekte des ehemaligen Postangestellten Vissarion (8) aus Krasnodar, der sich für den wiedergekehrten Christus hält. Die Sekte wurde Anfang der 90er im Rahmen einer Kolonie namens „Wohnsitz der erwachten Stadt“, abgelegen in den Bergen an der Grenze zur Mongolei begründet und besteht bis heute. Die 4500 Anhänger leben in selbst gebauten Holzhütten, Stunden Fußmarschs von jeder Straße entfernt. Sie leben fleischlos und abstinent von Alkohol, in vollkommener Autonomie. Auch Pomerantsev bestätigt: „..and they all have clear, crystal blue eyes and powerful shoulders and look ten years younger than their actual age.“ (S. 179) Selbstverständlich erwarten sie die Apokalypse und leben auf bergiger Höhe, um den kommenden Wasserfluten zu entgehen. Der Sektengründer ist ein absoluter göttlicher Herrscher, für den ein eigenes Weihnachtsfest gefeiert wird. In dem von ihm geschriebenen eigenen Neuen Testament werden alle Religionen der Welt integriert, so dass sich eine Art „Collage“ der Religionen ergibt. Der Alltag der Erwachten schwankt dann auch von transzendentaler Meditation bis Derwisch- Tanzen am Nachmittag. Vissarion bewohnt das am höchsten gelegene Haus und kommt zu Weihnachten (d.h. seinem Geburtstag) herab zu den Anhängern, gewandet in lila Umhänge, um Fragen zu beantworten. Man glaubt an Reinkarnation, die allerdings überwunden werden soll, um ganz in die Vollkommenheit einzugehen.

Diese Sekte ist so typisch in ihrer apokalyptischen Egozentrik und ihrem Gurutum, dass sie nicht einmal besonders tauglich ist für die von Esoterik strotzenden TV- Programme des neuen, putinesken Russland. Auch wird in ihr kaum die von Riemeck postulierte Hoffnung auf das Kommende - diese spezifische Heilserwartung, die in Russlands politischen und religiösen Selbstbildern auch heute vollkommen mit Steiners Prophetie übereinstimmt- erfüllt werden. Das ist nicht das Geistselbst- Bewusstsein, das ist eine ordinäre Sekte.

Dennoch mag man einer radikal engagierten, offenherzigen und politisch aktiven Frau von Renate Riemeck den einen oder anderen Fauxpas verzeihen. Eine solche bodenständige Unbequemlichkeit verträgt ein paar unscharfe Stellen. Politisch- anthroposophisch allerdings hat sie den Boden bereitet für die heutigen Rechtspopulisten.

Die Heise- Karte auch heute noch von rechtspopulistischen anthroposophischen Kreisen wie dem Perseus- Verlag (6) weiter verbreitet, in Bezug auf Äußerungen Rudolf Steiners, dass bestimmte Logen- Kreise bereits im 19. Jahrhundert eine Zertrümmerung Mitteleuropas geplant hätten: „Was Sie hier auf dieser Karte sehen, ist nun nicht irgend etwas, womit ich im geringsten, ich sage es noch einmal, jemanden beeinflussen will, sondern womit ich nur sagen will, dass dies als eine Art Gestaltung Europas – für mich deutlich zurückführbar bis in die neunziger, achtziger Jahre – in gewissen okkulten Gemeinschaften gelehrt worden ist. Warum man dort die künftige Gestaltung Europas so ansah, welche Gründe man dafür hatte, das wurde immer auch ausgeführt. Es wurde ausgeführt, in welcher Weise und auf welchem Wege – selbstverständlich galten vernünftige Gründe – man für Europa eine solche Gestaltung wünschte. Davon wollen wir dann morgen sprechen, meine lieben Freunde. Ich will nur noch erwähnen, dass ich Ihnen nichts irgendwie Ausgedachtes bringe, sondern etwas weitergebe, was in vielen Köpfen als wirksamer Impuls lebte – als etwas, was man herbeiführen müsse, worauf man alle Kräfte dirigieren müsse, damit es herbeigeführt werden könne.“ (Zitiert nach 6)

Die „anglo- amerikanischen Kreise“ hätten Kriege des 20. Jahrhunderts zu diesem Zweck - nämlich der „Weltbeherrschung“ - als Mittel eingesetzt. Schon 1966 sah Die Zeit (7) Renate Riemeck in diesem Kontext in der Nähe einer „Gossenhistorie“: „Was die Autorin den Scharlatanen voraus hat, ist ein breites, wenn auch oft kurioses und abseitiges historisches Wissen und die Gabe flüssiger, ja oft dramatischer Darstellung. Was sie jedoch vom großen Gelehrten trennt, ist die oft monomanische Besessenheit von dann nicht durchgeführten und nur auf Verdacht geäußerten „Geheimnissen“ und „Verschwörungen“ in der Geschichte, die ihre Analyse nur zu oft in die unmittelbare Nachbarschaft der Gossenhistorie rückt.“ Da steckt die anthroposophische historisch- politische Argumentation zu weiten Teilen bis heute.

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1 Renate Riemeck, Mitteleuropa, Bilanz eines Jahrhunderts. Verlag die Kommenden, Freiburg im Breisgau
2 Renate Riemeck, Ich bin ein Mensch für mich. Aus einem unbequemen Leben
3 http://www.emma.de/artikel/raf-1989-wie-war-das-den-50ern-264466
4 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27163366.html
5 Peter Pomerantsev, Nothing is true and everything is possible. The surreal heart of the new Russia
6 http://www.perseus.ch/PDF-Dateien/Zertruemmerung_0610.pdf
7 http://www.zeit.de/1966/09/nebel-ueber-mitteleuropa
8 http://www.wissarion.info/home.htm