Laurus oder Über die russische Seele

Ja, mag mancher Leser zunächst sagen, da wird in Evgenij Vodolazkins großem Roman Laurus wieder mal das Klischee bedient: Russische Mythen, wunderbare Wesen, Volksglauben, Frömmigkeit und hingenommenes Leid. Dagegen gibt es einiges einzuwenden.

Zunächst spielt der gerade in deutscher Übersetzung erschienene Roman* des Akademikers (Institut für russische Literatur), Sprachforschers und Deutschlandkenners Vodolazkin tatsächlich im 15. Jahrhundert und beginnt im tiefsten, urtümlichsten Russland. Aber der kräuterkundige Heiler Arseni bewegt sich dann quer durchs Land, durch alle Schichten, Dörfer und Städte, lebt unter den verschiedensten Umständen, um schließlich sogar auf Pilgerschaft bis ins Heilige Land und zurück zu gehen. Man lernt also nicht nur die russische Seele kennen, sondern eine ganze Epoche, gekennzeichnet von immer wieder aufflammenden, verheerenden Pest- Epidemien, aber auch von dieser gewissen Glaubens- Innigkeit. Man merkt im Roman aber auch auf jeder Seite, wie intensiv der Autor die Aspekte des Glaubens, der Lebensumstände, der Medizin und Beziehungen aus Chroniken gewonnen hat. Hier stimmt jedes Detail, selbst dann, wenn es erfunden sein mag. Selbst die Legenden, die Wunder werden ebenso in die Handlung eingebunden wie der unbeschreibliche Dreck, die archaische Moral der Dörfler und das hunderttausendfache Verrecken an den Pestwellen.

Manchmal taucht die Sprache des Romans unversehens und kurz in das Sprachbild der Zeit ein ..“und alle welt lächelte, denn sie glaubeten, er tue gutes.“ Andererseits bezeichnet Vodolazkin seinen Roman selbst als ahistorisch- auch das völlig zu recht. Denn der Erzähler bricht immer wieder mit der Erzählperspektive des späten Mittelalters- in reflektierenden Bemerkungen der Handlungen, die nur aus der Gegenwart stammen können und sogar in Sprüngen in die Perspektive heutiger Archäologen, die gerade Artefakte der damaligen Handlungen ausgraben und betrachten. Der Leser wird also nicht nur eingesogen in eine naive, gefühlige Mittelalterszenerie, sondern immer wieder daran erinnert, dass es sich um ein Patchwork, ein historisches Mosaik handelt. Im Gegensatz zu heutigen Parallelhistorien, die auf politischer Ebene der Verfälschung und Propaganda dienen, wird dabei weder die Historie noch der Erzählrhythmus verfremdet. Die Störung findet statt, um den Leser bewusst und wach zu halten- sie entspricht der modernen Bewusstseinshaltung. Aber zu Beginn mag man sich wundern, wie der kräuterkundige Großvater, bei dem der Junge aufwächst, dazu kommt, sich über die „Intimhygiene“ seiner Zeit auszulassen.

1440 im Kloster des Heiligen Kirill geboren, lernt Arseni schon als kleines Kind beim frommen, etwas schlichten Großvater, unter der Aufsicht des nahen Starez im Kloster und einer Ikone, die auf den Jungen wunderbare Wirkung hat. Er zähmt einen Wolf und lernt nach und nach das Handwerk des Heilens beim Großvater. Nach dessen Tod des Alten - auch das wunderbar, intim und in der innigen Seligkeit dieser Zeit erzählt- tritt der Junge in die Fußstapfen des Alten. Allerdings merkt Arseni bald, dass er das Vermächtnis seines Lehrers nicht nur beherrscht und weiter entwickelt, sondern dass er sich ganz auf die Heilkraft seiner Hände selbst verlassen kann: „Wenn sie den Körper eines Kranken berührten, verloren Arsenis Hände alle Stofflichkeit, sie schienen zu fließen. Etwas von einer Quelle, etwas Kühlendes ging von ihnen aus.“ (S. 61)

Am Grabstein des Alten entdeckt Arseni eine Waise, deren Familie durch die Pest ausgelöscht worden ist und die, wie so Viele, im Schnee zu verhungern droht; Ustina. Arseni versteckt sie in seiner Hütte, während die Bewohner des Dorfs weiterhin zu ihm zur Behandlung kommen. Arseni liest ihr aus dem einzigen vorhandenen Buch - einer Geschichte Alexanders - vor und lehrt sie das Lesen. Allmählich entwickelt sich die Liebesbeziehung zweier vereinsamter junger Menschen. Aber Arseni wagt es nicht, zu Ustina zu stehen. Er besteht darauf, sie selbst dann versteckt zu halten, als sie schwanger wird und ruft auch nicht die Hebamme, als die Geburt zur Katastrophe wird. Der Tod Ustinas wird für Arseni zur Schuld seines Lebens, die er dadurch sühnt, dass er sein Leben nun auf der Wanderschaft als Heiler verbringt- meist auf den Spuren verwüsteter Dörfer und Städte in den Pestzeiten, aber auch als Bettler zwischen Räubern und weisen Narren, oder als Einsiedler in einem Kloster der Stadt Pskow. Im zweiten Teil des Buches wird dann vor allem die abenteuerliche Wallfahrt nach Jerusalem geschildert.

So erfährt man auf denkbar spannende und klug inszenierte Art und Weise von der Zeit, vom Empfinden und Denken einer Epoche, aber letztlich auch - ironisch gebrochen - vom russischen Seelenleben: „Ich höre, ihr redet vom Tod, sagte er. Ihr Russen redet immer gerne vom Tod. Deshalb schafft ihr es auch nicht, euch im Leben richtig einzurichten.

Am Ende zieht - als Abschluss einer eigenartigen Heiligenlegende- der inzwischen Laurus genannte Arseni in die Öde der Wälder, um in einer Höhle zu sterben. Aber auch hier zieht wieder eine junge Frau zum Alten, da sie von ihrem Dorf als Hexe hingerichtet werden soll. Der wundersame Laurus rettet die schwangere Anastasia, wozu auch verstorbene Stareze und eine ebenso wundersame Brotvermehrung beitragen. Aber bevor es zu naiv und mittelalterlich wird, erweist sich Anastasia plötzlich als moderne, kritische Russin, die beim Verlesen der Alexandererzählungen ironisch bemerkt: „Was für ein seltsames Leben Alexander hatte. Was war sein historischer Zweck?

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*Evgenij Vodolazkin, Laurus, Zürich 2016