Die Parzival- Frage oder: Labern ist das Opium des Volkes

Natürlich, auch das Fragen will gelernt sein, heute und seit je her. Tipps dafür finden sich schon in Yoshida Kendos buddhistischen Betrachtungen aus dem 14. Jahrhundert, die seither gern japanischen Bräuten zur Hochzeit aufgenötigt wurden: „Wird man von jemandem gefragt, so sollte man sich nicht, in dem Glauben, der andere wisse es doch sicher schon, davor scheuen, möglichst umfassend Auskunft zu geben; unklare Antworten verwirren nur.“ (1) Auf der anderen Seite sollte man Kenkos Lebenstipps auch nicht zu ernst nehmen, liebe japanischen Bräute, denn er war ein aus Frustration über eine verkorkste Liebesgeschichte in ein Mönchsdasein gezwungener, verbitterter Junggeselle, der gern ein Gläschen über den Durst trank, aber zugleich Predigten über die Enthaltsamkeit hielt.

Und was sollte er, der dazu riet, „umfassend Auskunft zu geben“, über die heutige Facebook- Kultur sagen, in der jedermann, nicht nur buddhistische Junggesellen, ununterbrochen Antworten auf Fragen geben, die nie jemand gestellt hat? Besuchen Sie nur einmal eine der zahllosen, zur verbalen Eskalation neigenden anthroposophischen Facebook- Gruppen, in denen Sie von Antworten geradezu erschlagen werden, an deren zugrunde liegende Frage Sie niemals auch nur zu denken gewagt hätten. Da liegt es nahe, sich an Saša Stanišić, den heiteren Melancholiker zu halten, der dazu in seinem Erzählband (2) vermerkt „Labern ist das Opium des Volkes“. Wobei ich das erstens nicht unbedingt nur auf anthroposophische Gruppen beziehen möchte. Und zweitens Stanišićs großen Roman „Vor dem Fest“ vorziehen würde, falls Sie mich fragen würden. Aber Sie fragen ja nicht.

Überhaupt, diese Fragen. In Ann Patchetts neuem Familienroman „Commonwealth“(3) nervt ein Kind der Familie seine zahlreichen Geschwister so sehr mit den immer gleichen Fragen wie „Sind wir gleich da?“, dass sie ihn mit Antihistamin- Pillen seines Bruders ruhig stellen. Die fehlen dann dem Bruder mit der Bienen- Allergie im entscheidenden Asthma- Anfall so, dass er quasi an den Fragen buchstäblich erstickt. Fragen können also nicht nur zur Waffe werden, nicht nur lediglich der Aufmerksamkeits- Erregung dienen, sondern auch tödlich sein. An ihnen entzündet sich das Trauma zweier Familien- eine Dynamik, die sich über Jahrzehnte hinzieht und mehrere Lebensläufe determiniert. Niemand soll sagen, dass Fragen nicht gravierende Folgen haben können.

Die wichtigen Fragen im Leben- die, die schon eine Intuition der Antwort in sich tragen und dem Leben eine essentielle Bedeutung geben können, spielen sich aber, wenn überhaupt, auf einer anderen Ebene ab: „Eine Frage, die nicht im Fragenden selbst aufkeimt, ist keine wirkliche Frage. (..) Eine wirkliche Frage muss aus der Seelenmitte kommen, in der sie entsteht.“ (4) Die Fähigkeit, solche Fragen stellen zu können, die auf der Parsival- Ebene entspringen, berühren die ewige Wahrheit „nur in der Präsenz“ und entspringen, auf der anderen Seite, der ebenbürtigen Fähigkeit zu zweifeln. Sie sind „selbständiges Tun“ des „anfangsfähigen Menschen“, ein Schöpfungsakt. Keine Konvention, kein bloßes Wissen kann auf sie vorbereiten. In Parsivals Fall ging es darum, die innere existentielle Zerrissenheit, die ur- menschliche Wunde, anfänglich zu überwinden: „Was wirret dir?“ Fragen können also nicht nur erschöpfen, zuschütten, betäuben und töten- sie können auch heilen. Allein die richtige Frage im richtigen Augenblick am rechten Ort zu finden stellt die Heilung dar. Sie trägt dann die Antwort in sich, erzeugt eine innere Dynamik und kann ein Leben auf andere Füße stellen.

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1 Yoshida Kendo, Betrachtungen aus der Stille, Frankfurt 1963
2 Saša Stanišić, Fallensteller, München 2016
3 Ann Patchett, Commonwealth, 2016 (Englische Version)
4 Georg Kühlewind, Der Gral oder Was die Liebe vermag, Stuttgart 1997, S. 27