Rudolf Steiners Falter- Meditation oder: Das Denken muss ein Tasten werden

Für viele Kenner der Anthroposophie gipfelt die spezifisch symbolisch- imaginative Esoterik Rudolf Steiners in der in GA 265* dokumentierten Falter- Meditation. Dies auch deshalb, weil in diesem Zusammenhang sowohl der bis heute verborgen agierende esoterische Jugendkreis als auch die „Wachsmuth- Lerchenfeld- Gruppe“ begründet wurden. Letztere bestand aus dem damaligen Vorstand der Gesellschaft wie einigen sehr engen Mitarbeitern Rudolf Steiners - eine intime, interne Gruppierung, in der engste Schüler und Repräsentanten der anthroposophischen Idee zusammen kamen: „Im Verlaufe des Jahres 1922 fanden auch in England (London) zwei esoterische Stunden statt, eine während des Aufenthal­tes im April und die andere während des Aufenthaltes im November. Kurz vorher, im Oktober, waren im Zusammenhang mit dem in Stuttgart statt gefundenen pädagogischen Jugendkurs junge Anthroposophen an Rudolf Steiner herangetreten mit der Bitte um esoterische Unterweisungen zur stärkenden Vertiefung ihrer Gemeinschaft. Es entstand der sogenannte esoterische Jugendkreis, und auch dieser erhielt esoterische Stunden. Im Verlaufe des Jahres 1923 bis Anfang 1924 kam es noch zu folgenden esoterischen Stunden: In Kristiania im Mai 1923; in Dornach am 27. Mai, 23. 0ktober 1923 und 3. Januar 1924 für den von Rudolf Steiner nach den Initian­ten "Wachsmuth- Lerchenfeld- Gruppe" genannten Kreis; in Stuttgart am 13. Juli und am 13. Oktober für den esoterischen Jugendkreis; in Wien am 30. September 1923 für einen auf Bitte von Polzer-Hoditz zusammen gekommenen kleinen Kreis.“

Die Falter- Meditation wurde von Rudolf Steiner als weiterer enger Schülerin für die erkrankte Edith Maryon aufgeschrieben, die dazu auch einige Notizen machte, welche einen gewissen interpretatorischen Zugang zu dem Mantram ermöglichen. Maryon war als Bildhauerin (s. obere Figurengruppe) mit einer zweifelhaften okkult- medialen Vergangenheit zu Steiner gekommen und stand unter dessen besonderer Obhut und seinem Schutz, wobei eine überaus fruchtbare Zusammenarbeit entstand, die große Bedeutung auch für Rudolf Steiner selbst hatte. Ihre Notizen und Briefe zeigen ihren herausragenden Rang unter denen, die tatsächlich inneres Verständnis und Selbständigkeit in Bezug auf seine esoterische Schulung errangen. Bis heute gibt es auch immer wieder Vermutungen, dass aus den genannten Personenkreisen ein im hierarchischen Sinne innerer Kreis entstehen sollte, der diesen Rang repräsentierte- die Zweite Klasse. Dazu ist es durch den Tod Rudolf Steiners nicht mehr gekommen.

Die Falter- Meditation („Fange den Falter/ Sende ihn in eisige Höhen/ Wo die Weltenträume walten./ Wird er dir zum Vogel/ Dann hast du der Arbeit/ Hälfte vollbracht./ Den Vogel tauche/ In Meerestiefen (I A 0 U E)/ Wo der Weltenwille wirket./ Ertrinkt der Vogel,/ Dann bleibt dir noch zu tun,/ Die Vogelleiche/ Im Feuer läuternd zu/ verbrennen./ Dann verzehr' die Asche/ Und du bist/ Das Licht im Weltendunkel.“) wird in den Notizen Rudolf Steiners in der Mitte von der Formel „I A O U E“ unterbrochen, die einen vokalischen Verweis auf die Hierarchien- Lehre Steiners gibt. Auf dem Notizblatt Steiners Archivnummer 5852 ist diese Formel als eigene Meditation ausgeführt, die dort als Vorbereitung für die Falter Meditation vorgestellt wird: „I noch in sich/ A man öffnet sich der Welt, die sagt viel/ O die Engel kommen, geben die Hände/ U die zweite Hierarchie kommt nach, umströmt einen mit Licht/ E die erste Hierarchie kommt und verbrennt einen in Feuer.“ Die Meditation ist also als innere Eurythmie- Übung mit hierarchischem Bezug zu verstehen.

Die Notizen Edith Maryons beziehen sich zunächst auf die Imagination des Falters, der zum Vogel wird. Es geht darum, das Denken zu denken, und der Falter ist das Bild des Gedankens. Der Vogel wäre demnach mit zentriertem, meditativ freiem Bewusstsein gleich zu setzen, das einen sakralen Prozess bis hin zur Willensbildung durchläuft. Zudem wird in dem Mantram der Pendelschlag zwischen der „Demokratie mit den Mitmenschen“ und der tragischen, einsamen „Aristokratie des Denkens“ angesprochen, wenn man den Notizen Maryons folgt.

Andere Notizen von Teilnehmern der esoterischen Stunden im Rahmen der Falter- Meditation beschreiben die reale esoterische Qualität, die Rudolf Steiner hier zu vermitteln bemüht war. Die geschilderten Prozesse, die Steiner ansprach, beginnen damit, das Denken prozessual zum inneren Tastorgan umzugestalten: „Das Haupt ist wie eine Frucht, das Herz wie ein leuchtender Kelch. Wir sollen unser Haupt bis ans Herz als selbstleuchtend erleben. Wir sollen unser Denken erleben als Ätherorgan, das sich herantastet an alles, was es erfassen soll. Der Okkultist unterscheidet sich vom Nicht-Okkultisten dadurch, daß er sich dieses Organs als ausstrahlend im Ätherischen bewußt ist. Wir sollen uns erleben wie eine Schnecke, die ihre Fühlhörner ausstreckt. Das Denken muß ein Tasten werden!“

Viele der Inhalte der esoterischen Stunden, Notizen, Mantren und Unterweisungen Rudolf Steiners aus dieser Zeit zeigen die Dringlichkeit seines Bemühens, seinen Schülern und Mitarbeitern eine reale Schulung und esoterische Kompetenz zu vermitteln- ganz offenbar um eine Stufe der Vertiefung und ein inneres Zentrum zu schaffen, was womöglich in den organisatorischen Verwicklungen des Gesamt- Groß- Unternehmens Anthroposophische Gesellschaft verloren gegangen war. Vielleicht spürte er auch, dass die ihm bleibende Zeit aus Krankheitsgründen begrenzt war. Die Falter- Meditation und einige der intensiven Übungen aus dieser Zeit zielen auf eine solche Vertiefung und Spiritualisierung des Denkens und Wollens, die in der typischen Bildsprache Steiners, aber mit Dringlichkeit vermittelt wurden.

Damit verbunden waren aber auch Bemerkungen in den Unterweisungen für die Wachsmuth- Lerchenfeld- Gruppe (Dornach, 27. 5. 1923, 23. 10. 1923, 3.1. 1924), die immer wieder auf die Feinde Steiners zielten, die er für den Brand des ersten Goetheanums verantwortlich machte: „Die Kain-Strömung fand im Laufe der Zeiten ihre Hauptvertreter in der F. (Freimaurerei-Strömung), während das Abelitentum seinen Ausdruck fand in der Priesterströmung der (katholischen ?) Kirche. Beide Menschheitsströmungen blieben einander streng feindlich. Nur einmal vereinten sie sich in Eintracht: in ihrem Haß gegen die Strömung der Mitte. Das Ergebnis dieser einträchtigen Vereinigung beider sonst feindlicher Richtungen war die Vernichtung des Johannesbaues (Goetheanums).“ Es ist daher nicht verwunderlich, dass - wenn Steiner in der Blüte der Vertiefung seines esoterischen Lehrens die Gegnerschaft so explizit betont - bis heute Verschwörungstheorien bis in den Kern der Bewegung dominierend und sogar konstituierend im Selbstverständnis des Anthroposophen geblieben sind. Dieses ausgrenzende, sich abgrenzende Selbstverständnis in der spezifischen Symbolsprache Rudolf Steiners ist nach seinem Tod zu einem der internen Probleme geworden, die die Entfaltung des gesamten Impulses bis heute behindern und beschränken, wenn nicht sogar für viele Zeitgenossen unzugänglich machen.


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*Rudolf Steiner, VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR GESCHICHTE UND AUS DEN INHALTEN DER ESOTERISCHEN SCHULE 1904 BIS 1914, Briefe, Dokumente und Vorträge aus den Jahren 1906 - 1914 sowie von neuen Ansätzen zur erkenntnis- kultischen Arbeit in den Jahren 1921 - 1924, Dornach 1987, GA 265, S. 455 ff