Das Licht der Dinge - meditative Konzepte im anthroposophischen Zusammenhang

In den „Briefen an die Mitglieder“ hat Rudolf Steiner selbst in Bezug auf die Frage, ob die kurz vor seinem Tod vollzogene anthroposophische Weihnachtstagung nun tatsächlich eine elementare Neubegründung klassischer Mysterien sei, für die beteiligten Individuen zu bedenken gegeben: „It really depends on the human being whether he merely pictures Anthroposophy in his mind or experiences it.“ In der Tat. Es besteht ein Unterschied zwischen Trockenübungen am Strand und dem tatsächlichen Schwimmen im Wasser.

Diese Unterscheidung scheint aber, trotz der realen und praktischen Wirkungen anthroposophischer Praxis, im spirituellen Kernbereich bis vor wenigen Jahren immer verwischt zu werden. Auch der Autor, der Steiner in diesem Zusammenhang zitiert - Sergej Prokofieff (1) stellt die Unterscheidung, die doch wesentlich ist, nicht weiter in den Mittelpunkt der Betrachtung, sondern fordert von den Individuen lediglich einen verschwommen bleibenden „guten Willen“- der (wenn alles gut geht) - zu einer inneren Erfahrung führt, die ein Tor zum Geist öffnet, der diesen Geist füllt mit dem Licht und der Wärme der geistigen Welt (2), um den Aufgaben der Zeit begegnen zu können. Falls der „gute Wille“ nicht bestünde, bliebe das Mysterium dieser Weihnachtstagung - so Prokofieff- lediglich ein abstraktes Konzept.

Allerdings, möchte man anfügen, ist der Begriff des „guten Willens“ selbst ein höchst spirituelles Konzept- nach Lukas 2,14 ein Durchdrungensein von Seiner Gnade. In den Augen Rudolf Steiners liest sich der gute Wille als Durchdringung des Alltags von „Ideen“, die den gesamten Alltag praktisch durchdringen: „Eine wahre Geistesauffassung fühlt sich fähig, Ideen hervorzubringen, die nicht allein einer inneren Seelenorientierung dienen, sondern die, indem sie entstehen, schon die Keime der praktischen Lebensgestaltung in sich tragen. Der Wille, in geistige Tiefen hinunterzusteigen, kann ein so starker werden, daß er in allem mitwirkt, was der Mensch vollbringt.“ (4)

Nun wissen wir, wenn wir ehrlich sind, alle, dass die Hölle mit unseren guten Absichten gepflastert ist. Selbst die besten Absichten haben sich oft genug - aus Unkenntnis der Komplexität der Situation, aus unausgelotet mitschwingenden Empfindungen und Intentionen uvam- in ein unausweichliches Scheitern verkehrt. Die „wahre Geistesauffassung“ hat, geprüft an der Realität, schon gezeigt, dass es am Hervorbringen eben dieser „Ideen“ gemangelt hat, die „schon die Keime der praktischen Lebensgestaltung“ in sich tragen- also tatsächlich konstruktiv wirken.

Die an diesem Punkt von Rudolf Steiner gemeinte Inspiration - der Wille, in geistige Tiefen hinunterzusteigen, steht, wie es Georg Kühlewind nannte (5), im Einklang „mit den Weltgesetzen“, ist also von Realismus so gesättigt, dass eine - nach Thomas von Aquin- Adaequatio entsteht- im Sinne eines „Identisch- Werdens mit dem, was man zu erkennen beabsichtigt.“ Damit ist gemeint: „Das zu Erkennende passt sich an uns an, an unsere erkennende Gebärde, und wir passen uns mit dieser Gebärde an es an. Es ist ein gegenseitiges Herbewegen, weil diese zwei Komponenten der Welt aufeinander abgestimmt sind. Was wir dann erkennen, ist das Resultat der zwei Bewegungen. Diese Anpassung wird im Fühlen durch den Einklang mit den Weltgesetzen vorbereitet. Das Denken wird zurückgehalten, damit die Dinge sich zeigen, uns sie zeigen sich erst dem ehrfurchtsvollen Blick. Dann kann das hören beginnen, womit der Erkennende dem Sprechen der Dinge entgegengeht. Der Einklang lässt dieses Sprechen erklingen, lässt das Fühlen von den „Dingen“ beeinflusst werden, das Fühlen, das dann das Denken im Ausdruck des Gehörten leiten kann. Die Eigenschaft der Dinge, die in dieser Seelenhaltung wirksam wird, ist ihre „Wahrheit“. Im Sinne des Thomas von Aquin - und nach dem mittelalterlichen und auch früheren Sprachgebrauch- ist Wahrheit die Fähigkeit der Dinge, ihre Bedeutung zu offenbaren, weil sie eine Bedeutung haben, ja, weil sie Bedeutung sind, und diese strahlt der vorbereiteten Seele entgegen, als das Licht der Dinge.“ Der im Neuen Testament so genannte, begnadete „Friede“ - eben die Adaequatio-, ist ein inspiriertes, intuitives Handeln, aus einer Erkenntnishaltung jenseits des Dualismus heraus.

Zugleich dürfen wir, Sergej Prokofieff folgend, schließen, dass dort, wo die Ebene des „guten Willens“ zwischen tätigen Menschen erreicht wird, „Weihnachtstagung“ stattfindet- unabhängig von Ort und Zeit. Es ist müßig, über das Gelingen oder Scheitern des von Rudolf Steiner initiierten Geschehens zu streiten. Es ist überflüssig, spirituelle Kompetenzen oder Traditionen, Normen, Gruppen- Zugehörigkeiten, einen Schulungsweg, Religion oder „Loyalität“ gegenüber Rudolf Steiner einzufordern. Eben das aber unternimmt Sergej Prokofieff im folgenden Schritt. Er macht - statt die Adaequatio als humanes Potential zu sehen- den Schritt zur exklusiven Deutungshoheit, indem er behauptet, die Weihnachtstagung sei das Zentrum der christlichen Mysterien, die in Anthroposophen durch ihre Loyalität gegenüber dem Schulungsweg eingelöst werde. Freilich, die Voraussetzungen dafür, diesen „Grundstein“ in sich zu realisieren, sieht Prokofieff auch. Für ihn ist es vor allem, das Herz als Erkenntnisorgan („heart as a cognitive organ“) auszubilden - also eine Fähigkeit entsprechend der Adaequatio Thomas von Aquins. Dass er diese Fähigkeit an die historische Weihnachtstagung bindet („for grasping the spiritual nature of the Christmas Conference“) - und nicht an das Alltagsleben schlechthin- entspricht wohl nicht nur seiner Tätigkeit als klassischer Funktionär, sondern spiegelt das verquere exklusive Selbstverständnis und die Rückwärtsgewandtheit der traditionellen, überlebten Dornacher Spiritualität des 20. Jahrhunderts.

Dass sich diese Haltung tatsächlich überlebt hat, zeigt wohl deutlich die Tagung Living Connections (Juli 7–9 2017) am Goetheanum. Anbei ein Interview mit Terje Sparby über seine persönliche meditative Praxis (6)- eine unprätentiöse, freie Mischung von buddhistischen und typisch anthroposophischen Elementen: „The ideal of anthroposophic meditation, as I see it, is some kind of a universal type of meditation, which would include other traditions as well, or at least aspects of them. So I think it’s good to have a thorough knowledge of other traditions as well. And also why not have other forms of meditation as part of your practice? Then it doesn’t become exclusive. And in that way you can actually provide a scientific or at least experientially based perspective on other traditions; a perspective which remains open and non-exclusive.“ Sparby spricht von einer echten Aufbruchstimmung im anthroposophischen Kontext - gerade in Bezug auf meditative Konzepte. In dieser Hinsicht ist von der Tagung am Goetheanum Einiges zu erwarten.

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1. Sergej Prokofieff, May Human Beings hear it!, 2004, S. 8
2. frei zurück übersetzt aus der englischen Übersetzung Prokofieffs Buch, S. 8
3. Verherrlicht ist Gott in der Höhe / und auf Erden ist Friede / bei den Menschen seiner Gnade.
4. GA 24.247f
5. Georg Kühlewind, Der sanfte Wille, S. 52f
6. http://www.living-connections.info/texte/2017/1/26/interview-with-terje-sparby