»Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«

Elsbeth Weymann

 


Wintertag. Nebel. Alles feuchtkalt und grau. Ich schließe fröstelnd den Gemeinschaftsraum auf. Er gleicht eher einer Garage als einem Aufenthaltsraum. Es sind Schul- und Volkshochschulferien. Wer weiß, ob heute überhaupt jemand kommt, meint eine Kollegin. Wir warten.

Dann geht die Tür auf .Ein junger Mann tritt ein. „Gibt es hier Deutschunterricht?“ 

„Goran“, stellt er sich vor. „Ich bin in der Schule, in der 11. Klasse, aber es sind Ferien, und ich will weiterlernen.“ Er hat ein paar Fragen zur deutschen Grammatik. Wenn es schwieriger wird, fällt er vom Deutschen rasch ins Englische, das er gut beherrscht.

Er erzählt von sich: Kurde, mit 17 Jahren allein aus Aleppo geflohen, monatelang, durch einige Länder, schlimmste Erfahrungen. Seine Augen verdunkeln sich. Mehr gibt es hier nicht zu sagen. „Ich will lernen, lernen(!) Medizin studieren, Arzt werden. Und dann gehe ich zurück in  m e i n  Land.“

Ein zweiter, etwas älterer junger Mann, Onur, kommt noch hinzu. Auch er will während der Volkshochschulferien weiterlernen. Die jungen Männer verständigen sich schnell, stellen überrascht und interessiert fest, dass sie beide Kurden seien. Aber beide aus verschiedenen Nationen und Religionen: Goran Syrer, Moslem aus Aleppo; Onur Jeside aus dem Irak, aus Mossul. Onur hat vor seiner Flucht im Sindschar Gebirge mit anderen jesidischen Kämpfern zusammen gegen den IS gekämpft. Monatelang. Er schaut lange stumm auf seine Hände, als er das sagt.

„Übrigens waren früher einmal alle Kurden Jesiden!“ - provoziert Onur. Und plötzlich sind wir mitten in einem Religionsgespräch. Ein Klanggemisch aus Englisch, Kurdisch, Arabisch und Deutsch ist im Raum. Ab und zu fallen beide ins Hocharabische, also der Sprache des Koran, die manchmal eine Brücke der Verständigung bildet zu den vielen nationalen Formen des Arabischen, die es gibt. Mehrfach muss ich sie bitten, Englisch oder Deutsch zu sprechen, damit ich auch verstehe. Beide wissen jeweils über die andere Religion nur Angelerntes, haben heftige gegenseitige Vorurteile.

„Ihr betet ja die Sonne an,“ meint dann Goran, der Moslem, provozierend, fast wütend. „Nein, wir beten sie nicht an. Sie ist ein Symbol“, korrigiert der Jeside Onur leise, aber kämpferisch. „In der Sonne, im Sonnenlicht lebt das Gute, lebt die Heiligkeit des Gottes. IHN verehren wir in der Sonne. Und was ist mit eurer Sure 91, Ash–Shams, der Sure der Sonne? , wenn es heißt: 'Bei der Sonne und ihrem Morgenglanz…' ?“ – „Das ist etwas ganz Anderes! Das ist ein Lobpreis Allahs durch die ganze Schöpfung – Sonne, Mond, Erde, Seele des Menschen. Die Sonne wird nicht angebetet!“ – „Ja siehst du, bei uns auch nicht. Und wir sind auch keine Teufelsanbeter!“ 

Dann vergessen beide ihre Umgebung, verschwinden in einer Sprachwolke aus Kurdisch und Arabisch in einem kämpferischen Disput, bei dem ich nichts mehr verstehe. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung zeigt die tiefe existentielle Betroffenheit beider. Immer wieder schweigen sie. Und immer wieder schauen sie sich groß und fragend an. Alle drei hängen wir in den Schweigepausen unseren Gedanken nach.

Die Sonne als Symbol des Göttlichen gibt es auch im Christentum. Mir fallen die vielen Darstellungen aus der Frühzeit des Christentums ein: Christus als „sol invictus“, als siegreiche, segensreiche, Licht und Wärme ausströmende Sonne, dargestellt im Strahlenkranz und mit Sonnenpferden als Gespann, das über den Himmel zieht. Kirchenlieder wie „Morgenglanz der Ewigkeit“ oder „Sonne der Gerechtigkeit“ – und viele andere – besingen im Bild der Sonne den Offenbarungsglanz und die Herrlichkeit des Göttlichen. Wenn van Gogh in seiner Darstellung der Auferweckung des Lazarus Christus nicht als Person, sondern als machtvoll strahlende aufgehende Sonne darstellt, haben wir das gleiche Phänomen.

Zwei junge Männer, der gleichen Ethnie, wenn auch aus verschiedenen Staaten und Religionen, begegnen sich in der Fremde, im Exil.

Nach extremen Fluchtwegen, in völliger Ungewissheit in Bezug auf Leben und Zukunft, nach Erfahrungen von Hoffnungslosigkeit und Todesangst, nach Trennung von allem Bisherigen – Familie, Sprache, heimatlicher Landschaft, Kultur, einem tragenden Alltagsleben – begegnen sie sich hier in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie reden, reden, brausen auf, aber hören sich auch zu, werden sehr nachdenklich, nehmen sich anfänglich wahr -– im Trennenden und im Verbindenden. Sie haben einander ins Gesicht geschaut.
Wir gehen aus dem Raum – ein wenig verändert, alle Drei.

Zwei Zitate jüdischer Philosophen fallen mir ein:

»Im Angesicht des Menschen zeigt sich die Spur, die Gott hinterlässt.« 

(Emanuel Levinas)

»Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«

(Martin Buber)
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Ein paar Kurzinformationen zum Jesidentum (auch Yesiden, Eziden geschrieben):

Weltweit gibt es etwa eine Million Jesiden. Über die Hälfte von ihnen befindet sich auf der Flucht oder lebt in verschiedenen Ländern im Exil, ca. 100.000 in Deutschland. Ihre Heimatländer sind der Irak, Syrien, der Iran und die Türkei. Ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit traten die Jesiden durch den Genozid, den der IS 2014 an ihnen beging: Männer wurden getötet, junge Männer und sogar Kinder für die IS-Armee rekrutiert, Frauen und Mädchen vergewaltigt und versklavt. Nadia Murad, eine junge Jesidin, die aus Vergewaltigung und Sklaverei fliehen konnte, setzt sich seitdem für die tausenden von Frauen und Mädchen ein, die sich noch in der Gefangenschaft des IS befinden. Die Regisseurin Düzen Tekkal, Deutsche und Jesidin, hat mit den Bildern ihres Dokumentarfilms „Háwar, mein Reise in den Genozid“ diesen Völkermord im 21. Jahrhundert dem Gewissen der Weltöffentlichkeit eingeprägt.

Das Jesidentum ist eine sehr alte monotheistische Religion, etwa 2000 Jahre älter als das Christentum. Es enthält u.a. Elemente des Feuer- und Lichtkultes des Zoroastrismus. Für die Jesiden gibt es keine Heilige Schrift. Die Grundlagen dieses Glaubens werden von Mund zu Ohr durch Geistliche, Pirs und Sheichs genannt, weitergegeben. Jesiden glauben an Einen allmächtigen Gott, aber nicht an das Böse als eine eigenständige Widersachermacht. Das widerspräche der Allmacht Gottes. Der Mensch sei selbst verantwortlich für sein Handeln, denn Gott habe ihm zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu denken und die innere Stimme des Gewissens gegeben. Damit habe er die Möglichkeit, den richtigen Weg zu finden.

Die jesidische Religion kennt keine Missionierung und ist tolerant gegenüber anderen Religionen. In einem ihrer Gebete heißt es: „Gott schütze die 72 Völker und auch uns.“




(erschienen in der April-Ausgabe der Zeitschrift Die Christengemeinschaft)