Alexander Dugin steht im Nachthemd im Vorgarten und erklärt mir den Okkultismus

Können diese Augen lügen?
Frau Brings steht seit gestern Abend im Vorgarten im Blumenbeet in ihrem Nachthemd. Aber, freilich, Frau Brings aus dem Dorf, ist vor zwanzig Jahren gestorben, nachdem sie, dement und verwirrt, oft im Nachthemd durch das Dorf geeilt war- orientierungslos. Freilich war sie der Pflegerin gegenüber so hellsichtig, ihr einen Ableger ihrer Frühblüher abzutreten. Seitdem genießen wir jeden Januar- in der letzten Woche des Monats- die hervorquellende dunkelgelbe Pracht und sagen: Frau Brings lässt grüßen. Freilich, es ist ein Gedenken, das jedes Mal einige Erinnerungen an Frau Brings hervorruft, und man könnte sagen: Sie ist uns in diesem Gedenken nah, ja vielleicht sogar präsent. Es ist kein Visualisieren oder assoziatives Selbst - Suggerieren eines Gespenstes im Nachthemd gemeint.

Genau das aber tut der in anthroposophischen Kreisen so verbreitete naive Realismus. Da werden der „Wesenszoo“ Rudolf Steiners- von Engeln über verschiedene Teufel bis hin zum Doppelgänger, aber auch diverse innere Entwicklungsschritte (nach oben, höher, leibfrei!) im Muster der sensorischen Erfahrung so lange vorgestellt, bis die Einbildungskraft - so weit kann es gehen- womöglich eine „Erfahrung“ vermittelt. Ich gedenke heute also nicht nur der Frau Brings, sondern auch dem Begriff „Naiver Realismus“, den Georg Kühlewind 1981 (1) in mein Bewusstsein gebracht hat: „Wird der naive Realismus, d.i. jeder Realismus, theoretisch überwunden, kann die Intuition des lichtvollen und lebendigen Charakters der Erkenntnisquellen aufgehen. Dieses Gebiet wird dann nicht mehr vorstellbar sein, da unser Vorstellungsvermögen durch das gegebene Erkennen geprägt ist, aber die gedankliche Intuition eines lichteren und lebendigeren Erkennens kann dem Denkenden aufgehen, und damit kann die Suche nach den Methoden beginnen, mit denen die Erkenntnis-, die Bewusstseins- Fähigkeiten erweitert werden können, um das ideell Begriffene zur Erfahrung zu machen.

Allerdings ist die magische Macht der Selbstsuggestion faktisch vorgegeben durch den Vergangenheit- Charakter unseres Denkens selbst - bei dem die Faktizität, nicht die intuitive Dynamik ins Bewusstsein tritt und damit auch das scheinbare „materiell“ und Fertig- Sein der natürlichen Welt um uns herum. Auch deren „Ausdruck“, ihr Willens- und Gefühlscharakter wird so wenig erlebt wie die Dynamik des Denkens selbst. Noch schlimmer, ist mit diesem Zug des Gegenüber- Tretens gegenüber einem objekthaft Erfahrenen das Subjektsein unseres Ego verknüpft- das Ich konstituiert sich am geschlossenen Weltbild und fürchtet eine dynamische, willen- hafte Überschreitung jeder Grenze, die dieses Gefüge infrage stellen könnte. Das Eintreten in ein rein „lebendiges“ Feld, in dem das Ich sich nicht an einem Gegenüber, der Welt der Objekte, konstituieren könnte, ist daher mit Furcht belegt: „In diesem Sinne ist Wahrnehmen ein fortwährendes Grenzerlebnis in seinem undenkbaren, nicht- begrifflichen Teil, dem Element, das Willenscharakter hat. In diesem von außen auf den Menschen einwirkenden „Willen“ ist das „Begriffliche“ zwar auch enthalten, doch noch in lebendiger Form, da es eben noch im Willensmäßigen ist. Der Willenscharakter des Schöpferwortes „Es werde“ lebt in dem Wahrnehmen als Wille und zugleich als Idee von übermenschlichem Maß weiter.“ (2)

Und ja, die neuen Zeiten machen es nicht einfacher. Wo ist deine Existenz geblieben? Du hast dir das Alter anders vorgestellt. Die neuen Nachbarn kennst du nicht mehr, sie haben ihre Freunde bei Instagram, deine Ex- Frau wischt sich durch Tinder und sucht athletische Männer, deine Kinder leben in weit entfernten Städten und Ländern und gehen Berufen nach, von denen du nicht wusstest, dass sie existieren, deine Sprüche und Belehrungen will niemand hören, dein Job wird jetzt von einer 24jährigen Praktikantin mit Smartphone gemacht, dein Auto, das du noch 8 Jahre abbezahlen musst, ist schon ein digitaler Dinosaurier und deine Wohnung sinkt laut Immobilienscout jedes Jahr 3,5% im Wert. Deine Straße wird jetzt bewohnt von langbärtigen Hipstern und Flüchtlingen aus weit entfernten Bürgerkriegen, aber auch jungen Leuten, deren Augen merkwürdig glasig wirken. Dein Supermarkt ist ins Internet verzogen und dein Fahrkartenautomat spricht eine merkwürdige Symbolsprache. Ist es ein Wunder, dass du dich innerlich in die Phalanx der Abgehängten und Frustrierten einreihst? Ist es ein Wunder, dass dein naiver Realismus eine universelle Verschwörung gegen dich produziert und du denen folgst, die deinem angeschlagenen Ich noch ein wenig Nahrung gönnen? Etwas spirituelle Erklärung? 

Nein, von Engeln und Dämonen will der moderne naive Realist nichts mehr hören, so wenig wie von Gespenstern und Frau Brings im Vorgarten. Das postmoderne Ich sucht den ganz großen Endgegner, deine Wut sucht die Revolte gegen die globalen Eliten, die demokratischen Spielregeln haben versagt, die neuen Propheten sind smarte Welterklärer. Was willst du noch im CDU- Ortsverein, wo früher die schweren, bierlastigen Dickschiffe dominierten? Auf nichts mehr ist Verlass. Heute sitzt da ein 30jähriger Milchbart und diskutiert die Flüchtlingsquoten. Nein, da gehst du lieber dorthin, wo es noch klare Kante und eindeutige Stellungnahmen gibt- sagen wir, zur AfD oder in den anthroposophischen Zweig. Dort wird dir noch erklärt - wie hier auf der Tagung „Terror, Lüge und Wahrheit“ (3), wie die Welt wirklich tickt, und zwar von kompetenten Menschen wie Dr. Daniele Ganser, Elias Davidsson, Thomas Mayer (der ein echter „Europäer“ ist) und natürlich dem unvermeidlichen YouTube- und Waldorfstar Ken Jebsen. Hier werden dir die verdeckte Kriegsführung der westlichen Eliten, Kinderpornografie, verdeckter Staatsterrorismus (was man früher Demokratie nannte) und 9/11 erklärt. Dein angeschlagenes Ego kann aufatmen, deine Wut kann verrauchen, Frau Brings steht mit einem Erzengel im Vorgarten und dein Weltbild ist immer noch in Ordnung.

Im Ernst: Der naive Realismus ist mit dem Übergang ins digitale Zeitalter, in dem die Sicherheit, Gewissheiten, die Kontinuität der Lebensentwürfe und der Moral aufgelöst werden, zur bestimmenden Macht geworden. Freilich sind die eigentlichen Okkultisten, die den „Wesenszoo“ der geistigen Welt beschwören, selbst auch irrelevant geworden. Inflationär dagegen drängen die Erklärer der angeblich okkulten, verborgenen politischen Kräfte *hinter* den Phänomenen in den Vordergrund- zumal der politische Trend genau auf dieser Soros-Clinton— Welle reitet- eine kaum verbrämte postmoderne Variante des Antisemitismus, angereichert mit Narzissmus, Nationalismus, Fremdenhass, anti- demokratischen, anti- elitären und autoritären Strukturen. Der eigentliche Star der neuen Polit- Okkult- Stars ist natürlich Alexander Dugin, der sich in jungen Jahren als Schwarzmagier sah und dann zum KGB- Fachmann für praktizierten Staatsstreich entwickelte. Seine Kontakte zur AKP, zu iranischen Extremisten, zur französischen und österreichischen Rechten sind legendär. Die Stars der Neo- Okkultisten folgen ihm und seinen Manövern und fesseln Hunderttausende Follower auf Vorträgen, Seminaren und YouTube- Channels.

Es ist nicht Frau Brings, die bei uns im Nachthemd im Vorgarten steht. Es ist Alexander Dugin.

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1 Georg Kühlewind, Die Diener des Logos, S. 54
2 dito, S. 55
3 http://www.paracelsus-zweig.ch/programm/2018/Plakat_Scala_A2_Terror_6.pdf