Eine Mischung aus Schamlosigkeit und Zynismus


Wozu Okkultismus? Wozu Verschwörungstheorien? Ist die Welt nicht verrückt genug, war sie es nicht selbst vor der sagenhaften Ära Trump? Muss man Shitstorms und Empörungswellen um den Planeten pumpen, wenn die agierenden Persönlichkeiten doch Jahrzehnte lang wie Untote und Zombies die Politik determinieren, während die vernünftigen Stimmen, Parteien und Wähler gerade noch einmal in der letzten Kurve - sagen wir mal zum Beispiel- die Europäische Union retten können? Wie lange wird das noch gut gehen? Geht es schon lange nicht mehr gut? In was für eine verrückte Szenerie sind wir geraten?

Werfen wir nur einen Blick in Michael Days Biografie „Being Berlusconi: The Rise and Fall from Cosa Nostra to Bunga Bunga“, um den Wahnsinn zu betrachten, der bis heute die italienische - und damit die europäische - Politik unterminiert. Berlusconi war bereits in seinen ersten Investments in Bauprojekten rund um Mailand - bevorzugt auf minderwertigem Boden wie in Sümpfen und am Flughafen- aufgefallen, da nie geklärt werden konnte, woher auch nur ein Cent der Gelder herrührte, mit denen seine kleine Hausbank ihn überhaupt finanzierte: „But already, a great many people had their suspicions. Opaque investments and unexplained circular flows of money through shell companies at home and abroad suggested that Berlusconi was using highly disreputable sources—namely, the Mafia—to kick-start his burgeoning real-estate empire. It was a suspicion that was to grow ever stronger over the coming years.“ Sein Vermögen machte Berlusconi damit, dass er Parlamentarier „überredete“, die Flugrouten des Flughafens so zu verändern, dass das bislang wertlose Land, das er besaß, nun plötzlich nicht mehr überflogen wurde: „He persuaded parliamentarians in the notoriously corrupt Christian Democrat Party …to propose new flight paths that spared Milano 2 residents the worst of the noise..“ Falls Journalisten, Staatsanwälte oder Richter den Geldströmen um Berlusconi zu nahe kommen sollten, wurden sie entweder gekauft oder endeten wie Paolo Borsellino 1992: „The prosecutor was killed by a Mafia bomb two months later.“ (2)


Während sich Berlusconi als Freund der Paten etablierte und sich durch Fußball- Clubs und zunächst private TV- Sender als der landesweit wichtigste Geldwäscher und Investor einen Namen machte, war er geradezu gezwungen, in die Politik zu gehen, um die Kontrolle über das wachsende Imperium zu behalten und durch Immunität der Strafverfolgung zu entgehen, wie seine engsten Mitarbeiter freimütig gestanden: „Sixteen years later Fedele Confalonieri, Berlusconi’s faithful pal, and Mediaset president, was equally frank: “If Berlusconi hadn’t entered politics, if he hadn’t created Forza Italia, today we’d be sitting under a bridge or in prison accused of mafia offences.“

Schon Ende des letzten Jahrhunderts setzte er - wie heute die Populisten der Welt- auf eine Mischung aus Dreistigkeit, Vulgarität und angeblicher Auflehnung gegen „die Eliten“: „In November 1993, Team Berlusconi began setting up the National Association of Forza Italia! (Go Italy!) clubs. The name Forza Italia! was inspired by the chants of supporters of the national football team. A catchy title—even a little vulgar. Crucially, though, it was entirely different from the language of the political establishment that had just imploded.“ Es ist schwer zu glauben, dass dieses primitive Rezept - und die verbreitete Korruption und die Unterstützung durch das organisierte Verbrechen-Berlusconi reichten, um in die höchsten Staatsämter zu gelangen und bis heute der bedeutendste Strippenzieher Italiens zu bleiben. Seine unbestrittene Begabung zum Volkstribun ließ ihn diese Ziele geradezu spielerisch erreichen: „And selling himself to the masses ought to be child’s play.“ Wurden Berlusconis Vertreter, Anwälte und Mitarbeiter tatsächlich der Mafia- Zugehörigkeit überführt, setzte er - mit wachsender Beherrschung der Presse- und TV- Sender- mit inszenierter Empörung auf angebliche Ermittlungsfehler oder ließ die Legitimität der Beweise bezweifeln - eine Strategie, die man wie nach der Uhr getaktet bis heute auch in Russland beobachten kann, zuletzt nach den Giftgas- Anschlägen auf einen russischen Doppelagenten und seine Tochter in England: „More dangerously, rumors grew that magistrates in Palermo might make a move against Dell’Utri because of his mafia ties. Bizarrely, however, Berlusconi was even able to turn this embarrassment to his advantage. When La Stampa printed comments from the left-wing head of the parliamentary Anti-mafia commission, Luciano Violante, confirming that Dell’Utri was indeed officially under investigation for mafia-related offenses, the Berlusconi TV stations howled in outrage that this confidential information had been improperly leaked to hurt the tycoon’s election chances.“ (S. 54)

Berlusconi hatte also bereits vor der Jahrtausendwende die anti- elitäre Gangster- Attitüde einer neuen Politiker- Schicht etabliert, die sich mit Hilfe von Mord, Mobstern und medialen Inszenierungen nicht nur langfristig in der Macht einnistet, sich trotz offensichtlicher Verbrechen jeder rechtlicher Verantwortung entziehen und sogar der Bewunderung, ja Verehrung großer Teile der Bevölkerung sicher sein kann. Die anti- moralische Attitüde wird von Typen wie Berlusconi und Putin geradezu höhnisch öffentlich zelebriert- in einem „mix of cynicism and shamelessness“ (S. 84) So machte Berlusconi einen seiner schwer belasteten privaten Rechts- Berater erst zum Justiz-, dann, als das gerade noch verhindert werden konnte, zum Verteidigungsminister. Ähnlich wie bei Trump verwischen bei Berlusconi private, familiäre und staatliche Grenzen, aber stets zu seinen Gunsten: „No one can tell where the family business ends and where the business of state begins“ (S. 61)

Wie Trump und Putin hatte Berlusconi seinen sagenhaften Aufstieg auch zu seinem finanziellen Vorteil genutzt - letzterer vom Staubsaugervertreter und Vorstadt- Immobilienhändler zum Milliardär: „By 2001 Berlusconi’s empire was well and truly in the black again. And he was a very wealthy man indeed. Forbes magazine estimated that his fortune might now be as high as $14 billion. Not bad for an average Joe who had started his career selling vacuum cleaners.“ Gerade dieses sich aus bescheidenen Verhältnissen mit allen Mitteln an die Spitze kämpfen ist wohl das Element, das viele Anhänger an diesen Gestalten so bewundern. Der Journalist Albert Link schrieb (12.04.2014) in der BILD ganz ähnlich über Wladimir Putin: „Die Familie hauste auf 20 Quadratmetern ohne eigene Küche und Bad. Wladimir, Jahrgang 1952, hatte nach seiner Darstellung gar keine andere Wahl, als sich auf der Straße durchzubeißen: „Ich war wirklich ein Rowdy, ein Gassenjunge“. Die Autoren seiner Biografie („Aus erster Hand“, Heyne Verlag, vergriffen) überrascht er mit einer drastischen Anekdote:
„Im Aufgang hausten Ratten. Meine Freunde und ich jagten sie immer mit Stöcken. Einmal entdeckte ich eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte. Nun konnte sie nicht mehr entkommen. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich! Sie sprang über die Treppenstufen nach unten. Ich war aber doch schneller und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.“

Mehrfach deutet Putin in dem Buch an, welche Schlüsse er aus diesem Erlebnis gezogen hat. Angst nicht als lähmendes Element, sondern als Mutquelle, wenn man „in die Enge getrieben“ wird – diese Lektion lernte Jung-Spion Putin später auch auf der Geheimdienstschule, ehe ihn der KGB für (eher unbefriedigende Jahre) nach Dresden schickte: „Man muss in Gefahrensituationen angespannt sein, um angemessen reagieren zu können. Das ist wirklich wichtig“, erklärte Putin den Reportern.

Den Gegner überraschen, statt sich in sein Schicksal zu fügen. Sich aufbäumen, wenn der andere mit Aufgabe rechnet..“ So funktionieren Politik- Mythen: Das „in die Enge getriebene“, „abgehängte“ einfache und bescheidene Wesen setzt sich zur Wehr und wird in der Folge autoritärer Staatspräsident. Mit demselben Mythos erklärt Putin jede seiner hanebüchenen Gewalttaten, kriegerischen Handlungen und verbrecherischen Handlungen des russischen Staatsapparats. Es funktioniert.

Aber es funktioniert auch nicht. Zumindest zahlen Leute wie Putin, Trump und Berlusconi durch ihre massiven Persönlichkeitsstörungen. Während Donald Trumps Narzissmus geradezu sprichwörtlich geworden ist, ist Putin von obsessiver Rachsucht geprägt, die erst durch physische Vernichtung von lebensfrohen Herausforderern wie Boris Nemzov (3) gestillt wird- immer wieder, selbst wenn es ihm selbst schaden könnte. Bei Berlusconi hat seine infantil- sexuelle Obsession, die so eindeutig und vielseitig dokumentiert ist, zumindest seiner Karriere nur vorübergehend geschadet. Als dieser Skandal im Sommer 2010 durchsickerte, sah es so aus, als würde es sich um einzelne Sex- Partys mit jungen, teilweise minderjährigen Prostituierten handeln: „It was during these four interrogations that El Mahroug told prosecutors that the prime minister regularly held X-rated soirees at his principal home, Villa San Martino in Arcore, just outside Milan. El Mahroug also introduced them to the exotic phrase “bunga bunga,” which they learned referred to a sort of extreme lap-dancing competition with added groping, in which the lucky winner or winners got to sleep with Berlusconi. Participants referred to their host as “Papi,” the term of endearment used by Noemi Letizia“ (S. 144).

Aber „Papi“ ließ durch ein System von hochrangigen Zuhältern und Zuträgern in Italien viele junge Frauen in seine weitläufigen Anwesen und Villen transportieren, um sich in einem bizarren, post- cäsarischen Kult von ihnen phallisch verehren zu lassen, wobei auch Drogenhändler in die Organisation des Frauenhandels involviert und hochrangige Personen als Gäste geladen waren: „The flow of leaked wiretaps continued to undermine what little credibility he had left. In mid-September details of his conversations with the seedy Bari businessman Giampaolo Tarantini were splashed in the newspapers. Tarantini, a convicted cocaine dealer, had supplied starlets and hookers for dozens of the mogul’s parties. At first, magistrates suspected the drug-dealing pimp had attempted to blackmail the prime minister. Subsequently, their inquiries would focus on the suspicion that Berlusconi had, in fact, bribed Tarantini to lie about the prostitute ring in which they were both involved.“ (S. 165)

Der cäsarische Ego- Kultus wurde von Berlusconi in Räumen vollzogen, in denen Plakate an den Wänden hingen, auf denen ihm selbst langes Leben gewünscht wurde. Den involvierten Gästen und Prostituierten war die Nutzung von Kameras nicht verboten. Eine Zeugin (S. 148) beschreibt den typischen Vorgang so: „After the umpteenth obscene joke, Berlusconi brings in a statue, it’s in a kind of case. From it emerges a little man with a huge penis. The statuette is the size of a half-liter bottle of water. Its penis is disproportionately big. Berlusconi begins passing it around among the girls. And he asks them to kiss the penis. They kiss it and simulate oral sex with it, or they approach him with bared breasts. They all laugh. Ambra and I don’t take part in indecent games. The girls, visibly happy, start to approach the prime minister, they make him kiss their breasts and they touch him … they do the same with Emilio Fede. At a certain point, the prime minister, visibly content, asks: “Are you ready for bunga bunga?” The girls shout together: “Yessss!!!” Ambra and I didn’t know what bunga bunga was, even if the statue gave it away. I felt agitated and unwell.“

Aber Berlusconi wäre nicht Berlusconi, hätte er letztlich nicht auch diesen Skandal um sein desolates Ego überwunden: ganz gleichgültig, wie lächerlich sich diese Figur auch macht, wie komisch er in seiner krankhaften Besessenheit wirkt. Dergleichen ficht diese Leute gar nicht an- diese Unberührbarkeit scheint es eben möglich zu machen, dass sie einfach nicht zu belangen sind. Viel unheimlicher als die Frage, was diese Typen - Putin, Berlusconi, Trump - so langlebig, obsessiv und machtbesessen macht, ist die, was Anhänger, Wähler, Völker an dieser Leere anziehend finden mögen. Das Vertrauen in und die Liebe zu solchen schwarzen Löchern mit ihren Verbindungen zum organisierten Verbrechen bleibt einfach ein Rätsel, das im Raum steht wie ein unheilbares Geschwür.
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1 Michael Day: „Being Berlusconi: The Rise and Fall from Cosa Nostra to Bunga Bunga“
2 Grund für den Auftragsmord an Borsellino war vielleicht der, dass er Berlusconi zu dicht auf den Fersen war: „..the murdered anti-mafia magistrate Paolo Borsellino gave to two French journalists. In that testament, filmed just two months before he was killed by a Cosa Nostra bomb, Borsellino referred to Palermo investigators’ interest in the links between Berlusconi, Dell’Utri and the Mafia. Remarkably, the magistrate’s interview was never deemed important enough to merit prime-time broadcast on any of the major channels.“ (S. 102)
3 Dokumentation zu Nemzow bei ARTE: https://youtu.be/f4cJob-pkdI