Mission accomplished?

 Über die Meta-Ebene der Fake-News

 Ingrid Haselberger




Quelle


Vor kurzem hat Michael Eggert auf eine sehr aufschlußreiche Dokumentation der New York Times aufmerksam gemacht. Es handelt sich um drei jeweils etwa viertelstündige Videos (1), in denen einer sehr speziellen Spielart der „aktiven Maßnahmen“ (активные мероприятия) des russischen Geheimdienstes nachgegangen wird – von der Zeit des Kalten Krieges bis zum heutigen Tag.
Dabei geht es um gezielte Desinformation.
Über 15.000 KGB-Mitarbeiter in der ganzen Welt verbrachten jahrzehntelang ungefähr ein Viertel ihrer Dienstzeit damit, sich Dinge auszudenken, die wir heute als fake stories bezeichnen würden. Am Ende eines jeden Jahres wurden sie danach beurteilt, »how many proposals for disinformation operations they submitted« - wieviele Vorschläge für Desinformations-Kampagnen sie einreichten.

Die aktivnye meroprijatija des KGB hatten ein klar definiertes Ziel, wie ein ehemaliger KGB-Agent schildert: »to change the conception of reality of every American – to such an extent that, despite of the abundance of information, no one is able to come to sensible conclusions in the interest of defending themselves, their families, their community and their country.« (die Wirklichkeitsauffassung jedes einzelnen Amerikaners zu verändern – so sehr, daß trotz einer Überfülle von Information niemand zu vernünftigen Erkenntnissen kommen kann im Interesse der Verteidigung seiner selbst, seiner Familie, seiner Gemeinschaft und seines Landes.)

Im Vergleich dazu erscheint die altmodische Strategie, ganz bestimmte Lügen zu erzählen, damit sie geglaubt werden, geradezu naiv.
[Allen Whataboutisten (2) sei zudem das TIMEOUT im zweiten Video anempfohlen (3.26).]

Ende 1987 kam eine der dreistesten Lügenkampagnen, die Operation Infektion (3), ans Licht: Unter Präsident Reagan trug eine kleine Forschungsgruppe Informationen zusammen, die in einem Bericht des US Department of State veröffentlicht wurden. Diese Dokumentation fand ihren Weg in den Kreml. US-Außenminister Shultz war dabei, als Michail Gorbatschow sie las: »[I said to him:] You are spreading all this bum dope about AIDS and the United States pushing it! And I said, Come on! - So we had a good heated exchange. And there is nothing wrong with that!« (4)
(etwa: »[Ich sagte zu ihm:] Sie verbreiten all diesen Quatsch über AIDS, und daß die USA das in die Welt setzen! Und ich sagte: Also wirklich! – Und so hatten wir einen guten hitzigen Meinungsaustausch. Das ist schon in Ordnung!«)

Gorbatschow konnte die Richtigkeit der Dokumentation nicht leugnen - und er leugnete sie auch nicht. Tage später geschah das Undenkbare: Gorbatschow entschuldigte sich bei Präsident Reagan, und die Verbreitung der Behauptung, AIDS sei Ergebnis gescheiterter US-amerikanischer Biowaffenforschung und werde absichtlich in andere Länder verbreitet, wurde endgültig eingestellt (die Nachwirkungen (5) allerdings dauern bis heute an...).

Wenige Jahre später kam der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und schließlich der Zerfall der Sowjetunion – und man glaubte, auch diese spezielle Art der »активные мероприятия« würde nun der Vergangenheit angehören. 1991 wurde der KGB aufgelöst.
Aber Teile davon existierten weiter: die gesamte Infrastruktur (mit Ausnahme der Abteilung für Auslandsspionage) wurde vom neugegründeten FSB, dem „Föderalen Dienst für die Sicherheit der Russichen Föderation“, übernommen.
Und wie gesagt: 15.000 KGB-Agenten hatten viele Jahre lang ein Viertel ihrer Arbeitszeit damit verbracht, sich fake stories auszudenken… darunter auch ein Mann, der 1975 in den KGB eintrat, und dessen Karriere 1991 zu Ende zu sein schien.
Doch nach ein paar Jahren (1998) war er wieder zurück – zunächst als Direktor des FSB, schon ein Jahr später als Ministerpräsident Rußlands, und seit 2000 als Staatspräsident der Russischen Föderation, der er – nach einem kurzen Zwischenspiel abermals als Ministerpräsident – bis heute geblieben ist: Wladimir Putin.
Der russische Präsident, so heißt es in der Dokumentation, testete neue fake stories zuerst einige Jahre lang im Inland, an der russischen Bevölkerung.
2005 wurde dann Russia Today (heute: RT) gegründet, der von Rußland finanzierte Auslandsfernsehsender – um »eine alternative, unkonventionelle Sichtweise« (6) zu präsentieren.
2013 entstand die Агентство интернет-исследований, die Agentur für Internet-Forschung — zu deutsch auch gern Troll-Fabrik (7) genannt.

In seiner Rede zur Lage der Nation im April 2005 bezeichnete Putin den Zerfall der Sowjetunion 1991 als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« (8).
Sein Ziel ist es ganz offensichtlich, die russische Föderation wieder groß und mächtig zu machen. Das gelingt am einfachsten, indem man die übermächtig scheinende westliche Welt in kleine Teile zerspaltet (9). In der angestrebten neuen Weltordnung wäre Rußland ein ernstzunehmender großer Player.

Ich denke an die »multipolare Weltordnung«, von der Aleksandr Dugin an zwei Abenden im Jänner dieses Jahres in Wien (10) immer wieder gesprochen hat, und an seine Vierte Politische Theorie, deren größter Wert die Freiheit ist, allerdings, so Dugin, »eine vom Ethnozentrismus verliehene Freiheit, die Daseins-freiheit, die Kulturfreiheit, die Gesellschaftsfreiheit und die Freiheit zu allen Subjektivitäten - außer der eines Individuums.«

Was mich an diesen beiden Abenden besonders beeindruckt, geradezu frappiert hat, das war das mangelnde Unrechtsbewußtsein im Zusammenhang mit den sich seither immer deutlicher erhärtenden Vorwürfen, Rußland habe über das Internet via Social Media die amerikanischen Wahlen beeinflußt.
Im Gegenteil: das Internet bezeichnete Dugin als einen »Raum, der niemandem gehört«; die Möglichkeit, hier nach Gutdünken zu manipulieren, als »на́ша гла́вная служба«, unsere Hauptwaffe – und mit einem gewissen Stolz erklärte er, die Ausführung von Putins Idee, »in die amerikanische Wahl zu gehen«, sei »virtuelle Geopolitik« und »unsere legitime Reaktion auf die Angriffe der Alantisten«.

Freilich, das Motto Der Zweck heiligt die Mittel ist nicht gerade neu.
Aber diejenigen, die nach diesem Motto handeln, wissen doch normalerweise um das Unrechte gewisser Mittel; sollen solche Mittel dennoch angewendet werden, so bedürfen sie der scheinbaren „Heiligung“ durch einen „edlen Zweck“, weil sie an und für sich eben das Gegenteil von „heilig“ sind. Es gibt hier also ein Unrechtsbewußtsein. Und man versucht eine Rechtfertigung, indem man (der Welt und wohl auch sich selber) erklärt, warum ein bestimmtes Mittel trotz seiner eigentlichen Unrechtmäßigkeit in einem speziellen Fall ausnahmsweise dennoch ergriffen wurde – um so wenigstens den Anschein der Rechtmäßigkeit wahren.

Bei Dugin aber hatte ich in keinem Augenblick den Eindruck eines Bewußtseins für die eigentliche Unrechtmäßigkeit dieses Mittels, sondern es schien mir, als gäbe es in ihm dafür überhaupt kein Empfinden: Lüge, Wahrheit, was macht das schon für einen Unterschied, darauf kommt es doch nicht an...

Vor kurzem las ich bei Rudolf Steiner etwas, das für mich Licht in diese Angelegenheit bringt:

»Sehen Sie, eine der Haupteigentümlichkeiten des Ahriman ist diese, daß er eigentlich jenes unbefangene Verhältnis, das der Mensch, wie er hier auf der Erde lebt, zur Wahrheit hat, gar nicht kennt. Ahriman kennt dieses unbefangene Verhältnis zur Wahrheit nicht, wo man anstrebt, Wahrheit einfach als Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer Objektivität zu haben. Das kennt Ahriman nicht. Darum ist es ihm gar nicht zu tun. Durch die ganze Stellung, die ich ja schon öfter charakterisiert habe, die Ahriman hat im Weltenall, ist es ihm wirklich höchst gleichgültig beim Bilden einer Vorstellung, ob diese übereinstimmt mit der Wirklichkeit. Ihm, Ahriman, handelt es sich bei alledem, was er für sich als Wahrheit - wir würden es im menschlichen Zusammenhang nicht Wahrheit nennen -, aber was er für sich als Wahrheit ausbildet, immer um Wirkungen. Es wird nicht etwas gesagt, um mit etwas anderem übereinzustimmen, sondern um zu wirken. Dies oder jenes wird gesagt, damit es diese oder jene Wirkungen hervorbringt.«
(GA 170, Dornach, 28.8.1916)

Damit sind meines Erachtens die активные мероприятия trefflich beschrieben:
Es geht nicht um den Inhalt dessen, was man sagt (oder tut), es geht nicht einmal um wenigstens oberflächliche Plausibiltät (und schon gar nicht um Legitimität) – es geht ausschließlich um die beabsichtigte Wirkung. Wobei oftmalige Wiederholung die Wirkung natürlich steigert...

»Putins Idee, in die amerikanischen Wahlen zu gehen«, wie Aleksandr Dugin es formuliert hat, war von Erfolg gekrönt:
»Now the threat is coming from inside the White House«, wie es in der Dokumentation heißt – Jetzt kommt die Bedrohung aus dem Inneren des Weißen Hauses.
Und Donald Trump wird geradezu als »President Disinformation« bezeichnet: nicht nur, daß er wirkungsvolle fake stories sofort über Twitter verbreitet – er erfindet obendrein seine eigenen. So jemanden hätte sich der KGB damals nicht einmal träumen lassen.
»It’s worse than the Cold War: it was Us versus Them. Now it is Us versus Them, and Us versus Us.« (»Es ist schimmer als der Kalte Krieg: damals hieß es Wir gegen Sie. Jetzt heißt es Wir gegen Sie, und Wir gegen Uns.«)


Dem erklärten Ziel des KGB, den Wirklichkeitsbegriff so zu verändern, daß trotz einer Überfülle von Informationen nichts dabei herauskommt, das vernünftig handlungsleitend sein könnte – diesem Ziel scheint man heute nicht nur in Bezug auf jeden einzelnen Amerikaner, sondern weltweit sehr nahegekommen zu sein.
Mission accomplished, wie man so schön sagt.

Wie einer der für die Dokumentation interviewten ehemaligen KGB-Agenten  es formuliert:
»Fighting war on a battlefield is the most stupid and primitive way of fighting a war. The highest art of warfare is not to fight at all, but to subvert anything of value in your enemy’s country. Anything! Put white against black, old against young… wealthy against poor, and so on... As long as it cuts the moral fibre of a nation, it’s good.
And then you take the country. When everything is subverted, when the country is disorientated and confused, when it is demoralized and disstabilized, then the crisis will come…«
(»Auf einem Schlachtfeld zu kämpfen, ist die dümmste und primitivste Art, Krieg zu führen. Die höchste Kriegskunst ist, überhaupt nicht zu kämpfen, sondern alles im Land des Feindes, das irgendeinen Wert hat, zu verderben. Alles! Setze weiß gegen schwarz, alt gegen jung... reich gegen arm, und so weiter... Wenn es das moralische Gewebe einer Nation zerschneidet, ist es gut.
Und dann nimmst du das Land. Wenn alles zerstört ist, wenn das Land desorientiert und verwirrt ist, demoralisiert und destabilisiert, dann wird die Krise kommen...«)


Es wird Zeit, daß wir uns an die Wiedergewinnung unserer Werte machen – und an die Wiedergewinnung der Wirklichkeit, als Grundlage für die Umsetzung dieser Werte.

–––

(1) The KGB Spies Who Invented Fake News https://nyti.ms/2z9KHx0
The Seven Commandments of Fake News https://nyti.ms/2Dk4Kfn
The Worldwide War on Truth https://nyti.ms/2DfZadP

(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Whataboutism

(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Infektion

(4) 13.30 im Video 1: https://nyti.ms/2z9KHx0

(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Infektion#Nachwirkungen

(6) https://deutsch.rt.com/uber-uns/

(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Troll-Armee

(8) https://www.zeit.de/2005/17/Putin_Rede

(9) divide et impera – eine uralte politische Maxime:
https://de.wikipedia.org/wiki/Divide_et_impera

(10) siehe meine beiden Berichte:
Ideen für eine Zukunft Europas?
https://egoistenblog.blogspot.com/2018/04/ideen-fur-eine-zukunft-europas.html
und
Der Liberalismus, die „Vierte Politische Theorie“ und das „christliche Europa“ https://egoistenblog.blogspot.com/2018/05/der-liberalismus-die-vierte-politische.html