Opfer- Dag Hammarskjölds politische Mystik

Wie so oft, lässt sich wenig sagen zu Lebensentwürfen, mit denen Menschen sich umgeben, die sie einatmen, die ein Teil ihrer Identität ist. Manche, das ist klar, tun ihnen gut, beflügeln sie, passen ins berufliche und gesellschaftliche Bild- und mit anderen steht man sich selbst im Weg, leidet, ohne es wirklich ändern zu können, an einer toxischen Präokkupation, einer Besessenheit, wider alle Vernunft, ja sogar entgegen der eigenen Einsicht. Manchmal entsteht in diesem Entwurf, der sich oft ja so früh, in der Kindheit oder frühen Jugend, ankündigt, so etwas wie ein biografischer Grundton, der dieses Leben durchzieht, durch alle farblichen Changierungen hindurch, und manchmal hinderlich, manchmal fördern wirkt- wer wollte das auch wirklich beurteilen?

Nun, die Partner tun das, zum Beispiel, die es möglicherweise nicht mehr aushalten, die immer gleichen, eventuell destruktiven, eventuell zwanghaft getriebenen Verhaltensweisen zu ertragen. Urteile sprechen auch, in berühmten Fällen, die Zeitgenossen oder sogar die Geschichtsschreiber aus. Ein solcher Fall war der schwedische UN- Chef Dag Hammarskjöld, der das Amt und die diplomatischen Aufgaben entscheidend geprägt, ja der etwas wie „Reise- Diplomatie“ in Zeiten des Kalten Krieges geradezu erfunden hat. Sein Tod auf einer diplomatischen Aktion in Afrika - ein Flugzeugabsturz - war damals daher ein globaler Schock: „Die Nachricht von Hammarskjölds Tod kam im Laufe des 18. September 1961 über Radio, Fernsehen und Abendzeitungen. Die Tageszeitungen sahen sich genötigt, Extrabeilagen zu drucken..“ (1) In seiner Reisetasche fanden sich: Die Nachfolge Christi von Thomas von Kempen, das Neue Testament, die Psalmen und Martin Bubers Ich und Du. Und natürlich fand man Hammarskjölds berühmtes spirituelles Tagebuch Zeichen am Weg, das posthum erschien und seitdem in seiner Mystik, der individuellen, unkonventionellen Christus- Nähe und dem darin widergespiegelten Opfer- Mythos immer wieder diskutiert worden ist. Manchen erschienen die im Tagebuch vorgetragenen, am Ende gesteigerten, aber stets kryptischen Aussagen zum Opfer wie eine Prophetie in Bezug auf die letzte Mission, bei der sein Flugzeug, was bis heute unklar bleibt, abgeschossen worden sein könnte:

Von sich
Wird er die Jacke werfen
Und mit aufgerissenem Hemd
Sich vor die Mauer stellen
Vor die Gewehre“ (2)

Natürlich hat diese Mystik viele Kritiker gefunden, vor allem auf kommunistischer Seite. Posthum wirkte sein Flug in den Kongo Mut seinen desaströsen politischen und strategischen Fehleinschätzungen wie eine „Verzweiflungstat, mehr von der Angst vor einem würdelosen Abgang getrieben, denn aus mehr oder weniger rationalen Hoffnungen, die Kongo- Krise zu lösen. Hier entsteht der Gedanke, der von vielen Kritikern vorgetragen wurde, dass seine Urteilskraft von religiöser Opfermystik und Träumen vom Märtyrertum getrübt gewesen sei. Andere sind noch weiter gegangen und haben den Generalsekretär beschuldigt, seinen eigenen Tod bewusst in Kauf genommen zu haben.“ (3)

Das kann man hinterher, auch in Kenntnis der posthum erschienenen Tagebücher, leicht so deuten. Vermutlich war die Mission, bei der die Fehleinschätzungen in einem kolossal chaotischen Umfeld, in dem sich Bürgerkriegsparteien und ehemalige Kolonialmächte um Einfluss und um Bodenschätze bekämpften, nicht von Hammarskjöld getroffen wurden, eine schwierige Mission wie andere auch. Der Charakter von Hammarskjölds Grundton - Mystik hatte vielleicht im Amt und im Laufe der Zeit zugenommen, aber das Thema Selbstopfer war bei ihm sei Jugendtagen an vorhanden und dominant.

Hammarskjöld entstammte einer hoch geehrten, überaus einflussreichen schwedischen Adelsfamilie, die sich schon im frühen 17. Jahrhundert gegen das Königshaus positionierte und deren Namen eigentlich ein Adelstitel darstellte- um die Familie durch eine Art frühes Beamtentum in die Belange des Staates einzubinden. Eine ganze Reihe der Nachkommen dieser Familie schafften es dann auch bis auf Staatsrats- Positionen, mindestens aber in leitende Beamtenposten im Dienste des Landes. So war auch Dags Vater eine prinzipientreue, repräsentative Person, allerdings mit unangenehmem Charakter mit anhaltendem „Desinteresse an anderen Menschen“ (4). Der Erwartungsdruck auf die Jungen der Familie entstammte einer Jahrhunderte alten Tradition, bei der eine Formulierung wie „Papa bildet die Regierung“ normal war. Tatsächlich trat der Vater 1914 das Amt des schwedischen Ministerpräsidenten an- um eine „Beamtenregierung“ zu gründen. Während des Ersten Weltkrieges hielt Schweden eine neutrale Position zwischen den Fronten, was allerdings zu Konflikten mit den Alliierten führte. Schweden rutschte selbst in eine Wirtschaftskrise, schon weil die Importe aus dem Westen, was vor allem Getreide betrifft, blockiert waren: Die Neutralitätspolitik von Vater Hammarskjöld ließ das Volk hungern. Man ließ das auch am Sohn, Dag, aus, wie sein lyrisches Tagebuch zeigte: „Ohrfeigen lehrten den Knaben/ dass seines Vaters Name/ ihnen verhasst war.“ (5) diese Situation, für einen unnahbaren, kalten Vater gerade stehen zu müssen, isoliert zu sein und diese Art von Prominenz vor sich her zu tragen, hat Dag Hammarskjölds geprägt. Aber auch der Druck, der auch nach dem Rücktritt des Vaters 1919 auf dem Jüngsten der Söhne lag, der ebenbürtige Leistungen auf der Schule vorzuweisen hatte.

Dags distanziertes Verhältnis zu sexueller Nähe hat immer Spekulationen befeuert („Er senkte den Blick/ nicht zu sehen den Körper/ ihn nicht zu begehren“), ebenso wie seine individuelle Beziehung zu Christus, die er in die Worte fasste, er habe sein ganzes Leben „Verhandlungen mit Gott“ geführt. Aber er hatte die Privilegien, solche Fragen schon als Student mit Personen wie dem Erzbischof Natham Söderblom und anderen prominenten Intellektuellen freundschaftlich zu besprechen, was ihn vielleicht auch zu einem Studium der Philosophie führte. Hammarskjöld war fasziniert von interessanten Denkern, auch wenn sie charismatische Nihilisten - vor allem aber, wenn sie lebhafte Denker und mehrschichtige Personen waren. Trotz allem konzentrierte sich Hammarskjöld auch auf das Studium der Volkswirtschaft und mit konkreten politischen Positionierungen. Er erlebte im Rahmen seiner sozialen gesellschaftlichen Kontakte aber auch international bekannte Schriftsteller, Philosophen und Politiker, der Vater eines seiner engen Wanderfreunde war Chef der Reichsbank. In den Briefen mit diesen Freunden lernt man die Persönlichkeit Hammarskjölds kennen, einen „extrem prüfenden, selbstreflektierenden und Selbständigkeit suchenden Intellekt“ (6)

Neben seinem Studium von Volkswirtschaft, Jura, Wirtschaft und Philosophie interessierte Hammarskjöld auch Literatur, wobei Joseph Conrad, insbesondere mit seiner Figur Lord Jim (und wahrscheinlich den komplexen Charakteren, die ins Dunkel der Nacht und des Dschungels verschwinden), ihn im Inneren berührte, den dieser Jim ist, nach einer langen Geschichte von Fehlern und Versäumnissen im Exil, am Ende bereit, sich selbst auszuliefern und damit zu opfern. Diese Figur bezeichnet Hammarskjöld in seinen Briefen als „einen von uns“- und verteidigt diese Aussage auch, denn er muss anerkennen, dass die Bereitschaft, den „Kampf des Lebens“ (7) bis zur Selbstaufopferung zu bestehen, gleichzeitig eine elitäre Anmaßung sein könnte, die alle diejenigen, für die „that do not count“ gilt, ausschließt.

Für Hammarskjöld war die Selbstaufopferung der klarste Ausdruck seiner Herkunft, seiner Ambitionen und seiner Interpretation des privilegierten Staats- Beamtentums, das seine Familie seit vielen Generationen repräsentierte. Mit Lord Jim im geistigen Gepäck zog Dag Hammarskjöld 1926 in den Klub der Nationalen Wirtschaft in Stockholm ein, wurde 1936 Staatssekretär im Finanzministerium, von wo es in der höchsten Karriere in der schwedischen Staatsverwaltung keine ernsthaften Hindernisse mehr gab. Nach der Wirtschaftskrise arbeitete Hammarskjöld für die Sozialdemokraten, die daran gingen, Schwedens Wirtschaftssystem grundlegend zu reformieren. Dazu gehörten essentielle Fortschritte wie Hygiene in den Wohnungen, bezahlter Urlaub und angemessene Grundschulzeit. Hammarskjöld, der immer wieder als unnahbar und persönlich indifferent geschildert wurde, entwickelte sehr wohl Fürsorge für die Kinder eines verstorbenen Bruders, feierte mit Kollegen und entwickelte lange andauernde Freundschaften, auch in die Zeit hinein, in der er UN- Sekretär wurde. Er war ein absoluter Workaholic, in einer elitären gesellschaftlichen Position, im Verlangen nach einer einzigartigen Karriere, aber auch einer persönlichen „scheu vor der Blöße meines Wesens“ (8), die nicht zu überwinden war. Er verzichtete auf das „Gefühl für das Recht, sich jemandem aufzudrängen“ (8). Während Hammarskjöld in den Kriegsjahren zum Chef des Zentralbankrats ernannt wurde, fand er Erholung in ausgedehnten Wanderungen in Lappland, gern auf unbefestigten Wegen ins Gletschergebiet hinein. Zeltgenossen beeindruckte er gern mit stundenlang frei vorgetragenen Gedichten.

Zwar wurde Schweden nach dem Krieg wegen seiner Neutralität etwas misstrauisch von den Alliierten beäugt, Hammarskjöld mit seiner Bildung war aber als Unterhändler für Wiederaufbau- Pläne in Europa dennoch willkommen. Sehr bald wurde er zum Außenminister berufen, lehnte jedoch ab. Stattdessen wurde er 1951 Außenhandelsminister. Dem folgte 1953 die Ernennung zum Generalsekretär der UN- ein Posten, den Hammarskjöld bis zu seinem Tod glanzvoll und voller Selbstvertrauen ausfüllte.

Zu dem Bild, das wir durch Hammarskjölds „Zeichen am Weg“ kennen, gehört aber auch ein Mehrfaches: Nicht nur Selbstzweifel, sondern Verzweiflung (1951/52): „Unmöglich, wofür ich kämpfe: dass mein Leben Sinn erhalten soll.“ (9) Und zugleich, ganz innerlich, der Wunsch, „für des Lebens lichten Mut ein Flussbett sein“ (10) zu wollen und dabei „nicht auf der Erde (zu) lasten“. Bevor er, nun schon höchster schwedischer Beamter, zur Tätigkeit als Generalsekretär berufen wurde, wurde seine Vorstellung vom Opfer, das bislang doch immer die Karriere- und Elite- Perspektive behalten hatte, endgültig zur Vorstellung, „dass einer sich ganz dem hingibt, was er lebenswert gefunden hat“ (10). Zu diesem Zeitpunkt kommt aber zu diesen Schichten auch eine lange Schilderung der Fußwaschung Christi, auch an diesem Punkt zweifelnd: „Opferte er sich für andere doch um seiner selbst willen- in einer erhabenen Egozentrik? Oder verwirklicht er sich selbst um anderer willen?“ (11) Ebenso hinterfragt Hammarskjöld seine eigene „Klaustrophobie der Seele“, das „Unerlöste beim Machtmenschen“ und lehnt die blasse Interpretation von „Vulgärpsychologen“ (12) ab. Erstaunlich, dass ihn das jugendliche Schwärmen für „Lord Jim“ auch noch Ende 1951 begleitet, ja geradezu die Kraft gibt für den Blick auf die kommenden eigenen Schritte, „wo er zum absoluten Mut gelangt und zur absoluten Demut in absoluter Treue zu sich selbst“ (13).

Das alles ist aber nur der Einklang in eine immer tiefere Mystik, die Hammarskjöld auf die Höhe seiner Karriere als Generalsekretär begleitete, bis hin zum Empfinden, „geweiht“ zu sein, „gebraucht und verbraucht zu werden, nach deinem Willen“ (14). Und er erkennt auch an, dass es das „Erleben der religiösen Wirklichkeit“ ist, die die Schattenseiten, ja die „Nachtseite“ des eigenen Wesens „ans Licht bringt“ (15), die er konkret beschreibt als das, was in uns „die Katastrophe begrüßt“, was von der „Niederlage stimuliert“ (15) werde. Natürlich spielt der Karrierist selbst in die Mystik, selbst in die Stunde des höchsten Triumphes, der Ehre und der Aufmerksamkeit wieder mit hinein. So stellt er sich auch noch wenige Jahre vor seinem Tod die Frage nach dem „Erfolg - zur Ehre Gottes oder zu deiner eigenen, für den Frieden der Menschen oder deinen eigenen? Die Antwort entscheidet über den Ausgang deines Strebens.“ (16)

Noch einmal findet er im Sommer 1959 eine innere Vertiefung im Sinne eines Einklangs, eines Friedens: „Im Zentrum unseres Wesens ruhend, begegnen wir einer Welt, in der alles auf gleiche Art in sich ruht. Dadurch wird der Baum zum einem Mysterium, die Wolke zu einer Offenbarung und der Mensch zu einem Kosmos, dessen Reichtum wir nur in Bruchteilen erfassen.“ (17)

Zwischen belgischen Söldnertruppen, von der CIA bezahlten Koalitionen um Mobutu, rhodesischen Fremdenlegionären, in der brütenden Hitze Leopoldvilles, schwersten Vorwürfen der westlichen Welt bezüglich seines UN- Einsatzes, einem wütenden britischen Außenminister, scheiterte Hammarskjöld in seinen Versuchen, mit den lokalen Matadoren zu verhandeln. Es gab, wie so oft in diesen UN- Missionen, kaum Perspektiven und praktisch keine Hoffnung. Auch diesmal hielt das Hammarskjöld nicht im geringsten auf. Aber diesmal stürzte er wirklich ab: „Dag Hammarskjölds Körper wies als einziger keine Verbrennungen auf. Er lag rein Stück vom Flugzeug entfernt in der Nähe eines Busches mit einem Grasbüschel in der Hand friedlich auf dem Rücken.“ (18)


-----------anmerkungen, verweise


1 Henrick Berggren, Dag Hammarskjöld, Das Unmögliche möglich machen. Die Biografie. Urachhaus, Stuttgart 2017, S. 207 
2 dito S. 204
3 dito S. 204
4 dito S. 21
5 dito S. 32 Man nannte den Vater im Volk „Hungerskjöld“
6 dito S. 46
7 dito S. 53
8 dito S. 72
9 diro S. 89
10 Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, München/ Zürich 1965, S. 64f
11 dito, S. 67
12 dito, S. 70
13 dito, S. 76
14 dito, S. 109
15 dito, S. 130
16 dito, S. 131
17 dito, S. 150
18 Berggren, S. 218