Rudolf Steiners wilde Berliner Jahre

Aus: Emil Bock, Gestalten im Umkreis Rudolf Steiners in Berlin vor der Jahrhundertwende in: Rudolf Steiner Stuttgart 1967/2

Diese einmalige, farbige Schilderung Emil Bocks wurde von mir bei weniger relevanten Aspekten und bei offenkundig moralisierenden Einschüben Bocks etwas gekürzt und in die neue deutsche Rechtschreibung transponiert. Das Ganze soll natürlich ein Beitrag sein, um die weniger bekannten Seiten Rudolf Steiners kennen zu lernen- oder daran zu erinnern, dass das Abziehbildchen des idealisierten Lehrers nur einen Aspekt darstellt.


"Als Rudolf Steiner den Schritt von Weimar nach Berlin tat, ging sein Schicksal und sein Werk nicht einfach gradlinig weiter. In Weimar waren die wichtigen Bücher entstanden, voran die "Philosophie der Freiheit", dann das, was sich auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften bezog und schließlich noch "Goethes Weltanschauung". Wir stellen uns nur allzu oft vor, dass dann das schöpferische Vorwärtsschreiten ganz von selbst übergegangen sei zu den eigentlichen geisteswissenschaftlichen, der okkulten Strömung angehörenden Büchern. In Wahrheit liegt aber eine außerordentlich dramatische Zäsur dazwischen. Es ist ja paradox, dass der große Schritt, den wir als einen Durchbruch bezeichnen können, und der dann seinen ersten Niederschlag in dem Buche "Das Christentum als mystische Tatsache" findet, dass dieser Schritt zu einem neuzeitlichen christlichen Okkultismus, zu einer neuzeitlichen Christus -Verkündigung nicht an den stilleren Plätzen wie Wien und Weimar, sondern in dem Hexenkessel der Großstadt Berlin stattgefunden hat. Aber dahinter sind noch viele Schicksalsmysterien verbergen. Nicht umsonst sprach Rudolf Steiner selber von der "schweren Prüfung", die ihm das Schicksal in der Zeit zwischen Weimar und der Entstehung des Buches "Das Christentum als mystische Tatsache" auferlegt hat.

"Was damals im Anschauen des Christentums in meiner Seele vorging, war eine starke Prüfung für mich. Die Zeit von meinem Abschiede von der Weimarer Arbeit bis zu der Ausarbeitung meines Buches Das Christentum als mystische Tatsache' ist von dieser Prüfung ausgefüllt. Solche Prüfungen sind die vom Schicksal (Karma) gegebenen Widerstände, die die geistige Entwicklung zu überwinden hat."

Der Weg hat durch reiches Land und auf Höhen geführt, der Blick auf den Gipfel wird schon frei, dann aber, nahe vor dem letzten Aufstieg, tut sich eine tiefe Kluft auf, die zu überschreiten ist.

Der Milieuwechsel, der für Rudolf Steiner mit dem Übergang nach Berlin verbunden ist, kann gar nicht krass genug vorgestellt werden. Über zehn Jahre lang konnte der junge Rudolf Steiner schöpferisch heranwachsen in dem einheitlichen geist- dramatischen Feld von Wien, wohin sich der Goetheanismus nach Goethes Tod sozusagen geflüchtet hatte. Dann kam die Zeit in Weimar, von der er selber als von der "stillen Oase neben der Welt" spricht, die ihm da gehörte. Jetzt auf einmal der Übergang nach Berlin. Berlin ist kein einheitliches Gebilde. Es ist das Zentrum des königlich-kaiserlichen Preußentums und daneben, sozusagen inoffiziell, brodelt dort in vielfältigem Aufruhr eine extreme Weltlichkeit. Die Kreise, in denen das Einschneidende der bevorstehenden Jahrhundertwende gefühlt wurde, waren nicht die offiziellen Kreise. Diese waren auf ihre Reputation stolz. Aber das andere Volk war erfüllt von der dramatischen Gärung, von dem Heranbranden eines ganz neuen Ozeans an die Ufer der Menschheit.

Rudolf Steiner tritt in ein sehr vielfältiges Leben in Berlin ein. Ich kann heute nur einen kleinen Ausschnitt umreißen und nur das ganz extrem unbürgerliche Milieu zu schildern versuchen, in das Rudolf Steiner durch seine Zusammenarbeit und Freundschaft mit Otto Erich Hartleben hineingezogen wurde. Das war der Kreis um die "Freie literarische Gesellschaft", mit der ja auch die "Freie dramatische Gesellschaft" und der "Verein zur Förderung der Kunst" verbunden waren, und deren Organ die Zeitschrift "Das Magazin für Literatur" war. Rudolf Steiner übernahm ja sogleich im Sommer 1897 die verantwortliche Leitung dieser Zeitschrift. (...)

Im "Lebensgang" hält Rudolf Steiner es für notwendig, etwas Begründendes zu sagen, warum er auf jenen so ganz unbürgerlichen Lebenskreis von Otto Erich Hartleben eingehen musste. Er war ja in Berlin doch auch mit mancher bedeutenden Persönlichkeit in den Kreisen der offiziellen Wissenschaft und Philosophie befreundet - es seien nur Herman Grimm und Eduard von Hartmann genannt -, aber er muss sich für eine andere Gruppierung entscheiden.

"Es ergab sich als etwas Selbstverständliches, dass ich nach meiner Übersiedlung nach Berlin... in dem Kreise verkehrte, der mit Otto Erich Hartleben zusammenhing... Das brachte mir auf der einen Seite einen großen Schmerz. Denn dadurch wurde ich verhindert, die Menschen aufzusuchen und ihnen näher zu kommen, mit denen von Weimar her schöne Verhältnisse bestanden. Wie lieb wäre es mir auch gewesen, Eduard von Hartmann öfters zu besuchen. All das ging nicht. Die andere Seite nahm mich voll in Anspruch ... Aber ich erkannte das als eine Schicksals- (karmische) Fügung."

Biografie und Bildquelle
Er selbst, so sagt er, hätte sich gerne beiden Kreisen gewidmet, aber "keiner der Kreise hätte auf die Dauer an einer Persönlichkeit irgendwelche Freude gehabt, die abwechselnd mit Menschen verkehrte, die in Bezug auf Seele und Geist polarisch entgegengesetzten Weltgebieten angehörten".

Nun, in den Kreisen des gesetzten, gebildeten Bürgertums hatte man Grund, auf den Kreis um Otto Erich Hartleben mit ganz gewaltiger moralischer Entrüstung herabzuschauen. Wer da verkehrte, war eben nicht salonfähig. So hatte sich Rudolf Steiner damals für einen der beiden Kreise zu entscheiden. Obwohl ihm das rundherum sehr übelgenommen wurde, geriet er in den Kreis von seltsamen Originalen, Sonderlingen, Bummelanten, Nachtschwärmern, Außenseitern der Gesellschaft. Aber da herrscht wirkliche Farbigkeit. Da geht es lebendig zu.

Peter Hille bei Projekt Gutenberg
Um deutlich zu machen, welches der Stil auf diesem Kontinente ist, will ich zu Beginn eine kleine Anekdote erzählen - Otto Erich Hartleben liebte es nicht, abends zu Hause zu bleiben. Er liebte es aber auch nicht, wenn er in seinen Kneipen herumsaß, wieder nach Hause zu gehen. Es war immer schon heller Tag, wenn er den Heimweg antrat. Kein Wunder, dass er dann erst nachmittags aus dem Bett stieg.

Eines Morgens machte er seinen üblichen Weg durch den Tiergarten. Da liegt auf einer Tiergartenbank einer und schläft. Hartleben schaut genau hin: das ist ja ein sehr guter Freund von ihm, nämlich der Dichter Peter Hille. Er geht zu ihm, rüttelt ihn wach und sagt-. "Peter, das geht doch nicht, dass du hier in dem feuchten Tiergarten kampierst. Du hast der Menschheit noch so viel zu geben. Los, geh und such ein Zimmer für dich." - Als sich Peter zum Erwachen durchgerungen hat, sind die beiden los getrottet. Sie mussten allerdings noch den vollen Anbruch des Tages abwarten und vertrieben sich bis dahin die Zeit in einer Wirtschaft, wo die Nachtkutscher herumsaßen. Als dann die Häuser aufgemacht wurden, gingen die beiden in dem Viertel um den Nollendorfplatz herum von einem Haus zum andern, um ein billiges Zimmer zu suchen. Nach langem Suchen fanden sie im 5. Stock eines Hauses ein Zimmer, und Peter Hille träumte schon davon: hier wird die Redaktion einer Weltzeitschrift eingerichtet. Er will gleich los, um den Sack zu holen, in dem seine gesammelten Werke auf Papierschnitzeln enthalten sind, und den er bei Freunden untergestellt hat. Otto Erich zahlt für zwei Monate die Miete im voraus. Beide sind glücklich. Otto Erich hat ein gutes Werk getan, und Peter Hille hat wieder für eine kurze Zeit die Möglichkeit, ein ordentliches Leben zu führen. - Am nächsten Morgen kommt Hartleben ungefähr zur selben Stunde den gleichen Weg durch den Tiergarten, nur dass es regnet. Auf der Bank liegt, wie tags zuvor, Peter Hille. Hartleben wird wütend und schimpft. Da fragt Hille: "Sag mal, hast denn du die Adresse behalten?" Und Hartleben muss zugeben: "Nein, ich auch nicht."

Eine solche Anekdote beleuchtet wohl etwas das Milieu, in welchem dann Rudolf Steiner zwei volle Jahre mit Lebendigkeit darin gestanden hat. (...)

Wer war dieser Otto Erich Hartleben? Er war drei Jahre jünger als Rudolf Steiner. Er stammte aus Clausthal im Harz und war so recht ein Norddeutscher. Wenn er gegen das Preußentum loszog, z. B. in seinem Offiziersdrama "Rosenmontag", kämpfte er eigentlich gegen das Preußentum, das ihm selbst in den Knochen steckte. Das Sich- Losstoßen von aller Bürgerlichkeit war um so heftiger bei ihm, als er eine durch und durch bürgerliche Erbmasse mitbekommen hatte. Er hatte eine geniale Begabung, die Rudolf Steiner anzog und die die Ursache dafür war, dass Rudolf Steiner ausgesprochen gerne mit ihm zusammen war und ihn liebte, wie er im "Lebensgang" sagt. Oft hat Rudolf Steiner, wie die Menschen in seiner nächsten Umgebung erzählten, gesagt. "Wenn ich doch nur so schreiben könnte wie Hartleben!" Er bewunderte das Genialisch-Leichte, Geistreiche, das Hartleben eigen war. Dieser feinfühlige Ästhetiker war ihm in dieser Ausprägung wie ein Neuland, das er kennen lernte. Diese ästhetische Feinfühligkeit war es aber auch, die Hartleben veranlasste, sich von seiner Umgebung immerfort abzustoßen, dagegen Sturm zu laufen. Er verfügte über viel Humor. Die beiden, Rudolf Steiner und Otto Erich Hartleben, haben sich dann ja auch zusammengesetzt und die Serenissimus-Witze erfunden. Aber diese Begabung - das Geniale, das Humorvolle bei Hartleben - hatte doch schwere Schwächen als Begleiterscheinung. Hartleben war eben ohne jede Neigung zu ordentlicher Lebensführung und zu disziplinierter Auswertung seiner Begabung.

Es gab noch einen anderen Menschen, der in Weimar der Verbindungsmann zwischen Otto Erich Hartleben und Rudolf Steiner gewesen war, eine sehr freie Natur: Franz Ferdinand Heitmüller. Der ist aber in Weimar geblieben. Heitmüllers Mutter war mit Frau Eunike befreundet, bei der Rudolf Steiner wohnte. So kam Heitmüller oft in die Wohnung von Eunikes und wurde auch mit Rudolf Steiner, der mit ihm im Goethe-Schiller-Archiv arbeitete, befreundet. Dieser Heitmüller hat sozusagen nur die guten Seiten von Hartleben in sich. Die wilde Seite, die undisziplinierte Seite von Hartleben ist ihm fremd. Er ist eine durch und durch vornehme, edle Natur. Heitmüller hat die erste dreibändige Ausgabe der Werke von Otto Erich Hartleben herausgebracht. Und wie hat er sich der Aufgabe unterzogen, für diese Ausgabe eine biographische Einleitung zu schreiben? Statt einer biographischen Einleitung, in der er auch Kritisches über Hartleben hätte schreiben müssen, hat er als Vorwort das Tagebuch benützt, das Hartlebens Mutter über das heranwachsende Sorgenkind geschrieben hat und aus dem hervorgeht, dass schon in dem Knaben alle die Schwierigkeiten steckten, die später den Lebensstil von Hartleben ausgemacht haben. (...) Rudolf Steiner sagt, dass da oft mehr der Student und Bummelant die Feder geführt hat als der Dichter, so dass eine gewisse Oberflächlichkeit über den tieferen Schichten liegt. Hinter den lustigen, anekdotenhaften Geschichten lauert eine Art melancholischer Ernst, aber die Tragik bei Hartleben bestand darin, dass er zur Freilegung dieser tieferen Schichten keine Anstrengungen machen konnte. In seinem ganzen Leben - er ist ja nur 41 Jahre alt geworden - gab es keine tiefgehende Verwandlung. Er lebte sich so dar, wie er war. Es änderte sich nichts, er blieb bei seiner Lebensart.

Wir haben also in dem Freundespaar Otto Erich Hartleben und Rudolf Steiner zwei Menschen nebeneinander, von denen der eine bei seiner Gegebenheit bleibt, der andere aber in ungeheuren Kampf- und schmerzerfüllten Schmelzungsprozessen sein ganzes Leben umgestaltet bis zu dem großen Durchbruch hin.

Wenn bei diesen Persönlichkeiten, mit denen Rudolf Steiner zu tun hat, die tieferen karmischen Mitbringsel nicht recht herauskommen, dann zeigt sich oftmals eine ganz groteske Dramatik. Deshalb muss ich hier doch auch die Geschichte von Otto Erich Hartlebens Kopf erzählen.

Hartleben verbrachte aus einer ganz elementaren Italiensehnsucht heraus oft viele Monate im Süden. Es zog ihn einfach immer wieder nach Rom. Am Gardasee hatte er sich eine Villa gekauft; in dieser Villa Halkyone ist er auch gestorben. Nun hatte er aber seinen Freunden auferlegt, wenn er gestorben wäre, seinen Kopf nach Deutschland zu bringen und dort beizusetzen. (...)

Hartleben hat da selber die geronnene Erbschaft aus früheren Erdenleben gefühlt, die er in diesem Leben nicht hat realisieren können. Nun ist die Sache aber sehr eigenartig verlaufen. Es war auf glattem Wege nicht möglich, den Wunsch Hartlebens zu erfüllen. Trotzdem machte sich einer der Freunde daran, den Kopf abzuschneiden. Mit dem in Zeitungspapier eingewickelten Kopf ging er los, geriet dann aber abends in eine Osteria unter zechende Bauern. Er zechte tüchtig mit, bis die ganze Gesellschaft in Rage war. Es ging wild zu. Auf dem Boden der Spelunke war schon Rotwein ausgegossen. Und auf einmal rollte der Kopf mitten in die Stube hinein.

Solche Ereignisse sind keine Zufälle. Man sieht: was im Leben nicht zur Entfaltung gekommen war, das brach sich dann auf so groteske Weise noch nach dem Tode Bahn.

Das ist aber der Stil in den Biographien dieser Menschen, mit denen Rudolf Steiner 1897-1899 verkehrte. Sie kämpfen scheinbar gegen die spießbürgerliche Kultur, in Wirklichkeit aber kämpfen sie gegen sich selbst. Und aus früheren Leben tragen sie wahrscheinlich irgendwelche mittelalterlichen Einseitigkeiten in sich, die jetzt einen entgegengesetzten Pendelschlag brauchen. Von einem extremen, vielleicht mönchisch- asketischen Element geht der Pendelschlag in etwas ganz Ausgelassenes, Ungezügeltes über. Rudolf Steiner führt auch das Rätselhafte in solchen Schicksalen auf frühere Erdenleben zurück und sagt, dass diese Persönlichkeiten ein weiteres künftiges Erdenleben brauchen werden, um dann wieder das Gleichgewicht in sich selber herzustellen. "Man sah, wie das, was aus diesen Unvollkommenheiten werden konnte, künftige Erdenleben brauchte."

Nun steht ja sehr sprechend neben Otto Erich Hartleben jener Peter Hille, dem wir schon begegnet sind, als er auf der Bank im Tiergarten schlief. Diese Figur - es gibt sogar heute noch Leute, die mit Entzücken davon erzählen - hat in Berlin damals eine gewisse weit ausstrahlende Rolle gespielt. Lassen Sie mich aus dem Buche von Stefan Zweig "Die Welt von gestern" eine Partie vorlesen. Da schildert er, wie er in dem Kreis der "Kommenden" - diesen leitete damals schon Rudolf Steiner, seinem verstorbenen Freunde Jacobowski zuliebe - Peter Hille gesehen hat.

"Inmitten dieser jungen Menschen, die sich bewusst als Boheme gebärdeten, saß rührend wie ein Weihnachtsmann ein alter graubärtiger Mann, von allen respektiert und geliebt, weil ein wirklicher Dichter und wirklicher Bohemien: Peter Hille. Dieser Siebzigjährige mit seinen blauen Hundeaugen blickte gutmütig und arglos in diese sonderbare Kinderschar, immer in seinen grauen Wettermantel gehüllt, der einen ganz zerfransten Anzug und sehr schmutzige Wäsche anhatte; gern ließ er sich jedes Mal von unserem Drängen verleiten, aus einer seiner Rocktaschen ganz zerknüllte Manuskripte hervorzuholen und seine Gedichte vorzulegen. Es waren Gedichte ungleicher Art ... Er schrieb sie in der Straßenbahn oder im Cafe mit Bleistift hin, vergaß sie dann und hatte Mühe, beim Vorlesen in dem vermischten und verfleckten Zettel die Worte wie- der zu finden. Geld hatte er niemals, aber er kümmerte sich nicht um Geld... Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein und war doch sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später bei einem anderen Menschen gesehen."

Man denkt, das ist ein alter Waldmensch, so ein Rübezahl. In Wirklichkeit ist aber Peter Hille schon mit 50 Jahren gestorben. Er war nur 1,52 m groß, ein Zwerg mit kleinen Kinderhänden und -füßen, mit struppigem rotem Bart und langem ungewaschenem Haar. Er trug immer einen breitrandigen rotvioletten Plüschhut.  Nach seinem Tod haben seine Freunde eine Sammlung seiner Gedichte mit dem Titel "Blätter vom fünfzigjährigen Baum" herausgegeben. Unendlich viel hat er zusammengeschrieben, Dramen, Romane, philosophische Werke, nur waren sie nachher alle nicht mehr zusammenzukriegen, weil sie auf schmutzigen Zetteln herumfuhren. (...)

Das ist improvisiert, aber man spürt eine ganz tief fühlende Seele, eine fromme, eine kindlich-reine Seele. Peter Hille hat viel biblische Poesie geschrieben, Szenen aus dem Leben Jesu dichterisch ausgestattet. Dieser Mann, Westfale, hat als Junge das Abitur nicht bestanden, konnte also nicht regulär auf der Universität studieren, aber er hat an vielen Universitäten Vorlesungen gehört, sprach schließlich ungefähr 15 Sprachen, war durch alle Länder gereist, hat sich lange in England, in Holland, Ungarn, Italien usw. auf - gehalten. Er war ein Weltwanderer. Er saß in Zürich im Bierhaus mit Gottfried Keller und Arnold Böcklin bis tief in die Nacht hinein zusammen, korrespondierte mit Victor Hugo, mit dem er sich dann anfreundete und Gedichte austauschte, und führte einen Briefwechsel mit Papst Leo XIII. Er machte seine Reisen fast alle zu Fuß. Als er einmal von Italien über den St. Gotthard heimkehrte, rutschte er mit seinen kleinen Zugstiefelchen, deren Sohlen längst durchgelaufen waren, auf dem Gletscher aus und hätte dabei beinahe den Tod gefunden; nur wie durch ein Wunder ist er am Leben geblieben. Zur Beerdigung seines Vaters kam er zwei Tage zu spät, weil er von Berlin aus ins Westfälische zu Fuß ging. Rudolf Steiner hat nichts Schriftliches über Peter Hille hinterlassen, wohl aber geht aus Schilderungen von Frau Dr. Steiner hervor, dass er sehr oft und gerne von ihm erzählt hat. Ich möchte aus ihren "Erinnerungen" etwas vorlesen.

„Eine seltsame Erscheinung war Peter Hille... Von ihm erzählte Rudolf  Steiner reizende Geschichten. Er hatte ihn einst besucht - mit dem Anliegen, im ,Magazin' gedruckt zu werden. Er hielt dicht um sich geschlungen seinen Mantel, hielt ihn fest zu. Dann streckte er die eine Hand heraus und reichte auf einer Menge von Papierstreifen, ausgeschnittenen Zeitungsrändern, seine Gedichte. Es zeigte sich, dass er nur die aller spärlichste Bekleidung unter dem Mantel hatte, wirklich sehr wenig. Er hatte alles veräußert. Rudolf Steiner fragte ihn, ob er nicht eine größere Dichtung hätte. Ja - murmelte er - die habe ich. (Es folgten weitere Zeitungsstreifen.) Da... sie beginnt vor der Erschaffung der Weit'... Peter Hille wird einem lieb durch solche und ähnliche Geschichten. Seine Muse muss aber dabei gelitten haben."

In Berlin spielte Peter Hille doch eine ganz außerordentliche Rolle. An den Montagabenden trug er nämlich in seinem Dichterkabarett bei Dalbelli an der Potsdamer Brücke, in dem Ristorante al Vesuvio, seine Gedichte vor. Er las mit seinem monotonen Stimmchen von den Papierschnitzeln seine Gedichte ab und sah dabei gnomenhaft über die Brille herüber. Wenn Geld eingegangen war - es ging gelegentlich auch Geld ein -, nahm er sich am nächsten Tag eine Droschke und streute Blumen unter das Volk. Nun, eines Tages fand man ihn in Lichterfelde auf dem Vorortbahnhof morgens vor einer Bank in einer Blutlache liegen. Da hatte er auf der Bank geschlafen, weil er den letzten Zug verpasst hatte, war heruntergefallen und hatte sich eine Kopfverletzung zugezogen. Er hatte aber bereits an einer Kopfrose gelitten. Man brachte ihn ins Krankenhaus, aber sein Leben war nicht mehr zu retten. Es besuchten ihn noch Freunde, die ihm ihre Liebe erzeigen wollten. Peter Hille sagte zu einem "Warum weinst du? Warum soll es mir nicht auch einmal schlecht gehen?" - Nach seinem Tode meldete sich ein vornehmes Restaurant Unter den Linden, in dem Peter Hille 150 Mark deponiert hatte, als er den Schiller-Preis bekam. Er wollte den Betrag dort abessen und hatte es vergessen.

Peter Hille ist bei allen Seltsamkeiten aber doch ein tief ausgeglichener Mensch gewesen. Er brauchte nicht anzukämpfen gegen irgendwen oder irgend etwas, aber er brachte offensichtlich auch aus früheren Leben Reichtümer mit, die sich nicht auf direkte Art entfalten konnten, sondern sich wie bei Otto Erich Hartleben in lauter merkwürdigen Unterbewegungen Luft zu schaffen suchten. -

Das ist das karmische Bilderbuch, das für Rudolf Steiner in jenen Berliner Tagen aufgeschlagen dalag."