Marie Steiner: Die Generationen

"Was in diesen letzten Jahrhunderten Bewußtseinserrungenschaft des Einzelnen sein konnte, muß nun allmählich von Gruppen, von Gemeinschaften erobert werden.

Keine Aufgabe aber ist schwerer, denn eine Gemeinschaft ist eine fluktuierende Masse; sie wechselt beständig nicht nur ihr äußeres Antlitz, sondern auch ihr Innengesicht. Kaum hat die eine Menschenschicht durch Lebenskämpfe und Erfahrungen eine reifere Stufe der Bewußtseinsvertiefung erlangt, so drängt die nächste Generation, oder solche, die früher abseits standen, als Nachschub heran, der nun von neuem mit dem Sammeln von Erfahrungen zu beginnen hat, und der dadurch den schon errungenen Reifezustand auf eine frühere weniger reife Stufe zurückdrängt.

Wenn alte Probleme vor diesem jungen Nachschub auftreten, so beurteilt, verurteilt er sie gern, ist schnell fertig mit dem Wort – doch fehlen meistens die nötigen Unterlagen für die Urteilsbildung. In komplizierten Fällen hat er auch gar nicht die Möglichkeit, sie zu erlangen. Er ist auf das ihn umschwirrende Gerede angewiesen, und dieses hat es in sich, daß es nicht nur wie Proteus die Formen wechselt, sondern auch die Substanz fälscht, die Tatsachen sogar oft in ihr Gegenteil verkehrt. Da sich die Konflikte im Laufe von Jahren und Jahrzehnten aufgebaut haben, geht ihr Sachlichkeitswert durch Sympathien und Antipathien und durch die Wunschnatur des Menschen verloren. Wer nicht von Anfang an wissend alles mitgemacht hat, wird bald in ein undurchsichtiges Gewebe verstrickt und sieht Gespenster, nicht Wirklichkeiten. Er tappt im Dunkel, die Wahrheit entzieht sich ihm."

Aus Marie Steiners erstem Verständigungsappell an die Mitgliedschaft in der Schweiz, 12. Dezember 1942.
Zu finden in Marie Steiner, Briefe und Dokumente, S. 147-151. 

(Danke Ingrid)