Der Gang zu den Pilzen. Ein Spaziergang im Advent

In der Adventszeit werden die Lichter zum seelischen Halt- sie geben einen Widerschein der sommerlichen Sonnenkraft, auch wenn die angezündete Kerze, die flackert, vielleicht nur ein schwaches Abbild von der Größe der Sonne ist. Größe bedeutet in diesem Zusammenhang auch ihre überweltliche Bedeutung für das Leben schlechthin. Und, natürlich, die elektrischen Lichter stellen eine weitere Abstraktion dar, eine ferne Erinnerung an das nährende Sonnenhafte, aber auch an die weihnachtliche Verheißung darauf, dass dieses aus sich Bestehende, Verstehende, Lebendige auch in uns selbst geboren werden soll- dass wir nicht nur leiblich Partizipierende an der Energie der Sonne, sondern Agierende werden und sein sollten.

Die Verirrungen und Verzerrungen dieser Art von Verheißungen sind grenzenlos, die Perversitäten, Abstürze, Leugnungen des inneren Lichts nicht zu zählen, selbst in sich selbst, selbst bei besten Absichten, selbst im Hochzeitskleid der (vorgeblich?) Erwählten und Erleuchteten. Man hat den Eindruck, dass die so zahlreich präsente Schar auf dem Planeten sich sammelt, sehnt und stöhnt und versagt, im selben Augenblick.

Wir aber gehen zu den Pilzen. Wir gehen durch den kahl gewordenen Wald, der eine letzte Spur des herbstlichen pilzigen Geruchs behalten hat. Wir gehen ihr nach. Wir gehen von den einzelnen Pilzen, die vielleicht im mürbe gewordenen Laub am Boden sichtbar sind, gedanklich zu dem Netzwerk, dem sie entspringen- diesem sich verflechtenden System um die Wurzeln der Bäume, das sie nährt und aufbaut. Und das sich durch den ganzen Waldboden erstreckt- manchmal, ein Stoffwechsel- Wesen, über Hunderte von Metern.

Wir aber gehen zu den Pilzen. Vom Advent gekommen, in den Wald geraten. Der einzelne, im Laub erscheinende Pilz denkt sich im Verhältnis zum unterirdischen Stoffwechsel- Wesen wie die einzelne Kerze zur Sonne: Ein Objekt im Verhältnis zu einem Kraftsystem. Ein einzelner Gedanke im Verhältnis zum wirksamen Logos der Lebenskräfte. Ein einzelner Pilz im Verhältnis zum intelligenten, kommunizierenden, ungeformten System, das mit den Wässern, Mineralien und Wurzeln verbunden ist.

Wechseln wir die Perspektive, gehen wir zu den Pilzen. Es ist eine Intelligenz, die größer ist als die Form. Es ist kein Objekt, sondern ein Prozess. Gehen wir zum lebendigen Denken.

Es ist ein Perspektivenwechsel wie: „Licht ist die andere Seite des Sichtbaren, wie die Stille die andere Seite der Geräusche“.* Freilich, diese Stille ist kein Eigentum, keine Eigenschaft, kein Spiegel des Ich. Es ist das Licht selbst, bevor ein einziger Schatten geworfen wird, bevor ein einziges Objekt erscheint, ein einziges Ego. In dieser Stille sind nicht einmal wir selbst als Objekt da- in dieser Sphäre existieren nur Subjekte. Es ist schaffendes Denken, prozesshaft, unabgrenzbar. Man taucht in das Geflecht, in die atmende, schaffende Tiefe ein. Nur aus der Perspektive des Ego ist das eine Grenzüberschreitung, ein Verlust, eine Leere. Diese Leere ist das Sein, reine Aktivität in der Stille.

Wir gehen zu den Pilzen. In den nährenden, schaffenden, aufbauenden Prozessen finden wir ein Zuhause. Wir schauen von hier aus auf die einzelne Erscheinung, die Formen, die Verirrungen, die Spiegelwelt der Objekte über uns. Es ist gut, in der Stille zu sein, sich erhalten und aufgenommen zu fühlen. Auch wir selbst werden zu Form und vergehen, aber hier, im atmenden, schaffenden Licht, sind wir zu Hause und kehren immer hierhin zurück, durch jede Nacht, durch jeden Tod hindurch. Denn wir sind konstruktive, erkennende Wesen in einem konstruktiven, erkennenden Kosmos. Das Pilzgeflecht, in das wir eingehen, erstreckt sich endlos und baut an Welten und Gestaltungen. Es ist der lichte Stoffwechsel der Erde.

Es ist, erkennen wir, alles sinnhaft. So sehr wir uns verrennen mögen, so sehr wir dem Sinn, dem Logos auch widersprechen mögen, ihn verraten, ihn töten, wir kehren doch immer in ihn zurück, leben aus ihm heraus und sind in ihm zuhause. Freilich, wir bilden giftige Gestalten unter den Pilzen, wir nähren Unheil und sammeln toxische Ingredienzen. Auf der Seite des Sichtbaren* und der Geräusche* ist das möglich. In der Stille ist es das nicht, wenn es denn wirklich die nährende Lichtseite ist, in die wir eingetreten sind.

Advent ist, wenn man dieses Licht erkennt, es annimmt und in es eintritt. Hier fällt der Lärm, aber auch die Illusion in sich zusammen und man erkennt: „Bewusstsein, Selbstbewusstsein ist Wunder, deshalb ist alles Wunder und, wenn du willst, heilig. Eine besondere Heiligkeit gibt es nicht. Nicht reduzierbar.“*

In der Tat, der Gang zu den Pilzen hat nicht besonderes an sich. Der erste Wechsel der Perspektive läßt zugleich erkennen, dass es eine universelle humane Existenzbedingung ist: Das Selbstbewusstsein ist das Tor. Die innere Welt eröffnet sich, wenn das Selbst des Bewusstseins seiner selbst auch gewahr wird. Dann eröffnet sich der Untergrund des Seins, und wir sind im Atmen und Weben der Pilze zuhause.

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*Georg Kühlewind, Licht und Leere. Das letzte Notizheft und ein Fragment. S. 100