Ich höre die Nomoi aller Vögel. Über Melodie, Gedächtnis und Intuition

Eine kurze Notiz in Georg Kühlewinds hinterlassenen Tagebüchern (1) bringt das Thema Melodie ins Bewusstsein: „Unterhalb des Tagesbewusstseins fliesst im Fühlen das Melodie - Bewusstsein, durch das wir uns in unserem Leben zu Hause fühlen (..) Was sich für das (oder im) Melodie - Bewusstsein ereignet, das erinnern wir.“ Angeregt zu dieser Betrachtung war Kühlewind von H. Bergson, der seinerseits (2) dazu bemerkt hatte: „Unsere Persönlichkeit ist genau das: die kontinuierliche Melodie unseres Lebens“.

Bemerkbar wird das Kontinuierliche, das die Persönlichkeit umfasst und durchklingt, wie immer, an den Rändern, in den Störungen: Dort, wo uns etwas zustösst, was die Kontinuität unterbricht, ein Schock, ein, von der Melodie her betrachtet, Unglück, eine Kränkung. Nach so einer Diskontinuität kann verschiedenes folgen: Die Unterbrechung kann eine Pause sein, nach der die Melodie sich fortsetzt. Es kann sich auch etwas wie eine tonale Verrückung einstellen, ein Punkt, an dem sich die Persönlichkeit neu, in anderem Kontext, konstituieren muss, um die Melodie erst, vielleicht, in einer anderen Tonart, in einem anderen Takt, fortzusetzen. Womöglich sind die irritierenden Momente anhaltend, und der biographische Zusammenhang der zunächst unzusammenhängend erscheinenden Bruchstücke des Lebens und der Intentionen ergibt sich erst aus größerer Distanz. Vielleicht ergeben sich Variationen der ursprünglichen Melodie, die das Ganze nun erst als vielstimmig, reif und gesättigt erscheinen lassen. Im ungünstigsten Fall erweist sich die Diskontinuität als Trauma, um das die Melodie von nun an zwanghaft kreist, was eine Verarmung, Zurechtstutzung und Fixierung mit sich bringt, eine neurotische Verkrüppelung. In jedem Fall aber bleiben gerade die Störungen am besten im Gedächtnis; sie suchen einen heim, sie stellen das Melodische infrage, sie greifen die Fundamente des Zuhause - Seins an.

Freilich liegt dem Melodischen ein tieferes Element zugrunde, das es erst zu diesem Ganzes, Kontext- Schaffenden macht, das schwer zu fassen ist. Thrasybulos Georgiades (3) greift zum Verständnis dieses durchscheinendes Backgrounds auf griechische Texte aus den 5. - 6. Jahrhundert vor Christus zurück. Noch älter ist ein Fragment des chorischen Dichters Alkman aus Sparta: „Ich kenne die Nomoi aller Vögel“. (4) Nomos ist dabei, so erläutert Georgiades, „etwa mit „Weise“, „Sangesweise“ wiederzugeben. Aber die Hauptbedeutung von Nomos ist „Gesetz“, ein Begriff, der dem Bereich des Rechts und des Staates angehört. Was hat die Weise, die Melodie, mit dem Gesetz zu tun?“ (4)

Die Kopplung von Musik wie den homerischen Gesängen mit dem Begriff Nomos ist, wie die Spurensuche Georgiades ergibt, nur wenig älter als Alkmans Aussage- dokumentiert bei Hesiod im 7. Jahrhundert BC. Offenbar hat ein Komponist namens Terpander zu dieser Zeit in vielen musikalischen Bereichen - sowohl rein instrumental als auch im Gesang „Nomoi“ geschaffen- „Weisen, die als Vorbilder angesehen wurden“ (4) - melodische Ur- Kompositionen, die unmittelbar aus dem Grund geschöpft waren, der als geistiges Gesetz angesehen, dann zur Sitte und zum Vorbild wurde, um letztlich kulturbestimmend zu werden. „Ich kenne die Nomoi alles Vögel“ wird so zu einer Formel, in der Melodie, Natur, Logos aus derselben Quelle schöpfen oder dieselbe Quelle darstellen. Den Vogelgesang zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus zu komponieren, bedeutet auch, den Flug des Vogels als hintergründige Schrift mitzulesen- wie die reflektierte Wärme der Sonne, den Wind und das Rauschen der Bäume.

Nomos wird so zum Verstehen des Einklang allen Seins. Etymologisch ist dieser Begriff, der sicherlich, von der darin implizierten Kompetenz her, nur einer Mysterien- Kultur entstammen konnte, älter in Bezug auf seine musikalischen Bezüge. Die Wortbedeutung, die mit dem „Gesetz“ zusammenhängt, „bürgert sich (..) erst im Verlauf des späteren 6. Und 5. Jahrhunderts nein; aber auch danach blieb die musikalische Verwendung weiter bestehen. Platon spricht ausführlich über die musikalischen Nomoi und zugleich - ja oft in einem Atem- über die Nomoi als Gesetze.“ (5)

Aber selbst wenn man Nomos von der Melodie ausgehend auf Sitten und Gesetze ausweiten möchte - und mit diesem Streben ein Kernanliegen der griechischen Kultur berührt -, bleibt der Nomos doch stets ungreifbar, etwas, was immer wieder, wie beim Vogelgesang, hörbar gemacht und aktualisiert wird, aber selbst unhörbar bleibt: „Nomos ist etwas Geltendes und insofern gleichsam Immerwährendes, das aber nur in der jeweiligen Anwendung volle Realität erlangt. Es ist nichts Sichtbares, Vorhandenes, sondern etwas, das eine Weisung setzt, ein Richtung weist, dem Menschen anzeigt, was zu tun ist: was er tun soll, tun darf - oder auch, was man zu tun pflegt.“ (6) Diese Formulierungen werfen Nomos in ein Spannungsverhältnis zwischen ursprünglicher, höherer Ordnung- und einem Anspruch, etwas erst in Erscheinung zu bringen, zu realisieren. Aus dieser Spannung heraus wird Nomos von einzelnen Autoren auch als Selbstverwirklichung verstanden und übersetzt. Hier sind wir auch wieder am Ausgangspunkt der Betrachtung angekommen, an der „kontinuierlichen Melodie des Lebens“. Auch hier geht es ja um einen Nomos, der nicht der Gattung angehört und ihr nicht entspringt, nicht den Karriere- Perspektiven unterworfen ist, nicht den Erwartungen einer Peergroup entspricht. Das Selbst als die ursprüngliche Melodie dieses Individuums bleibt im Dunkel, tritt aber durch die Biografie in die Erscheinung und realisiert sich. Gerade die Diskontinuitäten, die Brüche, können in der Folge eine höhere Deckung von Bild und Erscheinung hervor bringen. Das, was aus der Sicht des Individuums als Niederlage und Verlust eingeschätzt wird, kann im Sinne des Nomos ein weiterer Schritt zur Selbstverwirklichung sein. Wer könnte das entscheiden? Die Melodie ist nie abgeschlossen, und es gibt keinen menschlichen Maßstab, um sie zu bewerten.

Dennoch schwingt sie, wie Kühlewind schreibt, im unbewussten Gefühlsbereich mit und webt sich mit den Erfahrungen, die gemacht werden, zu einem Ganzen. Wer möchte behaupten, „Sinn“ zu erkennen? Allerdings fallen zumindest die Diskontinuitäten, die Abwege, die Missklänge dem Individuum selbst auf. In einer verfahrenen Situation dem eigenen Selbstgefühl permanent nicht entsprechen zu können, verursacht Leid, schwächt und kann zu schwerer Verstimmung führen. Wenn die eigene Situation in innerer Zerrissenheit, in einer Lebenslüge kreist, besteht dringender Klärungsbedarf. Andererseits kann es in der Realisation auch immer nur Annäherung an das Ideal geben.

Schauen wir noch einmal auf die „Urbilder“ in Bezug auf die Musik bei Georgiades: „Die Nomoi waren wie Urbilder, nach denen jeweils hier und jetzt Musik hervorgebracht wurde. Nur in der Ausführung waren die Nomoi jeweils gegenwärtig. Für sich waren sie nicht greifbar. Aber ein Nomos ging auch nicht in der jeweiligen Hervorbringung restlos auf. Keine konnte ihn ersetzen, auch die beste nicht, auch die Summe aller nicht. Der Nomos war etwas dem menschlichen Erklingen Übergeordnetes. Als potentieller Sinngehalt war er stets mehr als das Erklingen. Und umgekehrt: Die hörbare Hervorbringung des Nomos bedeutete eine Einschränkung seines Sinngehalts. Aber zugleich war der Nomos auf das Erklingen angewiesen. Ohne dieses blieb er ein Phantom. Erst und allein während der Ausführung war der Nomos eine Realität; allein während des Geschehens, allein im Tun. Jeder Nomos selbst war die Aufforderung zu diesem Tun und bestimmte zugleich die Art und Weise dieses Tuns, das jeweils den Sinngehalt des gegebenen Nomos veranschaulichte…“ (7)

Nun spricht Kühlewind in seinem Tagebuch nicht zufällig von einem Melodie- Bewusstsein, das den Menschen biografisch verankert. Es wirkt wie eine musikalische Erinnerungsebene, vermittelt damit Kontinuität und Integrität, aber durch seine Verwurzelung im Nomos auch ein essentielles Wahrheits- Empfinden. Hier mischt sich die Einbettung einer Situation in den Kontext der Lebenserfahrungen, die auf dieser Ebene bewahrt werden, mit einem Sinn - einem Empfinden-  für Plausibilität und Praktikabilität. Wenn dieser Sinn korrumpiert wird, fehlt dem Individuum etwas wie eine innere Peilung. Das Tastorgan, der Geschmack für die Wahrscheinlichkeit, für die Logizität geht verloren oder verschmutzt. Damit „fällt“ der Nomos, degeneriert und unterwirft sich der Bedürftigkeit, die den inneren, ureigenen Maßstab verdirbt. Das ist eine Art Erkrankung des Geistes, eine Selbst- Auslieferung an grassierende Hysterien, Spekulationen und Manipulatoren der öffentlichen Meinung; die Stampede (8) ist in Zeiten von Social Media zum Tagesgeschäft geworden.

Die Eigenart des melodischen Empfindens, des bewusst werdenden Gefühls, hat auch Rudolf Steiner verschiedentlich, auch in Bezug auf seinen Schulungsweg, beschrieben: „Das melodiöse Erleben ist dasjenige in der Menschennatur, welches den Kopf des Menschen dem Gefühle zugänglich macht. Der Kopf des Menschen ist sonst nur dem Begriffe zugänglich. Sie schieben gewissermaßen durch die Melodie das Herz in den Kopf. Sie werden in der Melodie frei, wie sonst im Vorstellen. Das Gefühl wird abgeklärt, gereinigt. Es fällt alles Äußere von ihm fort, aber zu gleicher Zeit bleibt es durch und durch Fühlen.“ (9) In den meditativen Tiefen- Bereichen, jenseits der Bilder, in absoluter Stille, nimmt, so Rudolf Steiner, Inspiration als melodisches, aber tonloses Hören, die Wahrnehmung ein: „Wir kommen an eine Auffassungsweise, die sehr ähnlich ist dem Hören musikalischer Töne, Harmonien, Melodien, sehr ähnlich ist dem musikalischen Hören. Die Inspiration hat nichts mehr mit etwas Begriffsmäßigem zu tun, sondern mit etwas, was auch in der Auffassung eine Art Musikalisches ist. Das Musikalische muß nicht immer gehört werden, es kann auch, indem es geistig ist, empfunden werden. Aber im Grunde genommen hat alle Inspiration etwas Musikalisches.“

Aber das eigentliche melodiöse Element, in das sich unsere persönliche musikalische Erinnerung hinein bettet, ist - so Steiner- in den Lebensbereichen des Leiblichen verankert. Im eigentlichen Sinne werde es nur für denjenigen, der in der Lage ist, im Tiefschlaf darauf zurück zu blicken, erkennbar: „Und die außerhalb des physischen und Ätherleibes befindlichen Wesensglieder Ich und astralischer Leib werden stark beeindruckt von demjenigen, was sie da im Bette zurückgelassen haben als den tönenden, klingenden ätherischen Leib, der aber in seinem Tönen und Klingen zugleich leuchtet.“ Man darf sich vorstellen, dass dieses Individuelle, das ein melodiöser Widerhall der ganzen Person ist, sie aber auch zugleich konstituiert und ihr den eigentlichen Zusammenhang gibt, indem in ihr die persönlichen Erinnerungen erklingen, damit vor dem tonlosen, kosmischen Melodiösen der Schaffenskräfte schlechthin steht. Das ist das, was in den westlichen esoterischen Strömungen die „Sphärenharmonie“ genannt wird. Das Individuelle, Persönliche setzt dieses schaffende Untergründige fort, ja schreibt es fort, gestaltet eine Spur der Komposition. Berührungen dieser kosmischen Lebenssphäre sind nur im absoluten Schweigen zu spüren. Diese Sphäre sei - so Steiner- aber bereits seit der Antike (und damit auch den Schöpfern des Nomos- Begriffs) bekannt: „Dasjenige, was hinter dem Physischen steht, aus dem heraus das Physische gemacht und geboren ist, das Chaos – alle haben es gekannt. Ob die Griechen es Chaos nennen, ob die indische Philosophie von dem Akasha spricht, es ist immer dasselbe. Wer es im geistigen Sinne durchdringt, der vernimmt, wie es durchklungen ist von der Sphärenharmonie." (10) In dieser kosmisch- produktiven Erinnerungswelt lebe der Mensch nach seinem Tod: „Der Mensch lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Welt in der Akasha- Substanz, genauso wie wir zum Beispiel hier auf der Erde innerhalb der Atmosphäre leben.“ (11)

Ein direktes Anknüpfen an die schaffende Sphäre ist aus vielerlei Gründen nicht zu empfehlen- so wenig, wie sich mit dem nackten Hintern in einen Ameisenhaufen zu setzen und zu hoffen, dass die „Kundalinikraft“ erwache. Wer sich derlei oder andere Erleuchtungs -Phantasien als simples Andocken vorstellt, hat vermutlich Massen- Erweckung- Absichten aus geschäftlichen Erwägungen wie dieser post- post- post- moderne niederländische Jung- Guru namens Bentinho Massaro, der auf YouTube- Grinsen, Instagram- Zähne und viel Startkapital setzt, um die gängigen Phrasen zu einem Brei zwischen 9/11- Konspiration, Matrix- Kinofilm und Netflix- Prophezeiungen zu verrühren, den das mehr oder wenige junge Publikum leicht schlucken kann (12). Nein, schon Alkman aus Sparta war in seiner mysteriösen Aussage „Ich kenne die Nomoi aller Vögel“ doch klar, dass ein individuelles Bewusstsein - ein Ich - dazu gehört, das erkennend ist. Das Bewusstsein selbst, in seiner freien Beweglichkeit, Initiative und Erkenntniskraft, entringt sich der gegebenen inneren „Melodie“. Es sucht schöpferisch auch nicht nach der gegebenen „Melodie“ der natürlichen Kräfte, sondern nach deren schöpferischen, bewegenden, initiativen Gestaltungskräften, die sich in der Natur manifestieren. Wir bewegen uns in einer Welt der Bedeutung und der Verweise, in der Gestalt, Form und „Natur“ zu den Vergangenheitskräften gehören, zur manifesten Außenseite. Wir bewegen uns auf der Seite des Verstehens. Alles andere wäre nichts als Werbeversprechen, Nostalgie und Suggestion. Dass sich das Denken, das sich prozess- artig, adaptionsfähig, konkret, aber weich empfangend verhalten muss, eine andere Gebärde als das schnell urteilenden, punktuellen Gegenwarts- Bewusstsein dabei einnimmt, ist selbstverständlich.

Nur in dieser inneren Beweglichkeit wird die Melodie plötzlich - als Intuition - transparent, die der Spaziergänger im Vorfrühling hört: Durch den Klang eines Vogels wird wie in einer verweisenden Gebärde die Situation als ganze beleuchtet: Der kühle Wind über dem Feld, der kristallblaue Himmel mit leichten, gelockten Wolkenformen, das Drängen der Knospen und die lockende Sonne, die sich noch nicht wärmend gibt, sondern präzise: In diesem Augenblick fällt die Erscheinung in der Melodie zusammen, aber auch in dem, der hört und, indem er diese Intuition erlebt, zugleich das Alles selbst erkennt. In einem Augenblick ist über den Nomos des Vogels alle Differenz zwischen Hörendem und Gehörtem, Sehendem und Gesehenem aufgehoben; der Spaziergänger wird zur Gebärde von Klang und Sein.


Verweise


1 Georg Kühlewind
2 H. Bergson, The Perception of Change, in: The Creative Mind
3 Thrasybulos Georgiades: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985
4 Georgiades, S. 101
5 Georgiades, S. 102
6 Georgiades, S. 103
7 Georgiades, S. 109
8 „Die Ursache für das Ausbrechen einer Tierherde kann nicht immer festgestellt werden. Verschiedene Formen von Beunruhigung können das Verhalten auslösen, beispielsweise Personen, Lärmquellen oder Raubtiere. Auch beunruhigte Herdentiere können das plötzliche Fluchtverhalten einer Herde auslösen. Im Dunkeln kann eine Stampede besonders leicht ausgelöst werden, wenn die Tiere die um sie herum stattfindenden Vorgänge nicht sehen können. In Gebieten mit dichtem Verkehrsnetz können ausbrechende Tierherden auf Straßen geraten und Unfälle verursachen. Massenbewegungen bei Menschenansammlungen mit Verletzten und Toten haben ihre Ursache häufig in ungeeignetem Verhalten oder mangelnden Schutzmaßnahmen bei der Lenkung der Menschenmassen.“ Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Stampede
9 GA 283.138
10 GA 284.87
11 GA 152.12
12 https://youtu.be/RWUZnYCe0QA