Anthroposophie für Außerirdische oder das anthroposophische Stockholm- Syndrom

Quelle Weltbild
Der böse Bube ist wieder da, das Schreckensbild der Stock- im- Hintern- Anthroposophen, die ihr Monopol auf anthroposophische Deutungshoheit als vom Himmel gefallen ansehen: Helmut Zander hat mal wieder ein Buch über Anthroposophie geschrieben (1), nicht akademisch, weniger analytisch, sondern über die anthroposophische bunte Welt in ihrer ganzen Pracht, ihren Ausläufern, Wendungen, Expansionen, den absterbenden Partien, den inneren Widersprüchen. Er hat dazu ein enzyklopädisches Format gewählt, das der Sache, als Buch betrachtet, den inneren roten Faden nimmt, aber dafür natürlich als Nachschlagwerk für Interessenten aus den verschiedensten Bereichen dient - viele davon wahrscheinlich Waldorfeltern in spe, die sich kundig machen wollen, aber nicht zu sehr- und sich für Leser mit Konzentrationsschwankungen eignet, die ein überschaubares und konzentriertes Maß von Informationen auf einmal verarbeiten können oder wollen, um dann hier und da mal weiter zu lesen.

Okay, das ist kein akademisches Highlight, das ist etwas, was sich gut verkaufen läßt. Und warum auch nicht? Die ganze Fülle der bunten anthroposophischen Welten, Initiativen, Bewegungen, eingehend und fair betrachtet und vorgestellt- das ist doch etwas. Einerseits hat Zander merklich eine bestimmte Agenda - er verdächtigt einen Großteil der Bewegung, protestantischen Ursprungs zu sein-, überwindet diese aber auch und berichtet einfach, teilweise mit offenkundigem Erstaunen, was sich in der Szene initiativ tummelt und bewegt. Er konstatiert dabei auch das immer wieder erstaunlich virile liberale Element, das aller „esoterischer“ Ideologie zum Trotz die unterschiedlichsten, individuellsten Entwicklungen möglich macht. Nehmen wir nur mal die Banken, von GLS bis Triodos, die sich durchaus unterschiedlich verorten, verschieden wirtschaften, sich unterschiedlich engagieren und den Schwerpunkt entweder auf lokale Initiativen oder aber auf globales Engagement setzen. Zander zeigt auf, dass sowohl die ideologische Bindung wie auch das typisch nationale Ideal des Wirtschaftens völlig unterschiedliche Modelle schaffen, die dennoch miteinander kooperieren. Das Erstaunen über diese Vielfalt zieht sich durch Zanders Buch. Wie sollte man auch nicht erstaunt sein über die ausufernde Popularität der Waldorfpädagogik in China, die Hunderte von Gründungen nach sich zieht- nicht zuletzt wegen einer gnadenlosen Pauk- Pädagogik in den staatlichen Schulen. Es bilden sich - schon aus der Not, so etwas privat zu finanzieren, Baugemeinschaften in China, die dann manchmal zusammen ziehen und letztlich kulturstiftend zu wirken beginnen. Zander sieht sich interessiert Fotos von chinesischen Waldorf- Tafelbildern an, auf denen sich in Pastelkreide Nils Holgersson mit Buddha kreuzt.

Natürlich kommen die internen Konflikte nicht zu kurz. Der Clash der einstmals so innig verbundenen dm- alnatura Konzerne wird ausführlich dargestellt. Dabei wird völlig zurecht die Differenz zwischen dem Streben nach absoluter Marktdominanz um jeden Preis und dem anthroposophischen Gesäusel eines ehemaligen Konzernchefs wie Werner charakterisiert. Zander stellt sogar Wetten auf den Ausgang des vorerst beigelegten Konflikts an - alnatura hat seine Markenrechte bewahrt und kooperiert inzwischen mit den großen Lebensmittel- Konzernen und mit der dm- Konkurrenz.

Auf diese Weise ackert sich Zander durch die ganze Szene- detailreich, relativ fair, manchmal spannend, aber vielleicht auch beliebig- sicherlich, wie er auch zugesteht, auch mit dem Fokus auf die mitteleuropäische Ausprägung. Die Grundlagen kommen vor, werden von Zander aber nur selten sarkastisch oder befremdet vorgetragen (die zwei Jesusknaben u.a.), sondern eher sachlich: „Die Überzeugungen von anthroposophischen Bankern oder die Entwicklung des Kindes gemäß der Waldorfpädagogik versteht man ohne diese „esoterischen“ Hintergründe nicht. Aber es gibt noch eine kompliziertere Antwort. Sie lautet, dass die Anthroposophie einen philosophischen „Monismus“ vertritt, indem sie Anspruch erhebt, Geist und Materie als unterschiedliche Aggregationsformen ein und derselben Sache zu deuten. Für Anthroposophen ist die Welt materialisierter Geist. Diesen Geist nennt Steiner auch das „Göttliche“, und wenn alle Materie eine andere Form des Geistig-Göttlichen ist, ist auch der Mensch göttlich, zumindest in seinem innersten Kern.“ (2) In manchen Kapiteln wie denen zur Christengemeinschaft oder dem Nebeneinander von anthroposophischer Gesellschaft und Bewegung spielen die Grundlagen zwar eine größere Rolle, aber auch hier liegt der Fokus auf den internen Konflikten, Selbstdefinitionen, Gegenbewegungen und Trends. Ein Resümee Zanders liegt doch darin, trotz der offenkundigen Überalterung, Säkularisierung und heftigen internen Konflikten innerhalb der anthroposophischen Bewegung doch auch eine erhebliche Dynamik, Vielfalt und Beweglichkeit zu konstatieren. Mag kaum noch jemand Rudolf Steiner tatsächlich lesen wollen, möchte der globalisierte Mittelstand doch gerne sein Geld anständig anlegen, vernünftige Lebensmittel erhalten, Kindern technologie- freie Spielräume bieten und eine Natur vorfinden, die nicht in synthetischem Dünger und Monokulturen erstickt. Während die hoch ideologisierten Dornacher Schriftgelehrten tatsächlich niemanden mehr interessieren, expandieren die ursprünglich anthroposophischen Impulse nicht nur global, sondern auch durch Konzerne, die sich dem verantwortlichen Wirtschaften selbst verpflichten.

Diesen Umbrüchen geht Zander erfolgreich nach. Es ergibt sich ein nicht oder kaum polemisches Bild, wobei man sich hier und da fragt, ob Zander nicht doch ein wenig unter dem Stockholm- Syndrom leidet- wenn er etwa bekennt, dass seine Familie, ja selbst seine eigene Familie tatsächlich Demeter- und Wala- Produkte konsumiert. Zanders Sympathien gegenüber dem Info3- Umfeld sind ganz offensichtlich, seine persönlichen Begegnungen offenkundig zahlreich, das Erstaunen über die Vielfalt und den häufig konstatierbaren Pragmatismus bemerkbar. Mag sich das Klischee vom Anthroposophen noch sehr gegen den Zeitgeist stemmen, tatsächlich assimilieren die Schulen, wenn es an der Zeit ist, nicht nur schnell Gedanken wie Inklusion und Integration, sondern tun auch so, als seien das ursprünglich anthroposophische Anliegen. Wenn es denn Not tut oder Fördergelder winken, werden die ideologischen Stellschrauben schnell ausgetauscht. Auf der anderen Seite entsteht durch äußere Traditionen, aber auch Haltungen eine angenehme Kontinuität im Sinne eines Markenkerns; man erkennt anthroposophische Marken, Häuser, Institutionen meist unmittelbar.

Allerdings trifft Zander, ganz offensichtlich durch lange Erfahrung, auch die markanten inneren Widersprüche so vieler anthroposophischer Institutionen, in denen Schein und Sein eklatant auseinander klaffen: „Im Hintergrund der inneranthroposophischen Auseinandersetzungen steht ein extrem schwieriges Kapitel, das man als Außenstehender nur mit Vorsicht berührt, weil jeder Fingerzeig von Anthroposophen oft als verletzend empfunden wird: die autoritäre Diskussionskultur. Zuerst einmal denkt man bei Anthroposophen vielleicht an das Gegenteil. Denn ja doch, es gibt das hohe Ethos der individuellen Eigenständigkeit und die Forderung nach Dogmenfreiheit, es gibt kollektive Leitungsorgane, entstanden etwa aus der Idee der Lehrerrepublik in der Waldorfschule. Aber es gibt auch die Realität, die ganz anders, nämlich hierarchisch aussieht. Der Dreh- und Angelpunkt der Probleme ist gleichzeitig Herz der Anthroposophie, der Anspruch auf höhere Erkenntnis. Sie verspricht Klarheit, Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit. Aber weil man darüber nicht verhandeln kann und eine Interpretation diese „Objektivität“ bedroht, wird die höhere Erkenntnis zu einer Maschine der Produktion von Autorität, weil man mit der Berufung auf seine Einweihung oder zumindest einen Eingeweihten – in der Regel auf Steiner selbst – jeden Diskurs beenden konnte und oft genug beendet hat. Diese Streitigkeiten werden oft als erkenntnistheoretische Debatten deklariert, aber psychologisch geht es meist um etwas anderes, um Deutungsmacht. Deshalb kommt bei all den vielen Diskussionen dann häufig doch keine offene Debatte zustande.“ (3) So mancher hoch Engagierte hält diese Widersprüche auf Dauer nicht aus, wie Zander ausführt.

Zander konstatiert aber auch, dass die Dynamik, die aus Spannungen um den Pluralismus, die Anthroposophie- internen Dogmen und Versuche, eben diese aufzubrechen (um dann vielleicht in Beliebigkeit zu landen) zu immer neuen Umbrüchen auch im Kernbereich der anthroposophischen Verwaltung führen: „Von Anthroposophen, die den Meister eng an seinen Texten entlang auslegen, bis zu Anhängern, die in seinem Werk nur methodische Anregungen sehen, blüht ein weites Spektrum, dessen Vielfalt für eine zahlenmäßig kleine Weltanschauungsgemeinschaft wie die Anthroposophische Gesellschaft bemerkenswert ist. Diese Pluralität findet sich bis in den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft hinein, in dem etwa Sergej O. Prokofieff saß (gest. 2014), für den deftigste Polemik gegen Andersdenkende offenbar zur Bedingung seiner Identität gehörte, aber auch Bodo von Plato (abgewählt 2018), der die langsam in Gang kommende kritische Aufarbeitung der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft mit angestoßen hat. Jeder, der seinen eigenen Weg gehen will, kann sich eben auf Steiners Postulat der Dogmenfreiheit berufen. Dass sich dabei Dogmatismus und Antidogmatismus die Hand reichen, ist auch Anthroposophen klar: Über „die Spannung zwischen dogmatischen Tendenzen in der AAG [Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft] und beliebigem Relativismus“ konnte man auch in einer offiziösen anthroposophischen Publikation zur „Goetheanum- Welt- Konferenz“ 2016 lesen.“ (4)

Was hat Zander in seinem Kompendium vergessen? Die schlimmsten politischen Exzesse, die das Netz zu dem Thema bereit hält, hat Zander uns erspart. Und manche exotischen Erscheinungen wie die stigmatisierte Judith von Halle oder der hinduistisch brambassierende Sebastian Gronbach sind aus der Perspektive Zanders heraus relativ unspektakuläre Phänomene. Das gnostische Selbsterlösungs- Element bei Steiner macht ihm bemerkbar viel mehr zu schaffen. Aber dennoch. Hier liegt vor uns eine faire, fleissig recherchierte, ziemlich umfassende Darstellung anthroposophischer Welten vor, die man sogar einigermaßen gut unterhalten lesen kann. Natürlich ist der Blick Zanders der von oben auf ein Meerschweinchen - Gehege. Mal schweift der Blick hier hin, mal dorthin, mal ist es vernünftig, mal exotisch, mal widersprüchlich, mal großartig. Der Blick wirkt nicht auf Augenhöhe- was das Buch letztlich eben doch prägt und das Lese- Vergnügen einschränken kann. In Wirklichkeit durchziehen die inneren Widersprüche, die ideologischen Altlasten, die nicht mit gewachsenen internen Strukturen ja die gesamte Gesellschaft. Der Blick von oben separiert und zerstückelt die Szene und lässt sie so exotisch vergrößert wirken, als würden Aliens einen Blick auf Stammesrituale abgelegener Bergvölker werfen. Aber vielleicht ist eine gewisse Exotik ja auch verkaufsfördernd, wer weiß? Die sehr stark zeitlich gebundenen Konflikte und Trends, die Zander zum Beispiel in Bezug auf Waldorfpädagogik in China, Konzern- Revierkämpfe der anthroposophischen Drogeriemärkte und Hahnenkämpfe im Dornacher Verwaltungszentrum ausbreitet, werden zeitnah Neuauflagen dieses Buchs nötig machen. An manchen Stellen schrammt diese Berichterstattung ja haarscharf am Tratsch vorbei (welcher Kontrahent in der Wirtschaft wie mit wem verwandt oder verheiratet ist). Aber gut. Unterhaltung ist nicht schlechtes. Und fair bleibt das Gesamtbild allemal.


Verweise-----------------
1 Helmut Zander, Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik. Paderborn 2019
2 siehe 1, Einleitung, S. 8
3 siehe 1, S. 23
4 siehe 1, S. 81