666 oder: Mist, die Apokalypse ist ausgeblieben

Guten Morgen, Ihr Morgenlandfahrer! Heute lichten wir den Anker, setzen die Segel und fahren Richtung Westen, wo der Große Ahriman wohnt. Ich weiß, Ihr wollt nicht dorthin, Euch reicht es, Tag für den Tag den Großen Donald in den Nachrichten zu sehen und zu hören, aber schließlich wollen wir doch einmal im Zusammenhang besehen, was Rudolf Steiner über Amerika geäußert hat- was bis heute tradiert, fort gestrickt und aufgebauscht wird, wie das Anthroposophen eben so machen.

Steiners Amerika- Bild lässt sich durchaus in einer Best- of- Anthologie wie von Carl Stegmann - „Das Andere Amerika. Der Westen in geistes-wissenschaftlicher Sicht“ (1) - überblicken, die vor einer Generation als Privat- Druck in der Szene herum ging und z.B. in Kirchen der Christengemeinschaft vertrieben wurde, denn Stegmann war Pfarrer und sogar „Oberlenker“ der Christengemeinschaft, der er 74 Jahre lang (!) diente. Das übliche Steiner- Schema Ost- West- Mitte weist darauf hin, dass Stegmanns Amerika- Bild, so manichäisch es ausfallen wird, mit Sicherheit auch den Osten und die „Mitte“ beleuchten wird, so wie es Gut und Böse, Zukunft und Vergangenheit repräsentiert. Denn wie immer passt alles im anthroposophischen Kontext in Legenden, Bildern und Narrativen, die nahtlos in die Gesamterzählung vom Werden der Menschen und Götter, der Planeten, Kontinente, Nationen und Rassen, von Mann und Frau, von den Engeln und „Doppelgängern“ über gehen. Bei Steiner bekommt man immer das gesamte Paket, in dessen Mitte Erlösung der Erde, des Menschen und der Natur liegen, sich aber in jedem Winkel der Erzählung widerspiegeln. So, natürlich, auch in den Narrativen zum Thema Amerika, die Stegmann lediglich zusammen fasst, nachdem er selbst seit fünf Jahren in den USA gelebt und gearbeitet hatte.

Von Anfang an führt Stegmann die Narrative, die Steiner in Bezug auf Amerika angestimmt hatte, über in die großen, übergreifenden sinnstiftenden anthroposophischen Perspektiven: Der Dreiklang von „Herzenskräften“, die sich dem „geistig- kulturellen Leben“ (3) zu öffnen vermögen, und der behaupteten Vereinseitigung in der amerikanischen Kultur, die nach Steiner eine Art „Mannestum“ sei mit seiner „einseitigen Veranlagung im Intellekt und im Willen“ (4). Das „Frauentum“ verkörpere dagegen ein spiritualisiertes Herz und heilende Kräfte, während Männer generell zu stark „mit der Erde verwachsen“ (3) wären. Spirituell seien damit der Mann und der Westen auch eine Gegenmacht zu „Michaelskräften“, die das „spirituelle Herzdenken zum Durchbruch beringen wollen“ (3). Die amerikanisch- männliche Schwerkraft stemme sich durch „das intellektuelle Kopfdenken und den instinktiven Triebwillen“ diesen anthroposophisch- weiblichen Herzkräften entgegen. Diese „innere Seelenveranlagung des Ostens, der Mitte und des Westens“ (3) habe Rudolf Steiner 1922 dargestellt (5) und damit ein ideologisches Grundmuster eröffnet und ausgeführt, das seither ständig wiedergekäut wird, aber auch in Steiners Konzept des doppelten Bösen passt: Luzifer als östlicher, Ahriman als westlicher Dämon, die erlösende Phalanx der Christusjünger in der Mitte, im Herzen Europas, an der Brust der Herrn und seines neuen Propheten.

Stegmann erklärt - was faktisch hinlänglich durch Überbevölkerung, anhaltende Migration und, grassierende Infektionskrankheiten im östlichen Teil, in den die europäischen Siedler strömten, zu begreifen ist- den Hang zum Treck der Siedler Richtung Westen mit unbewussten Willensanteilen und übersinnlichen Kräfte, ja mit spezifischen „Einflüsse(n) des Bodens“ in Amerika. Gemeint sind ahrimanische Einflüsse und unbewusste „Schicksalskräfte“, die spezifisch amerikanischen Charakter hätten. Die „starken Wachstumskräfte“ (6) der Natur wären dafür ebenso verantwortlich wie das spezifische „Denken in seiner antisozialen Auswirkung“ (7).

Stegmann zieht zum Beleg einen bunten Mix zwischen Baum- Wachstum, Marxismus, Kriegen des 20. Jahrhunderts, einem falsch geschriebenen und zitierten Gabriel Marcel (8) und natürlich vielen Steiner- Zitaten- heran. Letztere weisen immerhin darauf hin, dass die anti- sozialen Elemente in jedem Menschen leben würden, vor allem in jedermanns Denken. Stegmann interpretiert das als die Kritik- Lust des „Kopfmenschen“, die „im Fühlen die Antipathie“ errege und im Willen „den Haß“ (9). Nach allerlei Kreisen um amerikanische Literatur, den Trend zum Individualismus, aber auch zur seelenlosen Maschinerie in der Weltwirtschaft kehrt Stegmann wieder zurück zum apokalyptischen Kampf Michaels mit dem Drachen, welcher einem Kampf gegen das materialistische Denken entspräche. Inmitten der Apokalypse begänne die „Erde von her zu leuchten“ (10), da die Auferstehungskräfte, der „Sonnenkeim, den Christus in die Erde senkte“ (10), ebenso aktiv seien wie die „Widersachermächte“. Stegmann nutzt die Gelegenheit, an dieser Stelle die spezifisch anthroposophische Dämonologie und Teleologie nochmals ausführlich darzulegen. Es ist, an dieser Stelle wie überall, ein geschlossenes, kongruentes Weltbild, das sich religiös, politisch, geographisch oder anthropologisch ohne Brüche ausführen lässt. Gerade das Schlichte, in sich Stimmige hat eine erhebliche Anziehungskraft als Welt- und Menschheits- Erklärungs- Instrumentarium. Dabei springt Stegmann von der Erschaffung des „Stoffes“ der Erde - wie Kristallen- durch Ahriman nahtlos auf das entstehende Deutsche Reich von 1870, auf die Arbeiterschaft und den Kommunismus. Das 1870 erhoffte deutsche „Volk der Mitte“ (11), das eine „Verkörperung einer großen spirituellen Idee“ der Menschheit hätte sein können, sei leider nicht entstanden. Offenbar sieht Stegmann darin die Ausgangslage für die Entwicklung der westlichen Kultur, die er auch im Kampf um die Unabhängigkeit der Sklaven begründet. Wieder folgen Ausflüge in die amerikanische Literatur (u.a. Melvilles Moby Dick), bevor erneut „michaelisches und ahrimanisches Engelwirken“ ausgeführt wird.

Diesmal bohrt sich Stegmann noch tiefer in die von Steiner geschilderten dunklen Mysterien hinein, in sexuelle, medizinische und maschinelle Abirrungen, die zu Steiners Zeiten allerdings - zumal im Berliner Großstadtleben- allgegenwärtig waren. Die „Technik“, die in „wüstes Fahrwasser kommen“ (12) werde, hatte sich doch längst, etwa in den Giftgas- Schlachten des Ersten Weltkrieges, materialisiert. Aber Rudolf Steiners manichäisch- apokalyptisches Weltbild zwischen „ich- losen Triebwesen“ und „freier ichbewusster Brüderlichkeit“ (13) passte auch die Technik in sein Schema hinein: komische und irdische Kräfte in der Technik würden dem Menschen seine Zukunft rauben und ihn zum „Roboter im Wirtschaftsleben“ (13) machen. Die 1919 gehaltenen Vorträge Steiners (14) überraschen jetzt diesbezüglich nicht gerade, hatte doch Henry Ford wenige Jahre zuvor (1913) das Fließband erfunden (15) und damit Schlachthaus- Technik mit Produktionsabläufen seiner Automobile gekreuzt- bis zum „Roboter im Wirtschaftsleben“ war es von hier aus nicht weit, und Steiners Vision scheint deshalb nicht gerade originell gegriffen zu sein.

Beschwörend werden von Stegmann zum wiederholten Mal die Mantren von Ost, West und Mitte gemurmelt, bevor das nächste Highlight im Kreisen um die „Wesensart“ des amerikanischen Westens offenbart wird: Das ist der noch wüstere Süden, der mexikanisch- schwarzmagische Wüstenboden, den ja auch Donald Trump mittels einer gewaltigen Mauer bändigen möchte. Die dunklen „Mysterienstätten“, in denen Menschenopfer an der Tagesordnung waren, Herzen heraus gerissen (bei Rudolf Steiner sind es fälschlich Mägen) und höhere Erkenntnisse aus der Folter von Opfern gewonnen werden, entstammen der anthroposophischen Mythologie- Geschichte von Atlantis und verweisen auf den Falschen Propheten, den größten aller widrigen Magier, der faktisch während der vorvorletzten Jahrtausendwende besiegt worden sein soll, aber offenbar doch den ganzen amerikanischen Kontinent verseucht habe. Nun ist wieder viel von Ahriman die Rede, ebenso wie von den „Mysterien des Westens“. Offenbar hat Mexiko auf Amerika abgefärbt. Im Osten dagegen sei mit Dschingis Khan der entfesselte luziferische Geist der Atlantis entfacht worden. Von den Mongolen springt Stegmann schnell in die römische Geschichte, was aber mit dem Ost- West- Engel- Dämon - Schema auch kein Problem darstellt.

Stegmann bewegt sich stetig um den Pflock, den Steiner an dieser Stelle eingeschlagen hat. Wie in einer guten Predigt nimmt er eine stetige Steigerung und Dramatisierung vor (Menschenopfer, Schwarzmagier und Besessenheit), entlastet den Leser aber zwischendurch ständig durch Exkurse in Literatur, Dichtung und Wirtschaft, ja selbst durch gemütliche Anekdoten. So lässt sich der Leser auch eine gewisse Missionierung gefallen, in der er in die anthroposophische Teleologie eingenordet wird.

Passend dazu wird auch in die Zukunft geblickt, in den „mechanischen Okkultismus“ (16), in dem die Menschen aus „moralischen Kräften“ heraus „Maschinen konstruieren und Zeichen für sie festsetzen“ können, wobei ein ganzer „Kosmos“ geschaffen werde. Hier hat Rudolf Steiner vielleicht das Programmieren und Social Media voraus gesehen, einen „Kosmos“ der Kommunikation über den Globus hinweg, in dem tatsächlich sowohl „den Weltenprozess störende und dem Weltenprozess dienende Elementargeister“ (16) entstehen können, mit „Willensimpulsationen“ (16) in jeder Facebook- Gruppe, die tatsächlich „unter Umgehung des Bewusstseins“ .. „ahrimanisch zerstörend“ (16) wirken können.

Sowohl am Ende des ersten Teils wie zum Beginn des zweiten Teils beschwört Stegmann wieder das Mantra von Westen- Osten- Mitte: Der Mensch müsse den „Westen (Wille) in sich" ebenso erkennen wie die „Mitte (Herz, Fühlen) und den Osten (Geist, Denken)“ (17). Diese im ganzen Buch stereotyp auftretende Charakterisierung läutet die weitere Steigerung in die individuelle Dämonologie des Individuums in Form seines persönlichen inneren Doppelgängers ein, dessen Kräfte aber in Amerika aufgrund des Bodens besonders massiv auftreten würden- in jedem einzelnen Amerikaner. Es geht um die anthroposophischen Narrative einer höchsten Gefährdung des Menschen und Planeten in einem apokalyptischen Geschehen am Ende des 20. Jahrhunderts, in dem der Antichrist auch höchst persönlich auftreten werde und zum „Herrn der heutigen Zivilisation“ (18) dabei werden würde.

Die Doppelgänger der westlichen Hemisphäre seien dabei, schon von der Geographie her, ganz der Schwerkraft zugeneigt, während die des Ostens - insbesondere die Russlands - vollständig anderer Natur seien. Selbst die russischen Dämonen sind nach Steiner deutlich netter- nämlich mit Kräften verbunden, die „nicht von der Erde kommen“ (19). Von hier - von diesem Steiner- Zitat aus- nahm die Russland- Schwärmerei so vieler Anthroposophen wohl ihren Lauf. Die „Unternatur“ der Amerikaner ist einfach viel fieser. Während die Amerikaner ihren Opfer gern Herzen oder Mägen heraus reißen, legen die Russen sie lieber elegant tot an der Kreml- Mauer ab, wie Putins Gegenspieler Boris Nemzow (20). Was Steiner und den Seinen so an die Nieren geht, ist aber das elektrische Wesen der amerikanischen Unternatur, diese den „Menschen verdichtende, seelenverhärtende Kraft von allem Elektro- Magnetischen“ (21). In Amerika seien selbst die Rocky Mountains ein einfach falsch herum gepolter Gebirgszug. Die Proteste der Jugendlichen (Stegmann schrieb Anfang der 70er Jahre, aber Flower- Power kam nicht bei ihm vor) wären eigentlich eine Rebellion gegen ihre elektro- magnetischen Doppelgänger.

Nun, nach all dem düsteren apokalyptischen Heranschmeißen an die Ende des 20. Jahrhunderts bevorstehende Apokalypse wird es dann wieder etwas Zeit, auch auf die Prophezeiung des kommenden (rein geistig- ätherischen) Christus zu kommen, der inmitten einer gewaltigen Offenbarung zur gleichen Zeit auftreten werde. Letztere werde praktisch durch Anthroposophie eingeleitet, aber von den generell hellsichtig gewordenen Menschen „nicht nur einfach in ihre Seele“ aufgenommen, sondern „in ihr Bewusstsein“, da der „Ätherteil des Menschenhauptes sich noch in stärkerem Maße vom physischen Leib lösen kann“ (22), was kollektiv zum „schauenden Wahrnehmen“ des Auferstandenen führen werde. Ach, ja. So prophezeit es in den den 70ern Stegmann, der Steiners Visionen dabei lediglich verdichtet und etwas fort schreibt. Stegmann vollzieht das erwartungsgemäß so, dass er das ganze Geschehen- Erscheinen des Antichrists wie das „Herankommen dieses neuen Christus- Erlebnisses“ (23) ganz auf Amerika bezieht. Die übliche  Berechnung, die aus der „Zahl des Tieres“ 666 erfolgte, datiert das apokalyptische Geschehen auf das Jahr 1998. Noch einmal wirft Stegmann Mexikaner, Templer, Hitler ebenso in die Waagschale wie die angeblich stetig steigende Kriminalität in Amerika. Die „asurische Machtentfaltung“ Ahriman wird alles auslöschen wollen auf der Erde, „was sich diesem Willen entgegenstellt“ (24).

Damit, möchte man sagen, ist der Höhepunkt des anthroposophischen Ost- West- Mitte bzw Willen- Fühlen- Denken - Narrativs erreicht, denn wenn Teufel und Auferstandener sich in einer apokalyptischen Klimax um die Rettung der Welt streiten, während wiedergeborene Anthroposophen sich mit allen Michaeliten vereint dagegen anstemmen, zusammen scharen und hellsichtige Mega- Kräfte aussenden gegen die ahrimanisch verstrahlten amerikanischen Elektro- Menschen, ja, wie sollte man das noch steigern?

Freilich, Carl Stegmann ist tot, und Ahriman hat niemand 1998 getroffen. Die Welt steht noch, und die Menschen sind nicht generell hellsichtig, aber auch keine Roboter. Es ertrinken zwar ständig Menschen im Mittelmeer, aber niemand reißt ihnen die Herzen heraus. Die Apokalypse hat, mit einem Wort, nicht stattgefunden, auch wenn die Welt immer noch scheiße ist. Die Anthroposophen sind, vielleicht, ein wenig ratlos, was man mit dem neuen Jahrtausend anfangen soll. Viele haben sich mit ein wenig Meta- Aberglaube und Rechtspopulismus versucht. Man tut so, als wäre nichts passiert. Wo sind die Mexikaner, wo die wiedergebotenen Templer? Wo sind die genialen Menschheitsführer, auch die der ahrimanischen Seite? Das System bröckelt, plötzlich finden die Chinesen Waldorf - Pädagogik schick, und es wird Zeit, sich ein paar neue Narrative auszudenken. Die Apokalypse ist ausgeblieben, Leute, geht nach Hause.



Anmerkungen und Verweise--------------

1 Carl Stegmann, Das Andere Amerika. Der Westen in geisteswissenschaftlicher Sicht 1. Teil/ 2. Teil, Als Manuskript vervielfältigt, Herausgegeben vom Verfasser o.J.
2 https://anthrowiki.at/Carl_Stegmann
3 S. 7
4 S. 6f
5 „Westliche und östliche Weltgegensätze“
6 S. 13
7 S. 14
8 http://www.philolex.de/marcel.htm Stegmann zitiert ihn fälschlich als „Marcelle“
9 S. 18
10 S. 32
11 S. 41
12 S. 51
13 S. 52
14 https://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/vortraege/1919-was-tut-der-engel-in-unserem-astralleib-ga-182.html
15 https://www.welt.de/geschichte/article120638758/Die-Inspiration-die-aus-dem-Schlachthof-kam.html
16 S. 71
17 S II Einleitung des zweiten Teils
18 II, S. 3
19 II, S. 7
20 https://youtu.be/f4cJob-pkdI
21 II, S. 9
22 II S. 23
23 II S. 32
24 II S. 40