Die geistige Currywurst aus anthroposophischer Perspektive
Nichts gegen gepflegte Esoterik, wenn möglich mit etwas Ironie und Intelligenz gewürzt- als Selbstschutz vor dem Überrumpelt- Werden durch galoppierende Assoziationen. Ja, etwas Disziplin ist daher auch ganz erwünscht.
Nehmen wir einen mäandernden, gleichwohl exakten Vertreter der anthroposophischen Zunft wie Wilfrid Jaensch (hier seine Hymnen an die Nacht), der seine seltenen Schriften und Bücher, über die man ab und zu stolpert, mit Sätzen überschrieb wie „Jede Unterscheidung, die auf der Erde gemacht wird, hat ihren Ursprung im ganzen Weltall.“ (1) Die Überlegungen Jaenschs führen zu Betrachtungen seines Hinterhofs in Berlin, wobei er bemerkt: „Ich unterscheide mich von den Unterschieden, die ich mache, und die mein „Ich“ überhaupt erst aufwecken. Mein Selbstbewusstsein ist die Rückwirkung der Unterscheidung. Vorher war es nicht wach, also als waches Bewusstsein nicht vorhanden.“ (2) Und so singt Jaensch auch das Loblied der Europäer. „Warum erwache ich nicht für mein eigenes Erwachen? Weil ich Europäer bin. Mein erster Satz begann: Die europäische Aufklärung. Gibt es denn eine andere? Ja. (..) In Europa genieße ich, wie alle Europäer, dass ich aufwache. Ich genieße mich selbst. Darin besteht meine größte europäische Leidenschaft. Jede Träumerei macht mich unsicher. Ich spreche jetzt von dem Erwachen im eigenen Körper, etwa beim Aufwachen aus dem Schlaf. Dieses Aufwachen wiederhole ich auch tagsüber, und zwar dadurch, dass ich die Umwelt unterscheide. Denn nur indem ich die Welt unterscheide, unterscheide ich mich selbst von der Welt. Das Gewahrenden dieser eigenen Arbeit ist der Genuss des Erwachens. Und wie jede andere Leidenschaft auch, so verschwindet sie aus dem Bewusstsein, sobald sie befriedigt wird..“ (3)
So sind in der Tat die Freuden der Aufklärung zugleich die der Selbst- Konstitution. Das ist immer ein perspektivischer, ausschnitthafter Blickwinkel, auch wenn diese Einseitigkeit durchaus erkannt, durchschaut und im Dialog oder in der Reflexion in Hinblick auf die „Denkmöglichkeit“ (Jaensch) eines „Weltganzen“ überwunden werden kann. Die Reduktion auf ein perspektivisches Ich bietet so immerhin immer auch Potential. Diese mäandernde Grenze zwischen Erkenntnis, Konstituierung und Überwindung der Perspektive ist einerseits sicherlich Thema in Schriften Steiners wie der „Philosophie der Freiheit“- zugleich denunziert er aber die Konstatierung des Ich immer wieder als „materialistisch“.
So sei die Gegenwart (vor 100 Jahren) zwar "heute nicht vollständig im Materialismus versumpft" (GA 152), aber fast. Das Gegenmittel seien umherwandernde Irre gewesen, die man die ewigen Juden genannt habe, und die Christus verkündet hätten ("In fast allen Gebieten Europas, überall zeigte sich, daß durch Dörfer und Städte nicht immer die gleiche, sondern immer eine andere menschliche Persönlichkeit ging. Es verbreitete sich die Meinung, daß diese Persönlichkeit, welche in einem besonders merkwürdigen Aufzug erschien, Ahasver, der ewige Jude, sei." (4)) Legenden dieser randständigen Art, Verkündigung und Irre als letzter Widerstand gegen den Rationalismus? Was will Steiner nur damit sagen? Die letzten Reserven mobilisieren gegen den allgegenwärtigen "Materialismus"? Blitzt da unvermittelt bei Steiner einfach mal wieder ein identitärer, anti- islamischer, vor allem aber antisemitischer Reflex auf?
Hier zum Beispiel seine Aussagen bzgl der Medizin: "Wenn Sie die Entwickelung der Medizin im Mittelalter betrachten, dann haben die Juden einen ungeheuer starken Anteil daran. Und was die Araber an Medizin gebracht haben, haben sie auch wiederum mit Hilfe der Juden ausgearbeitet. Aber dadurch wiederum ist die Medizin das geworden, was sie heute geworden ist. Die Medizin ist zwar geistig geblieben, aber sie ist, ich möchte sagen, monotheistisch geblieben. Man weiß nicht mehr wie das eine Mittel wirkt, geradeso wenig wie man im Judentum gewußt hat, wie die einzelnen Naturgeister sind. So ist auch da in der Medizin ein abstrakter Geist, ein abstrakter Jahve- Dienst eingezogen, der heute eigentlich noch immer in der Medizin drinnen ist." (5)
Der "abstrakte Geist", den Steiner hier beschwört, steckt freilich in der anthroposophischen Lehre selbst darin, die als Wort- und Meister- Verkündigung auch nach Steiners Tod jahrzehntelang durch die Erbin Marie Steiner- Sivers den hungrigen anthroposophischen Adepten Happen für Happen, Vortrag für Vortrag, Zyklus für Zyklus vorgelegt wurde. Eine bemerkenswert materialistische Esoterik, die in nachgelassenen Worthappen quasi stückweise verfüttert wird und zu lähmender Passivität der Anhängerschaft führte und führt: „In den von Marie Steiner verwalteten Archiven schlummerten ungehobene Schätze, über die sie all die Jahre wie der mythische Drache Fafnir gewacht hatte, in ständigem Abwehrkampf gegen Diebe und begierige Schatzsucher, nicht ohne nach und nach Teile dieses Schatzes preiszugeben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So lebte die Gesellschaft seit Steiners Tod in der Illusion einer fortlaufenden Offenbarung, die aus der Rudolf Steiner-Halde[3] hervorquoll, obgleich der Träger dieser Offenbarung 1925 gestorben war. Die anthroposophische Gesellschaft zehrte von dieser Offenbarung, als deren geistige Erbin sie sich betrachtete, – eine Auffassung, die solange unproblematisch war, als zwischen dem Vorstandsmitglied Marie Steiner, der Erbin gemäß Testament, und den übrigen Vorstandsmitgliedern kein Zerwürfnis bestand. Als jedoch jegliches Vertrauen zwischen ihnen zerrüttet war, trat das Prekäre der Illusion, in der die Gesellschaft gelebt hatte, offen zutage und sie sah sich ihres heiligsten Gutes beraubt. Da sie über keine eigenständigen Offenbarungsquellen verfügte und die Arbeit des spirituellen Kerns der Gesellschaft, die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, sich in unproduktiven, repetitiven Ritualen erschöpfte, war die Frage des Nachlasses eine Frage auf Leben und Tod, eine Frage der spirituellen Legitimation der Gesellschaft. Von daher lässt sich begreifen, mit welcher Vehemenz und Emotion um diesen edlen Drachenhort gestritten wurde." (6)
Aber alles kommt nun einmal an ein Ende, selbst die Text-Verwertungs- Maschine Marie Steiners, die die Worte des anthroposophischen Gurus über Jahrzehnte tröpfchenweise unters begierige Volk mischte. In den 70ern stotterte die Offenbarung dann- bis auf Ausnahmen wie den bis dato geheim gehaltenen Priester- oder Klassentexten. Dafür gedieh eine Fülle von Kleinverlagen, die sich an die Interpretation der Worte des Meisters machten, etwa was das Ende der Zivilisation am Ende des Jahrtausends betraf. Man stritt sich aufopfernd darüber, ob die geheimen, quasi- sakralen Vortragsschriften für bestimmte Adressaten durch die Veröffentlichung, d.h. das Verfügbarmachen an das gemeine Volk, ihre magische Wirkung verlieren würde. Die Jahre- und Jahrzehnte lang geführten erbitterten Diskussionen demonstrierten anschaulich, dass zumindest für den internen Freizeit- Anthroposophen anthroposophische Magie aus dem Manna tradierter Worte des Meisters und sich daran anknüpfender Selbstgefühle besteht.
Aber die Tradition der gestreuten Veröffentlichungen hatte auch eine gewisse stabilisierende Wirkung. Mit dem nahenden Ende kamen die Fälscher (Nachlass von Polzer- Hoditz), die surrealen Pseudo- Okkultisten a la Peter Tradowsky (7) und die rechtspopulistischen Steiner- Apologeten. Die Klein- Verlage und anthroposophischen Zeitschriften starben weitgehend aus, dafür wucherten Mail- Rundbriefe, zeitweise Blogs, dann Social Media. Das anthroposophische Geistesgut wird von labernden Sprungschüsseln auf YouTube verwaltet und verbreitet, wie zum Beispiel der ohne Punkt und Komma predigende Axel Burkart (8), der, wie einige andere, das Handwerk des dröhnenden verbalen Schwebens und Dauerbeschalls bei der Transzendentalen Meditation gelernt hat: „Im Jahr 1974 machte der dreiundzwanzigjährige Axel Burkart die Bekanntschaft mit der Transzendentalen Meditation, nachdem er auf einem Einführungsvortrag sehr von der Ruhe und Gelassenheit der Rednerin beeindruckt wurde. Er belegte zunächst den Meditationskurs und hatte aber von Anfang an das Ziel, Meditationslehrer zu werden. Denn bereits mit den ersten Meditationssitzungen hatte sich ihm die geistige Welt als eine reale Welt erschlossen und diese Erfahrung wollte er an andere weitergeben. Zwei Jahre später bekam er in Frankreich von Maharishi Mahesh Yogi den Titel des Meditationslehrers verliehen.
Im Rückblick äußert sich Axel Burkart dankbar darüber, dass er durch Maharishi Mahesh Yogi in die geistige Welt eingeführt wurde, in das Wissen um Karma und Wiedergeburt und die Idee einer kosmischen Evolution von Sternen und Galaxien. Dennoch hätte er damals bald eine immer kritischere Haltung eingenommen. Zunächst jedoch ging es ans Unterrichten und tatsächlich kamen zu seinem ersten Vortrag gleich 100 Personen und er konnte sofort seine erste Meditationsgruppe begründen. Eine interessante Erfahrung während dieser Zeit war es auch, dass er immer weniger lernen musste, um den Stoff des Studiums zu meistern. Die Meditation hatte ganz offensichtlich die Wirkung der Stärkung eines ganz klaren Denkens.“ (9) Danach lernte er noch ein wenig zu levitieren, d.h. zu schweben, durch Wände zu gehen und unsichtbar zu werden, aber auch, sich wie in Hubschrauber in die Lüfte zu erheben. (9) Nach chronischer Appetitlosigkeit arbeitete er eine Zeitlang wieder, bevor er dann für sieben Jahre die rechte Hand des dubiosen Gurus Maharishi wurde: „Doch schon nach 6 Monaten kündigte er wieder, um an der von Maharishi Mahesh Yogi ins Leben gerufenen “Weltregierung des Zeitalters der Erleuchtung” teilzunehmen. Die folgenden sieben Jahre verbrachte er in enger Zusammenarbeit mit dem Meister selbst. Axel Burkart war von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt, da er am auf die Kündigung folgenden Tage plötzlich das Levitieren beherrschte.“ (9) So schwebte er dann in die anthroposophische Szene hinein und verwurstete gnadenlos Vokabeln aus dem Werk Rudolf Steiners, mit denen er populistisch beliebige YouTube- Türmchen baut.
Hat die jahrzehntelange Tradition der Empfänger der Wort- Esoterik Rudolf Steiners, durch Marie Steiner und das Dornacher „Nachrichtenblatt“ mundgerecht portioniert, passive Second- Hand- Okkultisten aus der Anthroposophen- Schar gemacht, fallen sie heute populistischen „Friedensforschern“, die die Interessen des russischen FSB vertreten, zum Opfer, oder den schwebenden Schwätzern aus der „Weltregierung“ Maharishis.
Weitere Exzesse sind nie auszuschließen, wie man an den Phänomenen des angeblich hellsichtigen Mediums Judith von Halle oder dem hinduistischen Gangster- Rapper Sebastian Gronbach sehen kann, der beharrlich ein Ashram betreiben möchte. Es ist, mit einem Wort, alles möglich, denn die post- anthroposophische Ära hat so viele passive, desorientierte und bedürftige Steiner- Konsumenten produziert, dass die alle ein Eckchen suchen, in dem sie es heimelig haben oder in dem sie ihr blödes Ego „ohne Übung, Zeit, Strategie und Verlust“ (10) einfach „sofort und ganz aufhören“ (10) wollen. So weit das Versprechen der anthroposophischen Currywurst, die problem- und folgenlos mit einem Häppchen herunter zu schlucken ist. Aber, möchte man sagen, immer noch besser als nahrungslos von Licht zu leben wie von Halle oder von einem manischen Redezwang befallen zu sein wie Burkart- oder gar, auf denkbar schleimigste Art und Weise, Daniele Gansers russische Propaganda, in der Russland, Hizbollah und Iran zu Friedenskämpfern für Syrien werden: „Seit 2014 bombardieren die USA Syrien. Obama hat das damals mit dem Wort „Terrorbekämpfung“ erklärt. Aber auch das ist illegal, weil kein Mandat der UNO vorliegt. Es wäre umgekehrt auch illegal, wenn Syrien die USA bombardieren würde. Im Kern geht es darum, dass die USA zusammen mit den Briten, Franzosen, Deutschen, Türken, Katar und Saudi-Arabien versuchen die Regierung in Syrien zu stürzen, also ein Regime Change.
Doch das ist bisher nicht gelungen, weil Russland und der Iran Präsident Assad verteidigen und die syrische Armee unterstützen. Die deutsche Journalistin Karin Leukefeld, die vor Ort recherchiert, hat korrekt erklärt, dass der Kampf der Russen und der Iraner in Syrien legal ist: „Die Präsenz des Iran in Syrien ist ebenso legitim, wie die Russlands und der libanesischen Hisbollah, denn Syrien hat sie um Hilfe gebeten.“ (11)
Der „abstrakte Geist“, von dem die Zeit nach Rudolf Steiner befallen sei, der „Materialismus“, den er verdammt, hat doch die angenehmen Eigenschaften von Kritikfähigkeit, Vernunft und Logik. Im post- rationalen Fake- Zeitalter, das die Techniken der Social Networks eingeläutet haben, ist eine ordentliche materialistische, rationale Erdung das einzige Mittel, einer enthemmten propagandistischen Produktivität etwas entgegen zu setzen. Den individualisierten Desinformations- Strategien heutiger Potentaten wie Trump und Putin mit ihren Techno- Apparaten wie Cambridge Analytica (12) und seinen Nachfolgern kann man nicht mit esoterischen Sprüchen begegnen. Es geht heute tatsächlich um die individuelle geistige Integrität. Wer ehrlich fragt, findet im anthroposophischen Rahmen dazu kaum Reflexion und schon gar keine Antworten. Der letzte Vertreter rationaler anthroposophischer Esoterik und Ethik ist für mich immer noch Georg Kühlewind. Was man heute sehr viel mehr findet, sind Schwätzer, Spinner und Manipulatoren. Selbst eine traditionelle Kultur- Zeitschrift wie Die Drei hat ihre Reputation immer wieder ohne Not durch aufgebrachte Verschwörungstheorien im Themenkreis 9/11 in den Ausguss gespült. (13)
Was ist nur los mit diesem Verein. Haben hundert Jahre Steinerschen Denk- Trainings, Vorträgen zum „Reinen Denken“, Konzentrations- und Karma- Übungen geistige Curry- Würste en masse produziert? Ist das angepeilte Reine Denken im Zustand philosophischer Freiheit von Schwachsinn noch irgendwie zu unterscheiden? Wo seid Ihr, Ihr anthroposophischen Helden im Geiste? Haben hundert Jahre Geburtswehen einen Rohrkrepierer produziert, der heute in Facebook- Gruppen zum Kampf Aller gegen Alle aufruft? Führt Euch die meditativ über Jahrzehnte aufgebaute höhere inspirierte Einsicht in einen neuen Daniele- Ganser- Vortrag? Ist, mit einem Wort, die Anthroposophie am Arsch?
Anmerkungen________________________________
1 Wilfrid Jaensch, Was ist die wahre Natur des Ich? Dornach 2010, S. 7
2 dito S. 70
3 dito, S. 71 f
4 Rudolf Steiner, GA 152
5 Rudolf Steiner, GA 353.187
6 Lorenzo Ravagli in https://anthroblog.anthroweb.info/2019/eine-bombe-schlaegt-ein-marie-steiner-vs-steffen-13/
7 https://anthrowiki.at/Peter_Tradowsky
8 https://www.youtube.com/channel/UCfuSf2VRuxbPQqmpxFGYN8g
9 https://dhyana.at/axel-burkart-wissen-spiritualitaet/
10 https://www.facebook.com/sebastian.gronbach
11 https://www.blauenarzisse.de/interview-mit-daniele-ganser-auch-deutschland-beteiligt-sich-an-illegalen-kriegen/
12 https://de.wikipedia.org/wiki/Cambridge_Analytica
13 z.B. hier: https://diedrei.org/tl_files/hefte/2017/Heft4-2017/03-Morau-DD1704.pdf
Nehmen wir einen mäandernden, gleichwohl exakten Vertreter der anthroposophischen Zunft wie Wilfrid Jaensch (hier seine Hymnen an die Nacht), der seine seltenen Schriften und Bücher, über die man ab und zu stolpert, mit Sätzen überschrieb wie „Jede Unterscheidung, die auf der Erde gemacht wird, hat ihren Ursprung im ganzen Weltall.“ (1) Die Überlegungen Jaenschs führen zu Betrachtungen seines Hinterhofs in Berlin, wobei er bemerkt: „Ich unterscheide mich von den Unterschieden, die ich mache, und die mein „Ich“ überhaupt erst aufwecken. Mein Selbstbewusstsein ist die Rückwirkung der Unterscheidung. Vorher war es nicht wach, also als waches Bewusstsein nicht vorhanden.“ (2) Und so singt Jaensch auch das Loblied der Europäer. „Warum erwache ich nicht für mein eigenes Erwachen? Weil ich Europäer bin. Mein erster Satz begann: Die europäische Aufklärung. Gibt es denn eine andere? Ja. (..) In Europa genieße ich, wie alle Europäer, dass ich aufwache. Ich genieße mich selbst. Darin besteht meine größte europäische Leidenschaft. Jede Träumerei macht mich unsicher. Ich spreche jetzt von dem Erwachen im eigenen Körper, etwa beim Aufwachen aus dem Schlaf. Dieses Aufwachen wiederhole ich auch tagsüber, und zwar dadurch, dass ich die Umwelt unterscheide. Denn nur indem ich die Welt unterscheide, unterscheide ich mich selbst von der Welt. Das Gewahrenden dieser eigenen Arbeit ist der Genuss des Erwachens. Und wie jede andere Leidenschaft auch, so verschwindet sie aus dem Bewusstsein, sobald sie befriedigt wird..“ (3)
So sind in der Tat die Freuden der Aufklärung zugleich die der Selbst- Konstitution. Das ist immer ein perspektivischer, ausschnitthafter Blickwinkel, auch wenn diese Einseitigkeit durchaus erkannt, durchschaut und im Dialog oder in der Reflexion in Hinblick auf die „Denkmöglichkeit“ (Jaensch) eines „Weltganzen“ überwunden werden kann. Die Reduktion auf ein perspektivisches Ich bietet so immerhin immer auch Potential. Diese mäandernde Grenze zwischen Erkenntnis, Konstituierung und Überwindung der Perspektive ist einerseits sicherlich Thema in Schriften Steiners wie der „Philosophie der Freiheit“- zugleich denunziert er aber die Konstatierung des Ich immer wieder als „materialistisch“.
So sei die Gegenwart (vor 100 Jahren) zwar "heute nicht vollständig im Materialismus versumpft" (GA 152), aber fast. Das Gegenmittel seien umherwandernde Irre gewesen, die man die ewigen Juden genannt habe, und die Christus verkündet hätten ("In fast allen Gebieten Europas, überall zeigte sich, daß durch Dörfer und Städte nicht immer die gleiche, sondern immer eine andere menschliche Persönlichkeit ging. Es verbreitete sich die Meinung, daß diese Persönlichkeit, welche in einem besonders merkwürdigen Aufzug erschien, Ahasver, der ewige Jude, sei." (4)) Legenden dieser randständigen Art, Verkündigung und Irre als letzter Widerstand gegen den Rationalismus? Was will Steiner nur damit sagen? Die letzten Reserven mobilisieren gegen den allgegenwärtigen "Materialismus"? Blitzt da unvermittelt bei Steiner einfach mal wieder ein identitärer, anti- islamischer, vor allem aber antisemitischer Reflex auf?
Hier zum Beispiel seine Aussagen bzgl der Medizin: "Wenn Sie die Entwickelung der Medizin im Mittelalter betrachten, dann haben die Juden einen ungeheuer starken Anteil daran. Und was die Araber an Medizin gebracht haben, haben sie auch wiederum mit Hilfe der Juden ausgearbeitet. Aber dadurch wiederum ist die Medizin das geworden, was sie heute geworden ist. Die Medizin ist zwar geistig geblieben, aber sie ist, ich möchte sagen, monotheistisch geblieben. Man weiß nicht mehr wie das eine Mittel wirkt, geradeso wenig wie man im Judentum gewußt hat, wie die einzelnen Naturgeister sind. So ist auch da in der Medizin ein abstrakter Geist, ein abstrakter Jahve- Dienst eingezogen, der heute eigentlich noch immer in der Medizin drinnen ist." (5)
Der "abstrakte Geist", den Steiner hier beschwört, steckt freilich in der anthroposophischen Lehre selbst darin, die als Wort- und Meister- Verkündigung auch nach Steiners Tod jahrzehntelang durch die Erbin Marie Steiner- Sivers den hungrigen anthroposophischen Adepten Happen für Happen, Vortrag für Vortrag, Zyklus für Zyklus vorgelegt wurde. Eine bemerkenswert materialistische Esoterik, die in nachgelassenen Worthappen quasi stückweise verfüttert wird und zu lähmender Passivität der Anhängerschaft führte und führt: „In den von Marie Steiner verwalteten Archiven schlummerten ungehobene Schätze, über die sie all die Jahre wie der mythische Drache Fafnir gewacht hatte, in ständigem Abwehrkampf gegen Diebe und begierige Schatzsucher, nicht ohne nach und nach Teile dieses Schatzes preiszugeben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So lebte die Gesellschaft seit Steiners Tod in der Illusion einer fortlaufenden Offenbarung, die aus der Rudolf Steiner-Halde[3] hervorquoll, obgleich der Träger dieser Offenbarung 1925 gestorben war. Die anthroposophische Gesellschaft zehrte von dieser Offenbarung, als deren geistige Erbin sie sich betrachtete, – eine Auffassung, die solange unproblematisch war, als zwischen dem Vorstandsmitglied Marie Steiner, der Erbin gemäß Testament, und den übrigen Vorstandsmitgliedern kein Zerwürfnis bestand. Als jedoch jegliches Vertrauen zwischen ihnen zerrüttet war, trat das Prekäre der Illusion, in der die Gesellschaft gelebt hatte, offen zutage und sie sah sich ihres heiligsten Gutes beraubt. Da sie über keine eigenständigen Offenbarungsquellen verfügte und die Arbeit des spirituellen Kerns der Gesellschaft, die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, sich in unproduktiven, repetitiven Ritualen erschöpfte, war die Frage des Nachlasses eine Frage auf Leben und Tod, eine Frage der spirituellen Legitimation der Gesellschaft. Von daher lässt sich begreifen, mit welcher Vehemenz und Emotion um diesen edlen Drachenhort gestritten wurde." (6)
Aber alles kommt nun einmal an ein Ende, selbst die Text-Verwertungs- Maschine Marie Steiners, die die Worte des anthroposophischen Gurus über Jahrzehnte tröpfchenweise unters begierige Volk mischte. In den 70ern stotterte die Offenbarung dann- bis auf Ausnahmen wie den bis dato geheim gehaltenen Priester- oder Klassentexten. Dafür gedieh eine Fülle von Kleinverlagen, die sich an die Interpretation der Worte des Meisters machten, etwa was das Ende der Zivilisation am Ende des Jahrtausends betraf. Man stritt sich aufopfernd darüber, ob die geheimen, quasi- sakralen Vortragsschriften für bestimmte Adressaten durch die Veröffentlichung, d.h. das Verfügbarmachen an das gemeine Volk, ihre magische Wirkung verlieren würde. Die Jahre- und Jahrzehnte lang geführten erbitterten Diskussionen demonstrierten anschaulich, dass zumindest für den internen Freizeit- Anthroposophen anthroposophische Magie aus dem Manna tradierter Worte des Meisters und sich daran anknüpfender Selbstgefühle besteht.
Aber die Tradition der gestreuten Veröffentlichungen hatte auch eine gewisse stabilisierende Wirkung. Mit dem nahenden Ende kamen die Fälscher (Nachlass von Polzer- Hoditz), die surrealen Pseudo- Okkultisten a la Peter Tradowsky (7) und die rechtspopulistischen Steiner- Apologeten. Die Klein- Verlage und anthroposophischen Zeitschriften starben weitgehend aus, dafür wucherten Mail- Rundbriefe, zeitweise Blogs, dann Social Media. Das anthroposophische Geistesgut wird von labernden Sprungschüsseln auf YouTube verwaltet und verbreitet, wie zum Beispiel der ohne Punkt und Komma predigende Axel Burkart (8), der, wie einige andere, das Handwerk des dröhnenden verbalen Schwebens und Dauerbeschalls bei der Transzendentalen Meditation gelernt hat: „Im Jahr 1974 machte der dreiundzwanzigjährige Axel Burkart die Bekanntschaft mit der Transzendentalen Meditation, nachdem er auf einem Einführungsvortrag sehr von der Ruhe und Gelassenheit der Rednerin beeindruckt wurde. Er belegte zunächst den Meditationskurs und hatte aber von Anfang an das Ziel, Meditationslehrer zu werden. Denn bereits mit den ersten Meditationssitzungen hatte sich ihm die geistige Welt als eine reale Welt erschlossen und diese Erfahrung wollte er an andere weitergeben. Zwei Jahre später bekam er in Frankreich von Maharishi Mahesh Yogi den Titel des Meditationslehrers verliehen.
Im Rückblick äußert sich Axel Burkart dankbar darüber, dass er durch Maharishi Mahesh Yogi in die geistige Welt eingeführt wurde, in das Wissen um Karma und Wiedergeburt und die Idee einer kosmischen Evolution von Sternen und Galaxien. Dennoch hätte er damals bald eine immer kritischere Haltung eingenommen. Zunächst jedoch ging es ans Unterrichten und tatsächlich kamen zu seinem ersten Vortrag gleich 100 Personen und er konnte sofort seine erste Meditationsgruppe begründen. Eine interessante Erfahrung während dieser Zeit war es auch, dass er immer weniger lernen musste, um den Stoff des Studiums zu meistern. Die Meditation hatte ganz offensichtlich die Wirkung der Stärkung eines ganz klaren Denkens.“ (9) Danach lernte er noch ein wenig zu levitieren, d.h. zu schweben, durch Wände zu gehen und unsichtbar zu werden, aber auch, sich wie in Hubschrauber in die Lüfte zu erheben. (9) Nach chronischer Appetitlosigkeit arbeitete er eine Zeitlang wieder, bevor er dann für sieben Jahre die rechte Hand des dubiosen Gurus Maharishi wurde: „Doch schon nach 6 Monaten kündigte er wieder, um an der von Maharishi Mahesh Yogi ins Leben gerufenen “Weltregierung des Zeitalters der Erleuchtung” teilzunehmen. Die folgenden sieben Jahre verbrachte er in enger Zusammenarbeit mit dem Meister selbst. Axel Burkart war von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt, da er am auf die Kündigung folgenden Tage plötzlich das Levitieren beherrschte.“ (9) So schwebte er dann in die anthroposophische Szene hinein und verwurstete gnadenlos Vokabeln aus dem Werk Rudolf Steiners, mit denen er populistisch beliebige YouTube- Türmchen baut.
Hat die jahrzehntelange Tradition der Empfänger der Wort- Esoterik Rudolf Steiners, durch Marie Steiner und das Dornacher „Nachrichtenblatt“ mundgerecht portioniert, passive Second- Hand- Okkultisten aus der Anthroposophen- Schar gemacht, fallen sie heute populistischen „Friedensforschern“, die die Interessen des russischen FSB vertreten, zum Opfer, oder den schwebenden Schwätzern aus der „Weltregierung“ Maharishis.
Weitere Exzesse sind nie auszuschließen, wie man an den Phänomenen des angeblich hellsichtigen Mediums Judith von Halle oder dem hinduistischen Gangster- Rapper Sebastian Gronbach sehen kann, der beharrlich ein Ashram betreiben möchte. Es ist, mit einem Wort, alles möglich, denn die post- anthroposophische Ära hat so viele passive, desorientierte und bedürftige Steiner- Konsumenten produziert, dass die alle ein Eckchen suchen, in dem sie es heimelig haben oder in dem sie ihr blödes Ego „ohne Übung, Zeit, Strategie und Verlust“ (10) einfach „sofort und ganz aufhören“ (10) wollen. So weit das Versprechen der anthroposophischen Currywurst, die problem- und folgenlos mit einem Häppchen herunter zu schlucken ist. Aber, möchte man sagen, immer noch besser als nahrungslos von Licht zu leben wie von Halle oder von einem manischen Redezwang befallen zu sein wie Burkart- oder gar, auf denkbar schleimigste Art und Weise, Daniele Gansers russische Propaganda, in der Russland, Hizbollah und Iran zu Friedenskämpfern für Syrien werden: „Seit 2014 bombardieren die USA Syrien. Obama hat das damals mit dem Wort „Terrorbekämpfung“ erklärt. Aber auch das ist illegal, weil kein Mandat der UNO vorliegt. Es wäre umgekehrt auch illegal, wenn Syrien die USA bombardieren würde. Im Kern geht es darum, dass die USA zusammen mit den Briten, Franzosen, Deutschen, Türken, Katar und Saudi-Arabien versuchen die Regierung in Syrien zu stürzen, also ein Regime Change.
Doch das ist bisher nicht gelungen, weil Russland und der Iran Präsident Assad verteidigen und die syrische Armee unterstützen. Die deutsche Journalistin Karin Leukefeld, die vor Ort recherchiert, hat korrekt erklärt, dass der Kampf der Russen und der Iraner in Syrien legal ist: „Die Präsenz des Iran in Syrien ist ebenso legitim, wie die Russlands und der libanesischen Hisbollah, denn Syrien hat sie um Hilfe gebeten.“ (11)
Der „abstrakte Geist“, von dem die Zeit nach Rudolf Steiner befallen sei, der „Materialismus“, den er verdammt, hat doch die angenehmen Eigenschaften von Kritikfähigkeit, Vernunft und Logik. Im post- rationalen Fake- Zeitalter, das die Techniken der Social Networks eingeläutet haben, ist eine ordentliche materialistische, rationale Erdung das einzige Mittel, einer enthemmten propagandistischen Produktivität etwas entgegen zu setzen. Den individualisierten Desinformations- Strategien heutiger Potentaten wie Trump und Putin mit ihren Techno- Apparaten wie Cambridge Analytica (12) und seinen Nachfolgern kann man nicht mit esoterischen Sprüchen begegnen. Es geht heute tatsächlich um die individuelle geistige Integrität. Wer ehrlich fragt, findet im anthroposophischen Rahmen dazu kaum Reflexion und schon gar keine Antworten. Der letzte Vertreter rationaler anthroposophischer Esoterik und Ethik ist für mich immer noch Georg Kühlewind. Was man heute sehr viel mehr findet, sind Schwätzer, Spinner und Manipulatoren. Selbst eine traditionelle Kultur- Zeitschrift wie Die Drei hat ihre Reputation immer wieder ohne Not durch aufgebrachte Verschwörungstheorien im Themenkreis 9/11 in den Ausguss gespült. (13)
Was ist nur los mit diesem Verein. Haben hundert Jahre Steinerschen Denk- Trainings, Vorträgen zum „Reinen Denken“, Konzentrations- und Karma- Übungen geistige Curry- Würste en masse produziert? Ist das angepeilte Reine Denken im Zustand philosophischer Freiheit von Schwachsinn noch irgendwie zu unterscheiden? Wo seid Ihr, Ihr anthroposophischen Helden im Geiste? Haben hundert Jahre Geburtswehen einen Rohrkrepierer produziert, der heute in Facebook- Gruppen zum Kampf Aller gegen Alle aufruft? Führt Euch die meditativ über Jahrzehnte aufgebaute höhere inspirierte Einsicht in einen neuen Daniele- Ganser- Vortrag? Ist, mit einem Wort, die Anthroposophie am Arsch?
Anmerkungen________________________________
1 Wilfrid Jaensch, Was ist die wahre Natur des Ich? Dornach 2010, S. 7
2 dito S. 70
3 dito, S. 71 f
4 Rudolf Steiner, GA 152
5 Rudolf Steiner, GA 353.187
6 Lorenzo Ravagli in https://anthroblog.anthroweb.info/2019/eine-bombe-schlaegt-ein-marie-steiner-vs-steffen-13/
7 https://anthrowiki.at/Peter_Tradowsky
8 https://www.youtube.com/channel/UCfuSf2VRuxbPQqmpxFGYN8g
9 https://dhyana.at/axel-burkart-wissen-spiritualitaet/
10 https://www.facebook.com/sebastian.gronbach
11 https://www.blauenarzisse.de/interview-mit-daniele-ganser-auch-deutschland-beteiligt-sich-an-illegalen-kriegen/
12 https://de.wikipedia.org/wiki/Cambridge_Analytica
13 z.B. hier: https://diedrei.org/tl_files/hefte/2017/Heft4-2017/03-Morau-DD1704.pdf