Selbst- Realisation und Befreiung. Zur anthroposophischen Meditation

Eine qualitativ angelegte, analytische wissenschaftliche Arbeit zu anthroposophischer Meditation zu lesen- hier die bei Academia publizierte Studie „A qualitative study of motivations for meditation in anthroposophic practitioners“ (2) bringt immer neue und weit reichende Erkenntnisse mit sich. Diese Arbeit Terje Sparbys und Ulrich Otts liegt online (1) auch separat vor, und zwar bereits seit einem Jahr (September 2018)- als Ganze habe ich sie erst jetzt gelesen, auch wenn Teile und Aspekte verschiedentlich diskutiert worden sind.

Qualitative Studie bedeutet ja, dass eine Gruppe von Befragten - hier sind es etwa 30 - zu Aspekten ihrer Motivation zur regelmäßigen meditativen Betätigung befragt wurden, durchaus nicht immer persönlich, sondern auch durch Email- Befragungen. In vieler Hinsicht sind die Statements sehr aufschlussreich, auch und gerade im Vergleich zu Arbeiten zur Motivationslage in Bezug auf Meditation im allgemeinen. Man ist es gewöhnt, eine Ausrichtung und Umorientierung bei meditativ Tätigen zu sehen

- von einem äußeren Anstoss her (z.B. körperliche oder seelische Beschwerden) hin zu einer Art
- Selbst- Exploration im Verlauf anhaltender meditativen Praxis, die schließlich in eine eigentlich
- spirituelle Ausrichtung führt, in der es um Selbst- Realisation im engeren Sinne gehen kann.

In einer Arbeit von DH Shapiro (3) aus dem Jahr 1992 geht es in diesem Zusammenhang zentral um Motive in den Bereichen SR- SE- SL: SR - Selbst- Regulation- würde ich sehen als regelmäßiges Mittel, Entspannung und einen Ausgleich zu Aufgaben des äußeren Lebens zu finden, ja, das Recht und die Zeit auf ein „inneres Leben“ überhaupt erst zu entwickeln. Es ist durchaus möglich, dass der erste Anlass darin besteht, dass es in dieser Hinsicht nicht ganz rund läuft, dass eine gewisse Not besteht. Es besteht kein Grund, dies mit herablassendem Ton als bloße Tendenz zur „Selbstoptimierung“ abzutun.

SE ist eine vertiefte Phase der in der meditativen Praxis einsetzenden SE (Selbst- Exploration). Diese Selbst- Erforschung kann natürlich auf sehr verschiedenen Ebenen erfolgen, geschieht aber in einem Umfeld der Stille, der inneren Aktivität, aber auch der Entdeckung zahlreicher seelisch- geistiger Mechanismen, Manierismen und störender Einflüsse: „What is referred to here as self-realization is probably the theme that comes closes to Shapiro’s category of self-exploration (SE)“ (1). Denn Shapiros nächste Kategorie ist bereits die der SL- der „Selbst- Liberation“, einer wie auch immer gearteten Selbst- Befreiung. Für die in vorliegender Arbeit befragten anthroposophisch Meditierenden ist dies die Ebene realer geistiger und transzendenter Erfahrung, aber auch die einer „Realisation von Anthroposophie“: „Spiritual experience, develop capacities of higher knowledge, realize Anthroposophy, service to humanity, practical application“ (1)

Dieser kategoriale Wechsel ist zwar erst nach einer längeren Zeit des Praktizierens zu erwarten. Allerdings unterschieden sich die Interviewten aus dem anthroposophischen Umfeld von anderen Befragten dadurch, dass die spirituelle Komponente ihnen - zumindest theoretisch- von Anfang an bewusst war: „Certain motivations seem to be specific to Anthroposophy, especially when compared to mindfulness meditation. However, all forms of motivation identified by Shapiro can also be found among Anthroposophic practitioners. Furthermore, there are indications that the motivation for Anthroposophic practice gradually becomes more spiritual, but in ways that cannot be fully accounted for by the SR-SE-SL trajectory identified by Shapiro. The main reason for this might be that Anthroposophic meditators rarely seem to view meditation primarily as a way of self-regulation, but rather approach meditation with a spiritual understanding from the very beginning. Still, motivational shifts do hap- pen, and it will be suggested that they follow a trajectory that proceeds from external motivations to internal motions and motivations of service.“ (2)

Allerdings liegt - was nun eine reine Interpretation von mir darstellt- in diesen spirituellen Ansprüchen im anthroposophischen Umkreis auch eines der dort virulenten Probleme: Statt dass sich spirituelle Realisation - in welcher Form auch immer- aus einer meditativen Praxis ergibt, entsteht in diesem Personenkreis ein mit hohen Ansprüchen gestarteter Versuch der „Realisation von Anthroposophie“im Sinne einer „höheren Wahrnehmung“, einem „reinem Denken“, einer Vereinigung mit der „geistigen Welt“ und dem Christusgeist, usw. Der von Rudolf Steiner ausgebreitete Bilder- und Bedeutungs- Kosmos liegt ja durch seine Vorträge und Schriften nicht nur offen zutage, der praktizierende Anthroposoph möchte ihn jetzt auch realisieren, nicht nur über ihn lesen und reden. Die Selbst- Realisation wird dabei sehr leicht zur Rudolf- Steiner- Realisation, im Extremfall bis in den Verhaltens- und Erscheinungskodex hinein. Das spirituelle Element entwickelt sich also nicht phasenweise im Zuge einer Selbst- Exploration, sondern durch Imitation der Realisation eines Meisters, wobei die Art der Erfahrung, ja die Erfahrung selbst vorgegeben ist, statt sich zu entwickeln.

Aber diese Extrem- Fälle sind es nicht (oder weniger), die in dieser Untersuchung vorgestellt werden. Zwar sind die Motive breiter, aber häufig gibt es Vorerfahrungen (so ergeben die Interviews) wie religiöse Erlebnisse im Kindesalter oder spezifische Sehnsüchte nach einer Öffnung oder Vertiefung: „Again, there is one clear overarching trajectory of development that goes from external motivation, through internal, to a motivation of service. The subjects often start out motivated by something that in one way or another is given from the outside. It can be a certain disposition towards meditation, a need or longing, simply curiosity, or a sense of duty. Sometimes external life circumstances or a tendency of having difficult emotions leads to using meditation as a way of self-regulating. This can be a way of self-improvement or of realizing one’s deeper nature, which is also related to the sense that one needs meditation or that one has a need to reconnect with the spiritual world. Often meditation is motivated by trying to open up an access to a spiritual world, which one hears of or has had some encounter with earlier, or simply has had a longing for.“ (2)

Ohne diese konkrete und anhaltende Sehnsucht nach Vertiefung und Realisation ist es auch kaum vorstellbar, die lange Phase der SE (Selbst - Exploration) durchzuhalten- denn Zweifel, Störungen und lange Zeiten des Stillstands werden dem Übenden zweifellos über Jahre zusetzen. Der „Flow“ der SL - der Selbst- Befreitheit-, in der die Ideen, Bilder und Impulse sprudeln, wird halt oft nur über enorme Durststrecken hinweg zu entdecken sein, wobei sie meist tatsächlich nur durch Selbst- Blockade knapp übersehen worden ist. Die extremsten Blockaden scheinen mir aber gerade die zu sein, die mit den vorgegebenen Vorstellung zu tun haben, die z.B. durch die überhöhten und komplexen kosmischen Rudolf- Steiner- Darstellungen vorliegen. Der Versuch, durch größtmögliche Adaption und Imitation von diesen gegebenen Vorstellungen in eine imaginierte „geistige Welt“ hinein zu wachsen, erscheint nicht nur als vermessen, sondern auch nicht als praktikabel. Was man bei solchen Verrenkungen meist erreicht, sind alle Formen innerer Verkorkstheit. Tatsächlich stehen auch einzelne der in dieser Studie Befragten unter dem enormen Druck, „Anthroposophie“ nicht nur persönlich realisieren, sondern diese sogar retten zu müssen, damit sie nicht zu einer historischen Geschichte verkomme: „The final theme has to do with the idea that meditation is a way of realizing Anthroposophy. One subject stated that “meditation in many ways is what practicing Anthroposophy is all about”, and that meditation is “the foundation that in a way everything rests upon”. How this is to be understood is possibly explained best by another sub- ject who was similarly motivated: “I felt that if there is no one that works on this path of development as well as they can, then Anthroposophy will become a historical affair.”“ Neben der spirituellen Rettung und Erlösung von Anthroposophie aus einer bloßen Lehre und Überlieferung geht es solchen heutigen Heiligen dann noch - z.B. in der biologisch- dynamischen Landwirtschaft- um die Rettung des Planeten. Wer so lebt, hat zumindest keinen Mangel an Sinngebung. Was aber, wenn die Vorstellungswelt, die solche Sinngebung produziert und aufrecht erhält, angegriffen, kritisiert, systematisiert wird? Wie verletzt, wie empfindlich reagiert der Anthroposoph? Wie belastbar ist sein Weltbild, seine vorgestellte „Selbst-“, „Welt-“ und „Anthroposophie- Realisation“?

Ein Paradox, das Terje Sparby anspricht, aber letztlich nicht weiter untersucht, ist die Tatsache, dass die in der SL- Phase -der inneren Befreiung und der Initiation- angestrebte Erfüllung zugleich eine Selbst- Auslöschung darstellt; die Erfüllung stellt zugleich ihr völliges Gegenteil dar, die radikalste Selbst- Überwindung. Dieses Paradox, das sicherlich in jeder Initiation angelegt, aber sicherlich erst nach und nach verstanden (und ertragen) wird, trägt nicht unbedingt zur intrinsischen Motivation des Meditierenden bei- schon gar nicht in den radikalen Ausprägungen in der Anthroposophie: „Steiner describes the process of initiation in the book Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (How to Know Higher Worlds), but in many other places as well. Initiation in the Anthroposophic sense indeed consists of becoming someone completely different, of approaching the gate of death and consciously going through what happens when someone dies. This leads to the birth of a higher self, the person that one truly is. As part of this process, the initiand goes through a series of ordeals or tests. The highpoint of initiation consists of a meeting with a supersensible being that provides insight into the spiritual origin of the individual. In other words, initiation in Anthroposophy could possibly be interpreted as a re-actualization of the primordial event of the creation of the individual human being rather than the cosmos or the tribe, etc. This is an issue that would require further elaboration. The point here is simply that the motivation for meditation stated by the subject is highly internal; it has to do with the deepest nature of the self, and an intention of coming to know it fully.“ (2)

Natürlich. Man versteht Rudolf Steiners Aussage, die Suche nach Initiation sei der wirklich freie Akt des Individuums, denn die Motivation, sich durch lebenslanges Training in einen Zustand des Nicht- Seins zu begeben, in ein Stadium, das nach Mircea Eliade als Wiederherstellung eines „Ursprünglichen“ - also nicht- individuellen-  Bewusstseins anzusehen ist, kann tatsächlich nur als selbst geschöpft, als Akt der Freiheit, angesehen werden.

Für nicht wenige der anthroposophisch Meditierenden war die Anthroposophische Gesellschaft der Ort, der in Hinsicht auf Fragen zur Selbst- Realisation als sehr wenig geeignet erscheint- die Differenz zwischen Anspruch und Realisation erscheint hier geradezu als grotesk auseinander fallend: „On several occasions subjects reported dissatisfaction with the state of Anthroposophic community when it comes to the way it relates to the content given by Steiner, i.e., as some- thing taken on faith. This tension between the promise, intention or hope of spiritual realization, on the one hand, and its failures and ordeals connected with that endeavor, on the other, is one of the most central topics of the interviews. Subjects gave different accounts of how they dealt with it, and the details will have to be left aside here. Many, however, implicitly or explicitly take on the task of trying to enliven the core of Anthroposophy within a community where there neither is much evidence that the practices work, nor much interest in treating that as a problematic issue that needs to be discussed.

Dass sich die „Praktizierenden“ wenig oder gar keinen Rückhalt - oder ein Gesprächsforum- innerhalb der organisierten Anthroposophie mehr erhoffen, spricht für einen notwendigen Kurswechsel. Versuche gibt es ein Jahren, die aber auch wieder durch Streitigkeiten zwischen „offenen“ (auch im Sinne der meditativen Praxis) und orthodoxen Kreisen überlagert und aufgerieben werden. Die vorliegende Arbeit kann auch dazu beitragen, spezifische Elemente und Probleme anthroposophischer Meditations- Praxis greifbar, aber auch erst fassbar und formulierbar zu machen. Seit einigen Jahren wird das Thema Meditation auch wieder sichtbar im Goetheanum und in anthroposophischen Institutionen generell. Es geht in dieser Hinsicht also, allem Anschein zum Trotz, voran.

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1 https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0203184
2 https://www.academia.edu/37467581/A_qualitative_study_of_motivations_for_meditation_in_anthroposophic_practitioners?auto=download
3 DH Shapiro siehe 1, Fußnoten