Täglich sehnt sich mein Innerstes nach dem Unaussprechlichen
Das ist derselbe Weg, den ich immer ging, bald drei Jahrzehnte lang, mit Hund und ohne Hund, mit dem einen und mit einem anderen Hund, mal mit einem Freund, mal ohne. Das ist der Weg hinter dem Haus an den Feldern und Pferdekoppeln, den im heissesten Monat trocken gelaufenen Bach entlang, der von Weiden gesäumt wird. In der alten Pappel- Allee an der Wegscheide nisten im Frühjahr die Bussarde, die Milane und die Falken; man hört die Rufe der Jungen aus großer Höhe und von weit her - schneidende, fordernde Töne.
Dann, von einem Tag auf den anderen, verschoben sich die Maßstäbe - als hätte jemand meinen Schleier abgezogen, und die Gewohnheiten - die des Blicks, des Hörens und Empfindens - waren zerstoben. Derselbe Weg, aber ein Anderer, der ihn ging. Nun war der Weg jedesmal ein neuer. Jeder Gang war das erste Mal. Es ist nur die Frage, wie man schaut. Wenn man nicht mehr den neuen Eindrücken hinterher läuft, wirkt das Land, das man kennt, wie frisch gewaschen. Der weite Blick wird zu einem Ausdruck dieses Augenblicks, in dem alles aufeinander bezogen ist. Er wird zu einem einmaligen, unvergleichlich schönen Präsent, das man unverdient empfängt. Man fühlt, indem man sich mit dem offenen Leib in diesen Anblick stellt, dass man selbst existentiell darauf bezogen und damit verbunden ist. Nicht ein einziges Mal wiederholt sich irgend etwas. Das Wunder, wenn der tiefgrüne Weizen die Spitzen der Grannen gebiert, als würden sie heraus gezogen. Die Spur der Mauersegler vor dem weiß getupften Blau. Der Geruch der Erde, wenn der Nieselregen sie durchfeuchtet. Der Anblick der weidenden Pferde auf der hohen Wiese, in der strotzender Löwenzahn weiße Tupfen setzt:
Nie mehr derselbe Weg.
Nicht einmal äußerlich. Im Sommer hat die Trockenheit im dritten Jahr die Pappeln attackiert, und als der Herbststurm kam - der nicht einmal mit halber Kraft wütete-, brach doch einer der Riesen, der einen Kosmos für Insekten und Vögeln dargestellt hatte, entzwei und stürzte auf die Pferdewiese. Der begradigte Bach aus Fuß der großen Bäume versiegte vollständig, es verging noch ein Monat, dann waren die getaumelten Teile der Pappel zerlegt, zersägt und auf riesigen Haufen geschichtet. Und da ein Zahn heraus gebrochen war, nahm man das das ganze Gebiss heraus, fällte die Pappeln alle, damit sie nicht mehr den Sommer über in die Landschaft singen könnten, und nicht Heimat sein, nicht vor dem starken Wind beschützen, denn sie selbst waren zur Gefahr geworden. Wieder blieb auf den Felder der vertrocknete Mais stehen, wieder war niemand da, der die Weiden hätte schneiden können. Die Milane kommen jetzt näher an die Häuser und Straßen und werden vielleicht überfahren werden. Aber das Schlimmste ist vielleicht, dass das Land banal geworden ist. Die Pappel- Allee hatte ein Geheimnis bewahrt, das nun in alle Winde verflogen ist. Täglich gehe ich dort vorbei, täglich vermisse ich sie, täglich sehnt sich mein Innerstes nach dem Unaussprechlichen.