Heidegger on the Beach oder: Untiefen im Mysterienfeld

Ich hatte Academia einen Aufsatz entdeckt über Krishnamurti (9), der bei diesem die „Tradition der Nicht- Tradition“ konstatiert, was die Gedanken schon in einen Strudel schickt, bevor man überhaupt zu lesen begonnen hat. Und, natürlich, denken wir gern an Heidegger, der in „Identität und Differenz“ (1) über „das Identische“ meditiert, beispielsweise in Bezug auf einen der Sätze des Parmenides: „Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein.“ Heidegger konstatiert zunächst trocken: „Hier wird Verschiedenes, Denken und Sein, als das Selbe gedacht.“ (2) Und dann zweifelt er, fragt, wiederholt sich - „Denken und Sein gehören in das Selbe und aus diesem Selben zusammen“-, kreist um sich und die Worte, kann aber die eine Frage noch nicht beantworten: Was ist das Selbe? Wie kann Parmenides, ohne dass es eine Tradition des Denkens über Identität gab, diese hiermit begründen? Man kann auch weiter fragen: Wie kann Parmenides die Philosophie des Ich begründen, das diese Differenz zwischen Bewusstsein und Biologie erfährt, und in dieser Differenz zugleich seine Identität? Man kann den Satz des Parmenides von allen Seiten denken, nämlich rückwärts und um 180 Grad verdreht: Das Erleben der Widersprüche zwischen physischem Sein und Reflexion desselben erschafft das Ich, das damit ein diskontinuierliches Kontinuum darstellt, einen permanenten Widerspruch. Man kann den Satz aber auch von vorne mit Salto denken, der dann etwas konstituiert wie: Identität entsteht dort, wo der Mensch sich denkend und wahrnehmend dem Sein in seinen Objekten gegenüberstellt. Dann wäre Identität gerade im Gegenüberstehen zur dualistisch erlebten Welt vorgestellt. Letztlich gibt es auch die Möglichkeit, den Satz mystisch zu denken, als noch zu greifende Realität, indem auf einer Ebene, auf der Bewusstsein und Lebenskraft in Deckung geraten, der Mensch zu sich selber findet, indem er die existentiellen Widersprüche eben gerade überwindet.

Aber was denkt Heidegger? Er macht einen Rückzieher und verneint die Deutung einer „gedachte(n) Identität als ein Zug im Sein“ bei Parmenides. Aber was bei diesem als „das Selbe“ gemeint ist, „bleibt dunkel. Wir lassen es dunkel.“ (3) Es sei bei Parmenides wohl nicht mehr gemeint als ein Zusammenhang. Es gäbe einen Bezug, einen Zusammenhang des Mannigfaltigen, eine Einheit des Systems zwischen Bewusstsein und Sein im Menschen. Es ginge, so weicht Heidegger (bevor er sich sprach- labyrinthisch ohnehin ins Nirgendwo verabschiedet) um Beziehung, von der Identität ja nur eine Variante darstelle, um eine System mit gegenläufig arbeitenden Subsystemen. Warum nicht?

Aber schon sind wir ausgewichen ins Gebiet der Mechanik. Keine Kunst im Zeitalter der Subsumierung von Identität in Social- Media- Effekten. Ein Zeitalter der Zwitter, Pseudo- Identitäten, Artificial Intelligence, technisch identitären Masseneffekte, hybrider Kriegsführung und aufgespritzter Körper. Digitale Transformationen, Heulen in den Echokammern von Facebook, Tinder- Schönheiten und Rückkopplung- Effekte bei YouTube. Ein Musik- Produzent z.B. beschwerte sich vor ein paar Tagen, wie hybrid einer der erfolgreichsten Rapper und Produzenten, Capital Bra, die Sprache in seinen YouTube- Songs einsetze, die nichts mit realer Jugendkultur, -sprache und-music gemein habe, aber sie mit Sexismus, Gewalt, Narzissmus, Drogenkult und Kapitalismus als Fetisch (Rolex, Cabrios) so aufbereite, dass die Rückkopplung und Infizierung bereits eingesetzt habe: Die Jugendkultur imitiere diese Darbietung virtueller Clan- Kriminalität als Kult. Tatsächlich sprechen inzwischen die jungen arabischen Friseure so, während die Clips auf dem TV laufen; die Songs rieseln als Hintergrund- Musik in jedem Shop, und die Identität drückt sich aus dem Netz in die Schulen und Kinderstuben. Jo, Mann.

Und so hat Heidegger natürlich recht. Dasselbe, es bleibt dunkel. Das identitäts- stiftende hybride Selbstbild strömt aus den Massenkanälen und determiniert die Vorstellungen. Parmenides steht auf dem Kopf und wackelt mit den Zehen. Und es stellt dies nur eine einzige von vielen durch die Netze wabernden anthropomorphen und anthrophagen Identitätsmustern dar, in die die Milliarden von Zeitgenossen eingespeist werden, die sie verzehren in einem verzweifelten Akt, sich im Magen dessen, was sie verschlungen hat, gemütlich einzurichten. Nicht jammern, nicht wundern. Die Risse, die früher durch Kontinente, Rassen, Nationen gingen, finden sich heute in jedem einzelnen Individuum. Der individualistische Stil entwickelt sich und breitet sich aus wie das Corona- Virus, aber geistige Klarheit, die Sicherheit des individuellen, situativen Urteils, die Reife des abwägenden Verstandes kommen nicht mit. Ganze Infektionen von Formeln und Phrasen grassieren, weit über Grenzen, über gesellschaftliche Schichten, über Ländergrenzen hinweg. An der Stelle der faulenden, schon von Heidegger verleugneten Erkenntnis- Sicherheit wuchern infektiöse Verschwörungstheorien und plagen den angeschlagenen Geist, der seiner Abwehrkräfte abhanden gekommen ist.

Der Mangel ist so grundsätzlich, so existentiell, dass man an das - in diesem Fall fehlende- Verständnis für die Geste an sich erinnert wird. Georg Kühlewind stellt das in „Der sprechende Mensch“ (4) umfassend dar, wenn er auf die verborgene Seite der Sprache eingeht, auf die zugrunde liegenden Intuitionen der Gestik und des Hinweisens: „Wenn das Kind sprechen lernt, tritt zu einem gewissen Zeitpunkt die Möglichkeit ein, dass man ihm etwas zeigen kann. Man deutet auf einen Gegenstand oder Phänomen und benennt es; wie vieldeutig solches Deuten ist, hat bereits Wittgenstein entdeckt. Das Kind muss erraten, was gezeigt wird. Dann wiederholt es vielleicht die zeigende Gebärde und spricht die Benennung nach…“ (4) Wenn das Kind zu jung ist, schaut es auf die deutende Hand und das Gesicht des Deutenden, nicht aber auf das Objekt, auf das es verwiesen werden soll. Die Gebärde des Deuten ist an sich Sprache- muss in seiner Internationalität intuitiv erfasst werden, und ist nicht gegeben. Das Deuten muss ja auch nicht einem Objekt gelten, sondern kann ebenso einer Person, einer Gebärde eines Anderen, einer Landschaft gelten; es kann in einer umfassenden Gebärde auf Ungewissheit der Person verweisen, ja auf ein niederschmetterndes Gefühl. Meist aber und grundsätzlich wird auf ein umrissenes Objekt, ein benennbares Ding verwiesen, das als solches im Kontrast zu der Umgebung, in der es sich befindet, steht.

Was aber, wenn der Hinweis auf ein Ich und Du gemeint ist? Was, wenn das Kind den Verweis auf die Dinglichkeit verstanden hat, nicht aber auf die gemeinte Person? Und wenn doch, wie wäre die Zuschreibung des „Ich“ und „Du“ erklärbar aus der bloßen Nachahmung heraus? Denn, so Kühlewind, will man dem Kind aus der Geste und begleitenden Sprache heraus „auf diese Weise den Begriff „Ich“ beibringen, so zeigt der Sprechende auf seinen Körper und sagt „Ich“; oder er zeigt auf den Körper des Kindes und sagt „Du“. Verfährt jetzt das Kind folgerichtig oder „logisch“ nach dem voran gehenden Zeige- und Benennungsprozess, so wird es auch diesmal das Objekt des Zeichens mit dem entsprechenden Namen verbinden, d.h. den Körper des Sprechenden von nun an mit „Ich“, den eigenen mit „Du“ bezeichnen-. Wie es anfangs oft irrtümlich geschieht. Es gibt keine Möglichkeit, dem Kind zu „erklären“, dass beim Ich- Zeigen die Aufmerksamkeit, im Gegensatz zum Zeigen von Dingen, nicht auf das Objekt, sondern auf das sprechende Subjekt gelenkt werden soll; oder dass beim Du- Zeigen das Objekt nur für den Sprechenden Objekt, dem Angesprochenen aber Subjekt ist. Die Intuition des sprechenden und verstehenden Subjekts muss im Kind aufgehen, sonst kann es diese begriffe nie verstehen. Die mechanische Nachahmung versagt hier sicherlich.“ (4)

Aber neben der Intuition, dem Verstehen, das für den Akt des Hinweisens nötig ist, neben der zusätzlichen Intuition des Ich und Du - der Identität -, gibt es in Kühlewinds Augen noch ein Erfassen der personalen Präsenz: „Ich, der ich in diesem Augenblick zu euch spreche“ - eine Gegenwärtigkeit im „zeitlichen und räumlichen Sinne, aber auch im essentiellen Sinn, als Quelle des Wortes, als Teilhabe an der Bewusstseinsebene der Gegenwärtigkeit..“ (4).. , denn die „Aussage bezieht sich stets auf das gegenwärtige, eben erklingende Wort“ (4).

So weit geht es bei Heidegger nicht, ja es geht nicht einmal ansatzweise in das Konkrete kommunikativer Erfahrungen und Begegnungen. Er führt, wie erwartet, den Satz des Parmenides aus, indem er die angenommene Identität von Sein und Denken Schritt für Schritt lockert und in ein vages Verhältnis setzt: „Wie wäre es, wenn wir, statt unentwegt nur eine Zusammenordnung beider vorzustellen, um ihre Einheit herzustellen, einmal darauf achteten, ob und wie in diesem Zusammen vor allem ein Zu- einander- Gehören im Spiel ist?“ (5) In der Folge führt Heidegger, sehr wenig überraschend, die Natur des Menschen als etwas „Seiendes“ wie Stein, Baum und Adler aus. In dieses Seiende sei der Mensch sogar eingeordnet. Allerdings bleibe er als denkendes Wesen zwar bezogen auf dieses Sein, aber nicht nur. Es west ganz mächtig bei Heidegger, es gibt ein An- Wesen und eine Lichtung, eine Verflechtung und ein Währen, aber das sind mehr sprachliche Jongleur- Stücke, um sich dann abstrakt dem menschlichen Sprung aus dieser Zuordnung zum Sein zu widmen. Das Spezifische der Verstrickung Heideggers liegt darin, dass er in dieser Sprunghaftigkeit zugleich Technik, Atom- Zeitalter, Automatisierung und mögliche Knechtschaft des Menschen mitdenkt. Die Sachlichkeit geht ihm in Grunde verloren, ja eigentlich selbst die nüchterne Betrachtung des Satzes des Parmenides. Stattdessen werden immer weitere Wortgebilde wie Tao und Ge- stell eingeführt, die das zivilisations- müde Jonglieren Heideggers bestenfalls verschleiern. Die Präsenz des Subjekts und dessen Intuition, in der die Identität zwischen Sein und Bewusstsein jedes Mal real wird, ist ihm völlig entglitten- das Worthafte jedes Subjekts, das sich selbst vollkommen ausdrückt und enthüllt, aber auch gegenseitig sprechend berührt und befruchtet.

Kühlewind erinnert daran, dass der „Innenakt“ im Sich- Ausdrücken, das „Vergessen des Ich“, allerdings immer möglich ist. Dann wird die Sprache widersprüchlich oder gerinnt zur puren Information, ja zur Mechanik, die ja auch immer Heideggers Thema ist: „Das Vergessen des Innenakts führt dazu, dass das Wort uns nur noch als Mittel zur Information dient, die von niemandem herstammt und an niemanden gerichtet ist“ (4), was letztlich nicht nur zur verzerrten technologischen Anonymisierung führt, sondern vor allem zu einem Verlust der Wahrnehmung, des Empfindens „bei der bewussten oder nichtbewussten Falschaussage bzw bei mechanischem, unaufmerksamem Sprechen“ (4). Werden der Sprechende, die Intention, das Gerichtetsein an ein Du, das Verweisen auf etwas vergessen, entstehen phrasenhafte Ausgeburten und propagandistische Hüllen für verborgene Intentionen, für aufreizende Suggestionen, für Hass. Auf der Grundlage dieses Verfalls grassieren die Fake- News und Verschwörungstheorien.

Nicht die Entkopplung vom Sein - wie es Heidegger darstellt- ist die Gefahr, auch wenn die Technik daraus entsprang. Die Entfremdung des Gehörten und Gesagten von der Person dagegen führt, wenn auch mittels der Technik der Massenmedien und Social Networks, zu einer Krise. Suggestion, Pseudo- Authentizität, zerstörte gesellschaftliche Strukturen, das Aufwallen enthemmter sprachlicher Muster, der Verlust innerer geistiger Orientierung: Das sind die Zeichen für die Identität, die den Boden verliert zwischen Sein und Bewusstsein.

Es wird, so Kühlewind, Zeit, sich an das „Apriori der Argumentation“ zu erinnern, nämlich daran, dass der Mensch ein essentiell kommunikatives und auf Verständnis ausgelegtes Wesen ist- dass „zwischen Ich- Wesen prinzipiell eine grenzenlose Verständigung möglich ist“ (6), um es in Kühlewind Worten zu sagen. An den Bruchlinien der Sprache wuchern allerdings die Ideologien, die Phrasen, die Erstarrung, die Regression, der Hass-, im Sinne einer Ersatz- Identität oder Religion, ein im Extremfall blindes, gewalttätiges Taumeln mit dem Mob, auf der Suche nach einem geeigneten Opfer. Die Regression ist zweifellos immer möglich, ja sogar wahrscheinlich, weil sie ein Rückfall aus der Kultur und der Bemühung ist. Verstehen dagegen ist immer anstrengend, das Aushandeln, das Überwinden der Befremdung, das Einlassen auf das Andere, Ungewohnte, der Perspektivenwechsel. Dass das Fremde bereichert, merkt man hinterher. Die Regression in der Wagenburg ist immer schlicht und schafft auf direktestem Weg identitäre Gefühle, wenn auch vielleicht mit einem Mob verbunden, einer simplen nationalen oder sexuellen Eskapade, einer Beschämung, die man auch erst hinterher bemerkt- bestenfalls.

Währenddessen sitzt Heidegger am Strand und genießt die schöne Aussicht. Wo andere Wellen sehen, baut er das „Sein des Seienden“ als neue Metaphysik, oder, wie er es nennt: „Onto- Theo-Logik“ (7) - ein Pseudo- Mysterium aus aufgetürmten Begrifflichkeiten jenseits der Dinglichkeit: Heidegger, „nicht einfach Denker, sondern Denker- Fürst, kein Primus inter pares, sondern ein Einziger, ein Solist und Solitär- ein Prophet aus unvergleichbarem Mysterienspiel. Verständlich, dass sich viele, die Heideggers Texte lasen und lesen, a corps perdu in ihnen verloren und als Mysten im Gefolge des Hierophanten wieder aus ihnen hervorkamen. Heidegger mag den Subjektivismus des europäischen Denkens überwunden haben, doch hat er ihn nicht durch einen Super- Subjektivismus seiner Denk- Performance ersetzt?“ - so Peter Trawny in Heideggers Fragmente (8)

Und während Heideggers schöne Aussicht ins Mysterienfeld abdriftet - und ein weites Feld von Konnotationen und wüsten Landschaften hinterlässt, voller antisemitischer Ruinen und Fragmente - drängen die Mysterien eines Rudolf Steiner seit jeher dahin, Wissenschaft zu werden. Je beschränkter der Blick, desto größer der Subjektivismus, der Anthroposophie zur Sonderform der Geistes- Wissenschaft erklärt, die Erzengel unter den Geistes- Mikroskopen der Geistes- Forscher untersucht. Diese Anthroposophen lassen das Manna von Himmel tropfen wie Regen, während Heideggers Blasen am Strand ins ungefähre Blau verschwimmen. Der durch nichts belegte Anspruch der Anthroposophen auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Tätigkeit (die hauptsächlich im Rezipieren ihres Meisters besteht, wobei platte Deduktionen und Projektionen bis in die politischen Felder hinein vorgenommen werden) wird auch durch hundertjähriges Wiederholen nicht relevanter. Und dennoch: Gelegentlich gebiert auch diese graue Mutter ein produktives Wesen wie den bodenständigen Denker Georg Kühlewind. Es kommt vor.





::::::::::::::::::::::::::anmerkungen verweise

1 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957
2 s. 1, S. 14
3 s. 1, S. 15
4 Georg Kühlewind, Der sprechende Mensch, Frankfurt am Main 1991, S. 139 ff
5 MH, s
6 GK, S. 142
7 s. 1, S. 62f
8 PETER TRAWNY, Heideggers Fragmente. Eine philosophische Biographie, Frankfurt am Main 2018
9 https://www.academia.edu/28420260/A_Pathless_Land_Krishnamurti_and_the_Tradition_of_No_Tradition?email_work_card=title