Von der Freundschaft und vom kosmischen Du

Natürlich sollte man niemanden überfordern. Auch Freundschaften nicht. Es mag diese scheinbar unverbrüchlichen alten Beziehungen geben, von denen Geschäfte, Lokalkolorit und gemeinsame Abenteuer in der Jugend leben, aber oft waren doch die Umstände, Partner oder ausgerollten moralischen Defizite letztlich unüberwindliche Bruchpunkte. Da gibt es nichts zu beklagen, aber auch nichts zu beschönigen: Die meisten dieser Beziehungen gehören einer Ära innerhalb des Familienlebens an, in der sich Bedürfnisse und Interessen überschnitten.

Simone Weil sieht das Geschenk, das zur nackten Biografie Hinzugegebene in der Freundschaft: „Die Freundschaft zu wünschen, ist ein großer Fehler. Die Freundschaft muss eine Freude sein, die von selber kommt, so wie jene, die die Kunst oder das Leben gibt (die Freude am Ästhetischen). Man muss sie zurückweisen, um würdig zu sein, sie zu empfangen: sie steht auf einer Stufe mit der Gnade (..). Sie gehört zu den Dingen, die einem „obendrein gegeben“ werden.“ (1)

Dieser Vergleich, zumindest der Bezug zur Einweihung, den ich hier sehe, wirkt hoffentlich nicht zu gestellt. Das Bemühen, das Abarbeiten, das Drumherum- Phantasieren, das Begehren, die damit verbundenen Selbstgefühle, die Fesselung, die Besessenheit, das alles sind ja auch Begleitumstände, die die moderne, areligiöse, rationale Novizenschaft umkleiden- vor allem dann, wenn sie auf rosenkreuzerischem Wege (d.h., als Logos- Suche) eine Sache ist, die man ganz und gar mit einem inneren Du ausmacht, mit einem moralischen Impetus, den man aus sich selbst heraus schöpft. Auch in Bezug auf die Einweihung ist jede Überspanntheit schädlich, zumindest hinderlich- so wie jedes Krallen an der Freundschaft diese von innen aushöhlt. Hier wie dort ist die Freiheit, ja die „Freude, die von selber kommt“ (Weil) essentiell.

Selbstverständlich sind weder Freundschaft noch Novizenschaft erklärbar: Allerdings kann eine langjährige Vertrautheit auch hilfreich sein- zumindest dann, wenn man sich auch immer wieder neu ins Auge fasst, sich gemeinsam an Zeitumstände, Status, individuelle Wandlungen anpasst. Auch die zeitgenössische Novizenschaft hat ihre eigenen Traditionen, die auch auf überwundenen Phasen beruhen. Die Zeiten, in denen es um äußerliche Symbole, Orte, Gruppen- Zugehörigkeiten, Mantren, Definitionen, Selbst- Zuschreibungen, Selbst- Überhöhungen, geistige Entstellungen in ideologisierter Art ging, sind dankenswerter Weise vorbei. Man hat über die Jahre oder Jahrzehnte gelernt, dass die Inspiration, die „auf einer Stufe mit der Gnade“ (Weil) steht, eben nicht herbei gezwungen (nicht einmal herbei- gewünscht) werden kann. Es ist eine Freude, eine Leichtigkeit darin, eine vollständige und ebenbürtige Beziehung zu einem geistigen Du, wie dies Simone Weil in Bezug auf die äußeren Freundschaften schildert, zu suchen. Und so weiß man auch, dass die Freiheit dieses geistigen Du auch etwas ist, was dieser innerlichen Freundschaft zugrunde liegt. Man kann, Simone Weil abwandelnd, auch artikulieren: „Die geistige Begegnung zu wünschen, ist ein großer Fehler.“ Es ist tatsächlich, nicht im analogen, sondern im ganz buchstäblichen Sinn, eine Freundschaft. Ich nenne es dennoch gern Novizenschaft, weil dieser Aspekt auch dazu hört: Es ist eine immer neue Begegnung, aber auch ein immer neuer Anlauf. Man selbst ist frisch, hat die kreisenden Gedanken, die sich ballenden Gefühle, die aufgestauten Impulse, ja selbst die körperlichen Umstände, alle abgelegt. Man ist frisch und neu wie am ersten Tag im Sinne eines fokussierten Ich. Man ist reine Präsenz, die sich auf nichts stützt, auf keine Selbstdefinition, kein Alter, keinen Status, kein Selbstgefühl. Man ist das Licht der Aufmerksamkeit.

Erst dann, nur dann, wird man präsent und wesentlich für die geistige Freundschaft. Man sinkt in einen tieferen Grund, in ein flüssiges Element, in einen Status, der kein Außen und kein Innen kennt. An dieser Stelle beginnen die Gespräche, aber, womöglich, noch in einer unbekannten Sprache. Das Vertraut- und Vertraulich- Werden hat hier erst begonnen; es ist ein langer Weg, ein Einverstanden- Sein, das man immer wieder erneuert. An der Grenze dann vielleicht eine Erfahrung wie diese, die Rudolf Steiner in seinen okkulten Vorträgen so beschreibt: „Es bewirkt, dass diese menschliche Seele nach und nach anfängt, ein Unbehagen darüber zu empfinden, dass man überhaupt dieser einzelne Mensch ist, dieser einzelne persönliche Mensch ist.“ (2)

Aber ist das nicht auch ein Moment, den man im Ansatz auch in Momenten der Freundschaft erlebt?- eben das Element, dessen man nach Simone Weil würdig sein muss, um sie empfangen zu können: Nämlich dass der Andere eben ein Anderer als man selbst ist, dass man dessen Intentionen erleben, erfahren, annehmen kann, ohne sich im geringsten zu verlieren- oder, vielleicht, einen Augenblick lang, wenn man die fremden, die anderen Intentionen in sich erlebt werden und die eigenen ganz und gar schweigen? Der Andere in mir - ich im Anderen: Nichts anderes als diese Annäherungen an ein kosmisches Du liegt in der Versenkung.

Das Prozedere bis zu diesem Punkt wird von den Lehrern und Meistern - ob Sri Aurobindo, Rudolf Steiner, oder A.H. Almaas uvam- übereinstimmend so geschildert: „Zunächst, wenn Frieden im Geist zu einem relativ stabilen Zustand geworden ist, fas absolute Stille erreicht ist, und wenn unsere Sehnsucht oder unser Bedürfnis angewachsen, andauernd und durchdringend wie ein inneres Loch geworden ist, bemerken wir ein erstes Phänomen, das unabsehbare Konsequenzen für den ganzen Rest unseres Yoga hat. Um den Kopf und besonders im Nacken spüren wir einen ungewöhnlichen Druck, der sich wie ein falscher Kopfschmerz anfühlen kann. Anfangs kann man ihn kaum lange aushalten und schüttelt ihn ab, wir suchen Ablenkung, wie „denken an etwas anderes“. Allmählich nimmt dieser Druck eine stabile Form an, und wir spüren etwas wie einen Strom herab fliessen- einen Kraftstrom, der sich nicht so unangenehm wie elektrischer Strom anfühlt, sondern eher wie eine flüssige Masse. Wir merken dann, dass der „Druck“ oder der falsche Kopfschmerz zu Beginn einfach durch unseren Widerstand gegen das Herabströmen der Kraft verursacht war und dass es nur darauf ankommt, ihre Bahn nicht zu behindern (das heisst, den Strom im Kopf zu blockieren), sondern sie von oben bis unten min die Schichten unseres Wesens herabzulassen. Dieser Strom ist zu Beginn ziemlich krampfartig, unregelmäßig und ein wenig bewusste Anstrengung ist nötig, um wieder an ihn anzuschliessen, wenn er versickert; dann wird er regelmäßig, natürlich, automatisch und vermittelt das Gefühl frischer Energie, wie ein andere Art Atem, der weiter als der unserer Lungen ist und der uns einhüllt, badet, erleuchtet und zugleich mit Festigkeit erfüllt.“ (3)

Freilich, man sollte diese Phänomene auch nicht überbewerten und sich an ihnen nicht festbeißen. Das Einsetzen der „Lichtatmung“ dieser Kategorie bedeutet erst die Vorbereitung auf den Zustand reiner Präsenz. Es entwickelt sich eine ähnliche, horizontale Ausstrahlung, die aus dem Herz- Chakra über die Hand- Innenflächen nach Vorne strömt, es entwickelt sich, nach vielen Anläufen, eine Ausstülpung der Kräfte, die sich im Kehlkopf komprimieren- bis hin zu einer Hülle des eigenen Wesens, die als Ganzes erlebt wird. Dann wird selbst diese Hülle transparent und das Selbst begibt sich ins reine Sein ohne Rückversicherung, ohne Abstützung. Wie oft ist dieser Augenblick der Leere* beschrieben worden, wie oft besungen, wie oft zelebriert! Es ist kein Augenblick des Verlusts, sondern der der Wahrnehmung eines anfänglichen tieferen Empfindens, das flüssiger und weniger greifbar wirkt als die körperlichen Rückversicherungen. Es war nur einfach ein Übergang von vielen, eine Improvisation, selbstverständlich- so wenig Teil einer Übung, eines Konzepts oder einer Strategie wie das Gespräch mit dem Freund.

Das Gespräch steckt ohnehin voller Rätsel und Paradoxien. Es ist ein Atemholen zwischen Hingabe und Innehalten, Bei- sich- Sein und In- den- Anderen- Aufgehen, und darin ähnelt es dem Hören. Für die Hirnforscher ist beim Hören als einzigem Sinn praktisch keine Verzögerung in der hirn- physiologischen Verarbeitung des Sinnesimpulses festzustellen. Beim gewöhnlichen Hören ist der Mensch Raum geworden, er ist außer sich. Das Paradox besteht darin, dass er im Außer- sich- Sein ganz bei sich ist- was nebenbei aufs Schönste zeigt, wie sehr das Gefühl, Wesen *im* Körper zu sein, illusionären Charakter hat. Hörend ist der Mensch ausgegossen und so ganz bei sich; er deckt den Raum ab, in dem der Gesang eines Vogels erklingt, er moduliert den Vogelklang zeitlich mit, er fühlt den Raum des Klangs und spürt, wie er durch die Sonne erwärmt wird, ja Teil des Lichts, der Wärme und des Raums ist, in den das Ich sich wahrnehmend erstreckt.

Dieselbe Erfahrung macht man natürlich in der Annäherung an das kosmische Du. Man erlebt alle Phasen des sich Ausgießens, der geistigen Hingabe, der Potenzierung von Präsenz und Konzentration, die flüssigen, sphärischen Charakter annehmen. Die Erfahrung ist auch hier durchgängig: Der Vorgang des Verschmelzen mit der Intuition, der Hingabe an die geistige Sphäre und an das kosmische Du ist zugleich ein immer tieferes Verbinden mit sich selbst. Es gibt ein auch emotionales Gefühl von Authentizität, von Übereinstimmung mit sich selbst, zumindest nachdem man - wie es Rudolf Steiner schildert (2)-, praktisch durch ein Meer von auf- und abschwellender Dankbarkeit und Scham gegangen ist- keine religiösen Klischees, sondern eher etwas wie das Branden von Ebbe und Flut, das durch einen selbst geht, tief in der Zeitlosigkeit. In diesem Atmen von Ebbe und Flut geht es einem auf, wie alles mögliche intuitiv im Verstehen aufleuchtet, weil das Selbst wie ein transparenter Spiegel wirkt: Dass das kosmische Du, das sich wie denkend und träumend in den Formen und Farben des Seins offenbart, zugleich und als Opfer diesen Funken des Ich entzündet hat, der das kosmische Ich jetzt betrachtet: Ich im Ich. Es ist, wie in einem guten Gespräch zwischen Freunden, eine gegenseitige Wahrnehmung: eine gegenseitige Offenbarung, die immer Anfang, immer improvisiert ist, und immer entwicklungsfähig bleibt, niemals aufhört und niemals vergessen werden kann. Was in der völligen Zeitlosigkeit erlebt wird, bleibt bestehen.

Es kommt aus dem Innersten, und ist doch zugleich ein Anderes, etwas Neues, ein Aufhorchen in der Hingabe des Lauschens in die Stille. Wie jede Freundschaft kann auch diese keine Sentimentalität gebrauchen, geschweige denn Routine. Sie hat etwas so Intimes, dass sie nur schwer geteilt werden kann, was ja auch für die anderen Beziehungen im Leben gilt:  „Man mag drei- oder viertausend Menschen gekannt haben, man spricht aber immer nur von sechs oder sieben“, soll Elias Canetti gemeint haben. Von diesen sechs oder sieben Freundschaften wird keine wie die andere sein, und den einen Freund kann man dem anderen nicht erklären, manchmal nicht einmal nahe bringen. Auch die Freundschaft zum kosmischen Du wird durch Worte sofort schal und flach. Oft spricht man nicht einmal davon, manchmal zu niemandem, obwohl diese Freundschaft eine treibende Kraft, ein sehr authentischer Kernbereich des eigenen Seins ist. Authentisch in so weit ausgelegtem Sinn, dass sie bis in die Extreme tragen wird, bis in die eigene Vernichtung, Qual und den Tod: man trägt diese Freundschaft durch alle Wandlungen hindurch, und sie selber trägt einen auch. Was hier gemeint ist, beschreibt Simone Weil in ihren Tagebüchern (4) zwischen Beschäftigung mit der Bhagavadgita und Thomas von Aquin kryptisch mit „Augenblick des Nicht- Denkens, Pol, Eintreten der Ewigkeit in die Zeit.“


________________________Anmerkungen & Verweise

1 Simone Weil, Cahiers 1. Aufzeichnungen. München Wien 2017, S 106f
2 Rudolf Steiner, Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst? Dornach 1976, S. 96
3 Sri Aurobindo zitiert in A.H. Almaas, Essenz. Der diamantene Weg zur inneren Verwirklichung, Ulm 1997, S. 76
4 Cahiers 1, S 287
* Simone Weil in Cahers 1, S. 305 über diese hier gemeinte Leere: "Ein Augenblick der Leere im Denken lässt bei äußerster Aufmerksamkeit die folgenden Gedanken an Kraft zunehmen und erhebt sie in den Bereich der Erkenntnis der zweiten Art." (..)