Identifikation und Partizipation auf dem anthroposophischen Schulungsweg. Steiners Bologna- Vortrag

Erkenntnistheorie und Geistesforscher



So oft stösst man ja nicht auf Artikel Rudolf Steiners, die von ihm selbst redigiert worden sind, mit Einführung und Nachspann und konzeptioneller Einbettung versehen, um dadurch zu etwas zu werden, das gern als Rudolf Steiners Erkenntnistheorie bezeichnet (1) wird - kein Stempel späterer Interpreten-, denn Steiner hat den Aufsatz - die Bearbeitung seines Vortrags auf einem Philosophie- Kongresses (vom 8.4.1911) - genau so benannt und in diesem Sinne auch konzipiert. Heute wird dieser komplexe Aufsatz Rudolf Steiners gern nach dem Ort des Kongresses „Bologna- Vortrag“ genannt. Allerdings bezog er sich noch, kurz vor der Verselbständigung und Reorganisation in die Anthroposophische Gesellschaft, auf Theosophie (2) und - innerhalb des Mittelteils des Aufsatzes- auf einen aus Steiners Ausführungen abgeleiteten Karma- Begriff. Dadurch ist der Aufsatz immer wieder in unterschiedlichem Kontext erschienen (2).

Der Mittelteil, der einer Reflexion Steiners voran geht, vermittelt einen dichten, intensiv formulierten Eindruck des Initiations- Prozesses, der Steiner als essentiell vorschwebte; man sieht auch dessen Widersprüchlichkeit und Schwäche. Diese liegt vor allem in der Fixierung Steiners auf Symbole, Bilder und „heilige“ Attitüden, die zumindest in den ersten Phasen im Mittelpunkt seiner meditativen Anleitungen stehen. Während Steiner annahm, dass die heiligen Symbole zu innerer Stille, religiöser Empfindung und einem Bewusstseins- technischen Durchbruch führen würden, wenn der Novize sich nur genug anstrengte, hat sich erwiesen, dass die Schüler nur zu häufig Steiners Narrative nicht nur nicht überwinden können und mögen, sondern sich behaglich in ihnen einrichten und sie fortspinnen. Allerdings hat Steiner in diesem Vortrag auch formuliert, wie sich der Durchbruch, wenn er denn stattgefunden haben sollte, für den Adepten anfühlt: "Tritt der Erfolg ein, so besteht er darin, daß sich die Seele wie herausgehoben fühlt aus der körperlichen Organisation. Es tritt für sie etwas ein wie eine Änderung ihrer Seinsempfindung." (1)

Außerdem hat Steiner seinen Mindeststandard an denjenigen formuliert, der sich in dem von ihm gemeinten Sinne „Geistesforscher“ nennen darf. Dieser Standard besteht gerade in einer bewussten Emanzipation von Steiners eigenem anthroposophischen Symbolismus:

Der Geistesforscher muß sich fähig machen durch scharfes Konzentrieren auf dasjenige Seelenleben, das sich in ihm durch die Symbole ergibt, den Inhalt der Symbole aus seinem Bewusstsein vollständig zu entfernen. Was er dann noch innerhalb des Bewusstseins festzuhalten hat, ist nur der Vorgang, dem sein Seelenleben unterworfen war, während er sich an die Symbole hingegeben hat. In einer Art realer Abstraktion muß der Inhalt des Symbol- Vorstellens abgeworfen werden, und nur die Form des Erlebens an den Symbolen im Bewusstsein vorhanden bleiben.. das Bewusstsein macht das innere Weben des Seeleninhaltes zum Gegenstande der Meditation.“ (1)

Ein solcher Vorgang der Emanzipation vom Übervater mit seinem Korsett von frommen Bildern, Listen, Tabellen und Mantren erfordert entschlossene, bewegliche, unorthodoxe Denker, keine manipulativen Gurus, Eso- Onkels, Atlantis- Schauer, Hell- und Geisterseher. Genau solche Onkels und Tanten werden aber heute - wie in Anthro- Wiki (3)- als „Geistesforscher“, ja als "Nachfolger" Steiners betrachtet: „Ein Geistesforscher oder Geisteswissenschaftler im modernen rosenkreuzerischen Sinn ist ein Eingeweihter, der über gewisse hellsichtige Fähigkeiten verfügen muss, um die geistige Welt eigenständig wahrnehmen zu können und der auch die entsprechende Inspiration hat, um das geistig wahrgenommene richtig deuten zu können. Höhere geistige Wahrheiten, wie beispielsweise die Rückschau in frühere Erdenleben einzelner Menschen, sind nur der Intuition zugänglich. Darüber hinaus muss der Geistesforscher auch über die notwendigen intellektuellen Fähigkeiten verfügen, um seine Forschungsergebnisse in einer wissenschaflich klaren Form darstellen zu können, die unserem gegenwärtigen Bewusstseinsseelen- Zeitalter angemessen ist.
Nicht nur Rudolf Steiner kann als Geistesforscher gelten, sondern auch seine Nachfolger, wie Valentin Tomberg, Heide Oehms, Willi Seiß, Hermann Keimeyer, Jostein Saether, Iris Paxino und Judith von Halle, sowie weitere, wie z.B. Verena Staël von Holstein.“ (3)

Wie wissenschaftlich ist Steiners Geisteswissenschaft?


Das aber ist durchaus nicht das einzige konstruktive Problemfeld in Steiners Initiations- Darstellungen.

Gehen wir auf die Absicht des Aufsatzes selbst ein. Ein Evergreen vergeblicher Bemühungen Steiners besteht darin, das Verhältnis von Anthroposophie („Geistesforschung“) zur Wissenschaft seiner Zeit in dem Sinne zu klären, dass die von ihm gemeinte Geisteswissenschaft Teil dieser Wissenschaft sei. Auch vorliegender Vortrag beabsichtigt wieder einmal, dieses Verhältnis ein für allemal zu klären: „Es wird durch Einhaltung dieses Gesichtspunktes allein möglich sein, in präziser Art zum Ausdruck zu bringen, wie sich das Verhältnis der hier gemeinten Geistesrichtung zu den wissenschaftlich-philosophischen Vorstellungsarten der Gegenwart ansehen läßt.“ Die Rahmenbedingungen für wissenschaftliches Arbeiten sind Steiner auch durchaus bewusst: „Die letzten Jahrhunderte haben dahin geführt, als «wissenschaftlich» dasjenige gelten zu lassen, was sich durch Beobachtung, Experiment und deren Bearbeitung durch den menschlichen Intellekt jederzeit für jeden Menschen ohne weiteres nachprüfen läßt. Dabei muß aus den wissenschaftlichen Feststellungen alles das ausgeschlossen werden, was nur innerhalb der subjektiven Erlebnisse der menschlichen Seele eine Bedeutung hat.“ (1)

Dennoch stellt er die anthroposophische Erkenntnis- Methodik in den denkbar größten Widerspruch zu jeglicher wissenschaftlichen Anschauungsweise, die Rudolf Steiner übrigens auch noch geruht, in seinem Aufsatz in Anführungszeichen ("wissenschaftlich")zu setzen. Der Widerspruch ist derartig umfassend, dass die Methodik der Erkenntnis- Gewinnung, die er meint, schon deshalb unwissenschaftlich sein muss, weil der Bewusstseins- Zustand, der nötig ist, um diese Erkenntnisse zu gewinnen, von Menschen (den „Geistesforschern“) erst entwickelt werden muss: Die gemeinte Erkenntnis bezieht sich auf etwas, was „nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern etwas Fließendes, Entwicklungsfähiges“ sei, und sich auf einen geistigen Zustand beziehe, der „hinter dem Umkreis des normal bewußten Seelenlebens“ (1) liege, aber nicht identisch sei mit dem „Unterbewusstsein“ (1). Diese erst zu entwickelnde Bewusstseinsform als Grundlage geistiger Forschung sei ebenso klar wie das denkende, logische Bewusstsein, befinde sich aber offenbar auf einer neuen, erst zu erreichenden Ebene: „Innerhalb dieser lebt der Mensch geradeso bewußt, sich logisch kontrollierend, wie er im Horizonte des gewöhnlichen Bewusstseins lebt. Nur muß diese Seelenverfassung erst durch bestimmte Seelenübungen, Seelenerlebnisse hergestellt werden. Sie kann nicht als ein gegebenes Faktum der menschlichen Wesenheit vorausgesetzt werden.“ (1)

Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass Rudolf Steiner nicht ernsthaft einen akademischen Zweig eröffnen wollte oder wissenschaftliche Geltung suchte; nicht allein der Gegenstand seiner Betrachtung (die „geistige Welt“) wie der erst zu erwerbende Bewusstseinszustand des „Geistesforschers“ sind Hürden, die Steiner bewusst gewesen sein müssen; er erwartet allerdings von seinen Adepten, dass sie die wissenschaftlichen Standards wie Beobachtung, Experiment, Wiederholbarkeit, intellektuelle Überprüfbarkeit bei ihrer geistigen Arbeit einhalten- wenn auch unter den Bedingungen einer Grenzüberschreitung, die darin besteht, dass hier das betrachtende Bewusstsein zugleich das Untersuchungsobjekt ist- ein Forschungsprojekt, ein Unternehmen, das das Bewusstsein des Forschers selbst zum Gegenstand hat, ohne dass es dann noch gegenständlich sein könnte.

Gespiegeltes Bewusstsein und die reale Basis des Ich


Der Bologna- Vortrag ist in seiner Komplexität auch ein Baustein für Betrachtungen zur Bewusstseins- Geschichte der anthroposophischen Bewegung - ein Baustein wie etwa Johannes Kierschs Buch „Vom Land aufs Meer. Steiners Esoterik in verändertem Umfeld“ (4). Kiersch sieht darin, wie Steiner im hier behandelten Bologna- Vortrag zwar eine Erkenntnistheorie entwickelt - und auch eine Methodik vorschlägt, diese Theorie im eigenen Bewusstsein nachzuvollziehen-, dass diese aber praktisch auf dem Kopf steht; Steiner stellt einen partizipierenden, kosmischen, gleichwohl seiner selbst bewussten geistigen Zustand in den Mittelpunkt der Betrachtung, aus dem sich der Bewusstseinszustand des Lesers, Zuhörers, Novizen als Sonderform eines bloß „gespiegelten“, durch Sensorien und Körperbezug herunter gebrochenen Zustands ergibt: „Neben der erkenntnistheoretischen Sicherung seines „übersinnlichen“ Forschungsweges - „Geistesforschung ist damit als erkenntnistheoretisch denkbar nachgewiesen“ - bringt dieser Vortrag eine gegenwärtig in höchstem Grade aktuelle erkenntnispsychologische These ins Spiel: die Auffassung, dass der physische Leib des Menschen nicht als reale Basis des Ichs, sondern nur als Spiegel zu denken sei und das Ich sich in den Dingen der Welt leibfrei bewege. Man werde - so der entscheidende Satz- „zu einer besseren Vorstellung über das <Ich> erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm <von außen> geben lässt; sondern wenn man das <Ich> in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt.“ (4)

So findet Steiners Kernaussage „Du findest dich selbst im Logos der Welt“ (meine Formulierung) im Bologna- Vortrag eine methodische, aber auch erkenntnis- theoretische Begründung; die so angelegte Esoterik ist in der Radikalität der Auffassung von menschlicher Identität zugleich revolutionär, aber auch durch und durch rational. Der Zustand des Selbst- Erwachens des Bewusstsein, der Befreiung aus der schattenhaften Sicht des gespiegelten, durch die Sensorik determinierten Denkens, ist in Steiners Sinne zweifellos ein auch partizipierendes Bewusstsein, das nicht nur die durch die leibliche Beschränkung beschnittene Perspektive zu überwinden hat, sondern sich schrittweise in gestaltenden Kräften der Natur neu findet. 

Während wir hier partizipierendes Bewusstsein als non- duale Erfüllung einer Identität ansehen, die für Rudolf Steiner der eigentlich humane Bewusstseinszustand gewesen ist, von dem sich der erstarrte, gespiegelte Wahrnehmungs- und Denkprozess der letzten paar Jahrtausende der Kulturen im Sinne einer Sonderform abgespalten hat- und überwunden werden muss bis zum Beginn der prophezeiten sechsten nachatlantischen Kulturepoche-, verwendet Johannes Kiersch in den von ihm zitierten Denkern "Partizipation" als Beschreibung eines archaischen Bewusstseins: "Wo liegen die Ursprünge der geheimnisvollen Bilder, Symbole, Rituale der <esoterischen> Tradition, aus denen erst spät die uns bekannten Ideensysteme hervorgegangen sind? Lucien Levy-Bruhl kennzeichnete bei seinen Forschungen zum <prä- logischen> Denken damals <primitiver> Kulturen das Verhältnis archaischer Menschen zur Welt mit dem Begriff der <Partizipation>, der existentiellen Teilhabe." (10) Auch Kiersch ist nicht frei von einer hierarchischen Strukturierung von Kulturen, die sich im Laufe der Zeit vom holistischen Denken der Frühzeit auf Kosten einer Entfremdung von der Natur emanzipieren und zur Entfaltung des Individuums führen. Die Methodik Steiners kehrt diesen Prozess allerdings wieder um, denn das Bewusstsein des Geistesforschers ist durchaus zu beschreiben als "existentielle Teilhabe" in einem kosmischen Verschmelzungsprozess, im Rahmen einer individuellen Initiation. Das dabei zu entwickelnde Bewusstsein partizipiert im wortwörtlichen Sinne, denn Steiner beschreibt den dann umgekehrten Denkprozess so, dass in die Leere des Denkens des Geistsuchers intuitives Denken so einströmt, als handele es tatsächlich wortwörtlich um eine Erfüllung: "Es erfüllt sich nach und nach das innere Erleben mit einem Inhalt, der in die Seele von außen kommt, in ähnlicher Art wie der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung aus der physischen Außenwelt durch die Sinne. Nur ist die Erfüllung mit übersinnlichem Inhalt ein unmittelbares Leben in diesem Inhalt. Will man einen Vergleich mit einer Tatsache des gewöhnlichen Lebens gebrauchen, so kann man sagen: das Zusammengehen des Ich mit einem geistigen Inhalt wird nunmehr so erfahren, wie das Zusammengehen des Ich mit einer im Gedächtnisse bewahrten Erinnerungsvorstellung." (1)


Das übende Verweilen an den Grenzen des Erkennens und das Öffnen der höheren Organe


Die Methodik eines solchen Übergangs hin zum non- dualen Bewusstsein wird im Mittelteil des Bologna- Vortrags so ausgeführt, wie Steiner ihn in seinen grundlegenden Schriften zur anthroposophischen Schulung ausführlich entwickelt hat- ein Weg (so Johannes Kiersch) des „übenden Verweilen an den Grenzen des Erkennens“, was letztlich zu etwas wie einem „Tast- Erlebnis“ an dieser Grenze führen könne. Steiner führt auch im Bologna- Vortrag hoffnungsfroh aus, dass sein meditatives Mittel der Wahl der von ihm so favorisierte Symbolismus sei- eine Art langfristiges seelisch- geistiges Ausbrüten esoterischer Wort- und Bild- Symbole, die allerdings früher oder später überwunden werden müssten. Dann - so hoffte Steiner- würden sich die geistigen Keime schon entwickeln: „Der Geistesforscher in dem hier gemeinten Sinne sucht nach Seeleninhalten, die ähnlich sind den Begriffen und Ideen des gewöhnlichen Lebens oder der wissenschaftlichen Forschung; allein er betrachtet diese zunächst nicht in Bezug auf ihren Erkenntniswert für ein Objektives, sondern er läßt sie in der eigenen Seele als wirksame Kräfte leben. Er senkt sie gewissermaßen als geistige Keime in den Mutterboden des seelischen Lebens und wartet in einer vollkommenen Seelenruhe ihre Wirkung auf das Seelenleben ab.“ (1) Die erhoffte Vertiefung dadurch, dass „der Strom esoterischen Lebens immer in der Seele“ (5) ruht, schaffe die Grundlage und öffne damit (auch wieder ein Bild) die „Organe der übersinnlichen Wahrnehmung“ (6).

Symbolismus und erkenntnis- kultische Elaboriertheit aus dem Baukasten altertümlicher Traditionen


Diese Bildsprache selbst wie auch die methodische Referenz auf mittelalterliche Symbolsprache in Steiners Methodik stellen möglicherweise Grunde dafür dar, dass heute einerseits wenig Interesse am eigentlichen anthroposophischen Schulungsweg besteht oder übrig geblieben ist, andererseits Unmengen von esoterischen Freibeutern in Steiners Namen ihre assoziativen Schlussfolgerungen verbreiten, und dass die anthroposophischen Traditionen am gleichen Symbolismus Steiners festhalten, den dieser im vorliegenden Bologna - Vortrag zwar als Grundlage zur Vertiefung der ersten Übungen des Schulungswegs empfiehlt, dann aber ja auch fordert, sie recht bald zu überwinden. Allein, auch Kiersch konstatiert, dass „in allen esoterischen Traditionen Bilder und Symbole ein wichtige Rolle gespielt“ (6) haben. Eine Kultur der Besinnlichkeit, garniert mit „tiefsinnigen Zitate(n) aus den esoterischen Traditionen des Altertums“ (6) mischten sich mit Symbolen, die in der Entwicklung des Buchdrucks weite Verbreitung fanden. Steiner habe ja selbst Rituale, traditionelle Freimaurer- artige Handlungen in der Fortführung seiner esoterischen „erkenntniskultischen“ Schulungen (7) weiter entwickeln wollen- das alles, um dieses seelische Ausbrüten der höheren Erkenntnis- Zustände bei seinen Adepten anzuregen. Damit steht die anthroposophische Methodik in manchen Aspekten nicht nur in esoterischen Traditionen des Mittelalters und Altertums, sondern auch im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Ansprüchen an genau die sachliche Bewusstseins- Schulung, die Steiner selbst von seinen Adepten gefordert hat.

Kiersch thematisiert - wenn auch im Kontext mittelalterlicher Kunstbetrachtung- selbst auch die Gefahren der symbolisch- kultischen Exzesse, denn das „symbolische Denken schenkt jenen Rausch der Gedanken, jenes präintellektuelle Verfliessen der Identitätsgrenzen der Dinge, jene Dämpfung des verstandesmäßigen Denkens, die das Lebensgefühl auf seinen Gipfel emporheben“ (8). Das symbolisch- rauschhafte Denken neige aber dazu, „zu reinem Mechanismus zu erstarren“, woraus ein „eitles Spiel“ werde, ein „oberflächliches Phantasieren aufgrund einer rein äußerlichen Gedankenverknüpfung“ (8).

Terry Boardman erklärt die Mysterien der Zahl 23 und die okkulte Gefangenschaft im Symbolismus


Der Symbolismus, der einen vorläufigen, anfänglichen methodischen Kniff Steiners zur Anregung seelischer Vertiefung dargestellt hatte, um Schwung zu nehmen für eine echte Bewusstseins- Schulung zur Partizipation in einem non- dualen Denken, hat einen assoziativen, wuchernden Pseudo- Okkultismus einiger heute populärer "Geistesforscher" (siehe 3) angeregt, die sich nach Steiners Ableben zu immer neuen Exzessen aufgeschaukelt haben. Wer studieren möchte, welcher toxische Unsinn aus solchen assoziativen Exzessen folgt, kann zum Beispiel Terry Boardman studieren, der Steiner mit Astrologie, frei erfundener Zahlenmystik und allerlei politischen Verschwörungstheorien und Mutmaßungen über das Corona- Virus kreuzt, in immer neuen Konstellationen, aber mittels derselben symbolistischen, anmaßenden und verrückten Rezeptur (9).

Man sieht, welche Faszination von Symbolismus, okkulter Spekulation und Assoziation ausgehen. Die weitaus meisten derer, die in Anthrowiki als „Geistesforscher“ (3) benannt werden, verfolgen solche Methoden und werden von den jeweiligen Anhängergruppen als Eingeweihte betrachtet. Es bleibt aber die Frage, in wie weit sich schon Steiner selbst aus dem Fundus symbolistischer Traditionen bedient hat, um das seelische Brüten seiner Anhänger immer weiter zu bedienen. Im Bologna- Vortrag jedenfalls ging er im weiteren Fortschritt der Darlegung seines Initiations- Weges über zu abstrakteren und weniger verfänglichen Symbolen wie Licht und Wärme: „Zu diesen Übungen kommen dann andere. Sie bestehen auch in Symbolen, jedoch solchen, welche in Worten ausdrückbaren Vorstellungen entsprechen. Man denke sich die Weisheit, welche in der Ordnung der Welterscheinungen lebend und webend vorgestellt wird, durch das Licht symbolisiert. Weisheit, die in opfervoller Liebe sich darlebt, denke man von Wärme versinnlicht, die in Gegenwart des Lichtes entsteht.“ (1)

Die Bemühungen sollen im Verlauf des Schulungsweges schließlich in einen Zustand des Bewusstseins führen, der keinerlei Konstrukte, Hilfsmittel und Brutzustände mehr bedarf und sich in seiner Klarheit in nichts vom Denken unterscheidet, sich aber nicht mehr auf das Feedback von Sensorik, Körperlichkeit, Raum- und Zeitbewusstsein stützen muss: „Die Übungen sind intimer seelischer Art. Sie gestalten sich für jeden Menschen in individueller Form. Ist einmal ein Anfang mit ihnen gemacht, so ergibt sich das Individuelle aus einer gewissen, aus dem Verlaufe zu machenden Seelenpraxis. Was sich aber mit zwingender Notwendigkeit herausstellt, ist das positive Bewusstsein von einem Leben in einer Realität, die gegenüber der äußeren Körperorganisation selbständig und von übersinnlicher Art ist.

Für einen solchen Geistesforscher liegt das bestimmte, genauer Selbstkontrolle unterstellte Bewusstsein vor, daß der sinnlich wahrnehmbaren Körperorganisation eine übersinnliche zum Grunde liegt, und daß es möglich ist, sich selbst innerhalb derselben so zu erleben, wie das normale Bewusstsein sich erlebt innerhalb der physischen Körperorganisation.“ (1)

Das aus- sich- bestehende Bewusstsein, das Steiner als Grundlage des Schulungsweges empfiehlt, hat selbstverständlich jede symbolische oder mystische Methodik überwunden, stellt aber auch nur die Ausgangslage für den fortschreitenden Adepten dar. Die Verselbständigung in einer non- dualen Identität, die faktisch die Grenzen der einzelnen Inkarnation situativ dadurch überschreitet, dass das Bewusstsein sich als sich selbst erlebt- ohne Beugung und Brechung in einem biologischen Organismus- markiert für den Meister die Ausgangslage für den eigentlichen Lern- und Kommunikationsprozess. Die Identifikation mit archaischer Methodik wie Symbolismus dagegen stellt ein Problem dar im Sinne (wie Anthroposophen so etwas nennen) einer okkulter Gefangenschaft; man kommt aus dem assoziativen Kreisen nicht heraus und kann keine Entwicklung in Richtung der von Steiner ausgeführten Selbständigkeit und Emanzipation vollziehen. Steiner benennt den angestrebten non- dualen Zustand auch nicht mit traditionell narzisstischen, überhöhten oder göttlichen Begriffen, sondern einfach als „reale Selbstanschauung“ (1): „Es lernt sich dabei das menschliche Innere kennen, nicht bloß durch Reflexion auf sich selbst als den Träger der Sinneseindrücke und des gedanklichen Verarbeiters dieser Sinneseindrücke, sondern es lernt sich das Selbst kennen, wie es ist, ohne Beziehung auf einen sinnenfälligen Inhalt; es erlebt sich in sich selber als übersinnliche Realität.



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1 Rudolf Steiner, in GA 35, Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie, S. 111ff
2 Erschienen unter dem Titel «Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Theosophie» in «Atti del IV Congresso Internazionale di Filosofia Bologna MCMXI», Genua o. J.; Sonderdruck hieraus o. 0.1911; ferner in «Anthroposophie. Zeitschrift für freies Geistes-leben», 16. Jahrg. Buch 4, Juli-Sept. 1934; in «Die Drei. Monatsschrift für Anthroposophie, Dreigliederung und Goetheanismus», 18. Jahrg. Heft 2/3, April/Juni 1948; in «Reinkarnation und Karma» und andere Aufsätze, Stuttgart 1961.
3 https://anthrowiki.at/Geistesforscher
4 Johannes Kiersch, Vom Land aufs Meer, Steiners Esoterik in verändertem Umfeld, Stuttgart 2008
5 Rudolf Steiner, GA 266.1 S 281
6 Kiersch, S. 65f
7 näheres dazu bei Hella Wiesberger, Rudolf Steiners esoterische Lehrtätigkeit, Dornach 1997
8 nach Kiersch, S. 44: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1973
9 Boardman zelebriert das mystische Geheimnis der Zahl 23 z.B. wie folgt: „On this 23rd day of the 3rd month the British people, whose national day, we can recall, is 23 April and whose national poet and philosopher Shakespeare has a name beginning with the 23rd letter of the alphabet (W) and is thought to have been born and died on a 23 April, we were told by the BBC that the “turning point” came at 233 deaths in both Italy and the UK: Italy had 233 deaths on 7 March and Britain had 233 deaths on 21 March. This “turning point” is evidently supposed to prove something beyond the similarity of the figure of 233, but what was not exactly made clear. I couldn’t help recalling that on 23.3.1933 Adolf Hitler pushed the Enabling Act through the Reichstag which completed the process that brought about a ‘legal dictatorship’. Obviously, the mere similarity of date does not mean there will now be a dictatorship in Britain, but one can pay attention to the kind of event – the gesture or direction of the event – that happens on the same date and under what starry constellation.“ http://threeman.org/?p=2929
10 nach Kiersch, S. 39