Als der Fluss mit mir und den Kieseln spielte


Man hat wirklich kein Wort dafür, was nicht besetzt wäre von falschen, verwirrenden, neben der Spur trabenden Implikationen. Das hat dazu geführt, dass man ungern darüber spricht: Meditation. Rein markt- technisch zu Tode geritten, über die Jahrmärkte gezerrt, in Wellness- Seminaren durch Übungen in Lycra- Strumpfhosen erdrosselt, durch mittelalte kalifornische Achtsamkeits- Lehrer in aufgeräumten englischen Phrasen ertränkt. Ich kann das Wort nicht einmal bei mir selber leiden.


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Es passt ja auch schon deshalb nicht, weil es sich nicht um ein Ziel, eine Aufgabe, eine ideologisch besetzte oder moralisch überhöhte Selbstbehandlung im Sinne von: Ich werde immer besser und reiner handelt. Vor ein par Jahren hatte ich noch einmal ein Angebot, eine Seminar- Reihe mit zu gestalten, und lehnte ab: Ich war völlig ratlos, was ich lehren sollte. Und als ich dann hörte, was die anderen Beteiligten lehrten, ließ mich das noch ratloser da stehen: Das waren alles Übungen wie zur Leibesertüchtigung, Vokabel- Training, die Mucki- Bude des Geistes. Ratlos, wie man einem Kind das Gehen erklären sollte: Es hat diese Orientierung, sich aufzurichten, einen Pol zu errichten zwischen Erd- Mittelpunkt und Sonne, es arbeitet, es dreht sich, es robbt, es hockt, es sitzt, es steht, und irgendwann macht es den ersten Schritt. Versuche es einem Baby zu erklären! Es stellt sich in eine kosmisch- irdische Ordnung, und verwendet seinen intrinsischen Willen dafür, und selbst, wenn es durch eine Verletzung oder Behinderung nicht imstande sein sollte, Stehen und Gehen in aller Sicherheit zu erlangen, hätte es doch die Reife, die Perspektive eingenommen, das intellektuelle Korrelat für das Gehen. Wie das Stehen und Gehen ein geistig- physisches Sprechen, ein Ausdruck der Humanität und Souveränität ist, ein Hineinstellen in ein Feld der Optionen, durch die man ein Leben gestalten kann, eine Ausgangsbasis von Aktion, Reaktion, Interaktion, so ist das, was man unglücklicherweise Meditation nennt, davon eine Vertiefung.

Vertiefung inwiefern? Nun, das Laufen, Schaffen, Agieren, Plädieren, Schaffen, Gestalten, Erdulden kommt irgendwann, irgendwo an ein Ende. Das seine Welt und Erlebnisse reflektierende Ich steht in seiner Blüte, vielleicht geliebt, vielleicht anerkannt, jedenfalls gesehen und gespiegelt von einem sozialen Kontext. Vielleicht ist es auch gescheitert, vielleicht verbirgt es Spuren, Leiden, Brüche. Aber es ist, trotz aller Agilität, trotz der Aktivität und Bespiegelung eine brüchige innere Existenz. Sie ist prekär, weil sie abhängt von Reaktionen Anderer, von belegbaren Erfolgen, von Karriere, von gelebter Nähe, vielleicht auch von wütendem Widerspruch Anderer. Und auch innerlich ist die Lage nicht besser. 

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Abends, wenn die Schatten der Nacht herein kriechen, fallen die tragenden. Selbstbilder in sich zusammen. Der erste Frost steht vor der Tür. Was zählt, was bleibt? Die Schatten und die kalten Nächte werden alle Blätter fallen lassen, die ich so mühsam um mich geschichtet habe. Der Beruf wurde mir genommen, die eingebildete Begabung, die beste Freundin ist tot. Das hier, das ist eine geliehene Existenz, die Menschen flüchten in Selbstbeschwörung, Substitute wie Religion, Zelebrieren ihrer Illusionen, in puren materiellen oder intellektuellen, ja sogar spirituellen und moralischen Status, der allerdings stets einen egozentrischen Touch hat, einen Hang und Wand zur Selbstbestätigung. Dieser Hunger ist so alles überwältigend, weil es sich um eine existentielle Beschwörung handelt, eine Inszenierung des Ego angesichts der Schatten und Fröste, die verkünden, dass alles zerfällt; alles, selbst die Macht, selbst die Gewalt, selbst ein Reich. 

Der im biblischen Sinne Arme befindet sich- zumindest in den Situation, die meditativen Charakter haben, nicht in dieser illusorischen Zeremonie der Selbstbeschwörung. Solange man glaubt an Selbst- Optimierung, moralische Überhöhung, fromme Auferstehung, durch Entbehrung und Selbst- Überwindung erreichet Leere des Geistes, worauf die Inspirationen sprudeln, ist man verloren; jeder Erzengel mit etwas Selbstachtung wird dazu sagen (sollte er es wahrnehmen, das jammervolle Gemurks): Go fuck yourself.

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Und tatsächlich, an dieser Stelle nähern wir uns dem Charakter der Unmöglichkeit des Begriffs Meditation, da dieser etwas impliziert, das Watzlawick einst (1) Double bind- Struktur genannt hat, ein unauflösliches Paradox, in dem man sich bei dem Versuch verstrickt, widersprüchliche Anforderungen zu erfüllen- etwa etwas Essentielles wie Sei absichtslos! Während die Absicht, die Orientierung auf ein Ziel hin, sich in der Aufforderung „Sei“ artikuliert, ist das Ziel „absichtslos“ eben, kein Ziel zu haben. Das Paradox zieht sich bis hin zur christlichen Mystik im Sinne von „Gebe dich hin, um dich zu finden“. Kein Wunder, dass sich hundert Generationen von Wahrheitssuchern verzweifelt eingeredet haben, diese Paradoxe irgendwie übersprungen zu haben, und, glücklicherweise, etwas entdeckt zu haben. Die Mystik des sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf Ziehens ist dem Guru, dem Politiker und dem Wunderheiler eigen- sie alle beherrschen das Metier der Selbstbeschwörung. Ebenso wundersam, dass sich die Bilder, Erfüllungen, Prophezeiungen, Imaginationen so sehr ähneln- sie gestalten sich glücklicherweise den Erwartungen des Publikums entsprechend, ja sie erfüllen das, was offenbar stets schon klar gewesen ist- zumindest den Eingeweihten. So werden Legenden gestrickt, so werden Gefolgschaften aufgebaut. Ein jeder bekommt, was er erwartet, das Manna, das für ihn verdaulich ist. Der Politiker verteilt einige Brosamen vager Versprechungen, der Guru verteilt seinen Segen, Gott sei mit Euch. Amen.

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In der ganzen Zeit habe ich am Fluss gesessen und mit den Kieseln gespielt, vor mir eines dieser Bücher von Kühlewind (2), in denen jeder einzelne Satz ausreicht, um ein meditatives Leben zu füllen, und zwar umfänglich. Wozu bitte einen Meditations- Kurs, wenn man so ein Buch hat? Wozu einen Kurs, wenn man Rhein- Kiesel in der Hand hat? Jedenfalls schreibt Kühlewind: 

Das „So- Sein“ ist vom jeweiligen Bewusstsein abhängig; das „Sein“ ist zunächst das Grenzerlebnis selbst. Der dauernde Weltengrund, das Sein „vor dem Erkennen“ im gewöhnlichen Sinn, ist das lebende Licht oder Wort, das gegenwärtige Bewusstseinslicht, in dem Sein und Erkennen noch eins sind. Das ist die Prima Materia, noch ohne Gestalt, ohne die Qualitäten des Alltagsbewusstseins, aber als lichte Möglichkeit von Qualitäten und Eigenschaften, denen wir im gespiegelten Bewusstsein begegnen.“ 

Das „gegenwärtige Bewusstseinslicht“, das seiner selbst lediglich nicht bewusst wird, weil es im „gespiegelten Bewusstsein“ auf die sinnlichen Erfahrungen, die Dinge, Assoziationen und Fragmente starrt, aber nie auf sich selbst, benötigt doch ein Medium, ein Element der Selbst- Vergegenwärtigung. Es ist mehr ein Schritt zurück, ein Schweigen, ein Spielen mit den Kieseln am Strand. Es ist mehr ein Sinken in ein zähes, stilles Element, ein absichtsloses Absinken in den Grund. Es ist ein so vertrautes Element, man kennt es doch von den Grenzen des Schlafs. Manchmal wacht man daraus auf und hat einen Lichtblitz, ein Erkennen, ein Verstehen, das, je mehr man es in sich bewegt, um so komplexer wird- ein Zipfel, an dem die Welträtsel sich entrollen. Die „Prima Materia“ selbst, sie ist nicht nur vertraut, sie ist so lebendig wie die frische Brise in einem Waldstück, in das die Sonne unstet schimmert, während der pilzige Geruch aus dem feuchten Grund aufsteigt- so dicht und frisch, dass man unwillkürlich den Atem einzieht und denkt: Das kann man nicht vergessen. Das kann man überhaupt nie vergessen. Selbst, wenn ich keinen Körper mehr habe, wird mich die Sehnsucht danach wieder hierher zurück ziehen. Man weiß, man ist in seinem Element. Aber dieses Element ist transparent, man weiß, dass es ganz universell menschlich ist, und dass es zugleich jedes einzelne lebendige Wesen durchdringt - Erkennen und Leben zugleich. Man muss sich nur zurück lehnen, und man schmeckt diese Prima Materia, die Welt des Lebens und der Erkenntnis, in der das menschliche Ich zuhause ist. Der Ausnahme- Zustand - so die unmittelbare Erkenntnis- ist eben das Alltags- Bewusstsein, der gespiegelte Blick, die Bannung auf das Dingliche und Assoziative. 

Und tiefer geht es, tiefer, dorthin, wo die Flüsse unter der Erde zusammen fliessen und in den großen Rhythmen in Ebbe und Flut verlaufen. Mit den großen Strömen zu verfliessen! Hier, und nur hier ist es wahr und frei von Widerspruch: In dem Maß, in dem du dich gibst, wirst du dir gegeben. Dabei gibt es kein Maß und niemanden, der misst. Es ist schön, und es ist wahr. Es ist dein non-. duales Leben als tastendes, erkennendes Ich, das sich verfliesst, ohne sich dabei im geringsten zu verlieren: Gebannt in einer biologischen Form, aber ohne sich auch in ihr verloren zu geben; nicht gebannt von der sensorischen Perspektive, sondern frei atmend im hellen Strom des erkennenden Lebendigen. In der ganzen Zeit habe ich am Fluss gesessen und mit den Kieseln gespielt, und der Fluss und die Kiesel mit mir.



1 https://de.wikipedia.org/wiki/Doppelbindungstheorie

2 Georg Kühlewind, Die Diener des Logos- Der Mensch als Wort und Gespräch, Stuttgart 1981, S 55