Heiliger Putin, steh uns bei! Prozession mit der Gottesmutter auf der Rückbank

Natürlich, wenn man mit dem elektrischen Bike querfeldein durch die niederrheinischen Felder fährt, wird der Kopf frei, und man denkt, während doch alles rings herum sehr sorgsam im Blick bleibt, an allerlei, was bei einem angestossen ist und verblieb und sich wieder meldete im Bewusstsein. Manche Dinge kommen so über Tage, ja über Wochen immer wieder an die Oberfläche- wie Wale, während sie das Meer durchpflügen, die Barten weit gebläht, nach oben an den Rand ihrer Welt prallen, die glatte Wand der Wasseroberfläche durchstossen, um zu atmen. 

Einer der Texte, die immer wieder in Fragmenten zu mir durch drangen, war Raphael Kleimanns „Opfer und Auferstehung“ (1), ein vielschichtiger, fast poetischer Text, der, nach Reisen quer durch Russland, voller Empfindungen, aber dennoch kritisch über "die russische Seele" zwischen Orthodoxie, Glauben, neoliberalen Exzessen, Covid- Lockdown, Roter- Armee- Nostalgie und Napoleon- Feldzügen reflektiert. Am Anfang steht ein Bummelzug nach Nordosten, Richtung Wolga, fort aus der Hektik der Großstadt Moskau. Auch hier, wie in so vielen Ländern, wie in Großbritannien, den USA, Deutschland, haben sich Spannungen aufgebaut durch die sich vertiefenden Widersprüche zwischen Stadt und Land. Kleimann beschreibt, dass dieses Auseinanderdriften auf dem russischen Land auch zu einer Renaissance der Tradition, der geschichtlichen Bezüge und insbesondere des orthodoxen Glaubens geführt hat, ganz gleichgültig, wie korrupt sich die höchsten Repräsentanten dieser Kirche dem Regime anbiedern mögen. Die Widersprüche machen selbst vor den Gottesdiensten nicht Halt; da der Personenscanner vor dem Eingang der Kirche, dort die Gesichter, die durchstrahlt sind von Hingabe. Hier Weihrauchfässchen, flitzende Priester, Bekreuzigungen, Kerzen, Verbeugungen und Küsse, dort die alles überstrahlenden LED- Leuchten. Hier ein Priester, der, dem Verhalten der Gläubigen nach, „tatsächlich ein geistiger Führer zu sein scheint“ (1), dort die Überzahl derer, die „eng mit den russischen Staatsinteressen“ (1) verflochten zu sein scheinen. Dann geht es auf die Datscha, wo man auch etwas anbaut, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Aber trotz des säkularen Herunterwirtschaftens des Festes, dieses wie anderer, hier wie anderswo, entdeckt Kleimann im Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad doch auch eine heilige Quelle, deren Wasser „hart und klar, von ungeheurer Reinheit“ (1) sei, so sehr, dass es „unmittelbar eine spirituelle Öffnung in den oberen Chakren“ (1) bewirke.

Das ist dann einer dieser Wale, die auf der Durchfahrt durch die Felder auf und ab kreuzen, auf und ab, in mir. Wasser? Wasser? Aber nun, Überraschung, kommt der Patriarch höchstpersönlich zur Liturgie. Putins persönlicher Pope! Das Grab des Heiligen wird von all denen, die in einer langen Schlange anstehen, geküsst, die Security sichert die Limousine aus Moskau, 20 Tenöre stimmen Gesänge an, Kyrill, der zum Volk spricht, aber mit fester Stimme. Kleimann überlegt, wie sehr heute die Orthodoxe Kirche auch Teil der russischen „Identitätsstiftung für das Volk“ ist, eines Volkes, das zum Teil „vom Westen zunehmend politisch isoliert“ (1), andererseits „von westlicher Konsumkultur in seinen inneren  Grundlagen angefressen“ (1) sei. Nun, möchte man Kleimann fragen, während die abgeernteten Maisfelder auf den Feldwegen vorbeifliegen, wieso westlich? Ist das nicht im 21. Jahrhundert ein Klischee von vielen? Kleimann könnte die Kommentare russischer Konsumenten in der App des chinesischen Alibaba- Konzerns nachlesen- eines Shop im Shop- Systems, das die Weltmärkte parallel zum amerikanischen Amazon überrennt. Egal, ob Damen- Unterwäsche, Technik, Messer, mechanische Uhren oder Gürtel aus angeblich echtem Büffelleder: Russische Konsumenten sind immer vorneweg. Die globalisierte Mechanik des Konsums ohne Grenzen (und ohne Import- und Mehrwert- Steuern) überschwemmt einen Kontinent nach dem anderen. Hier hat der Westen einfach nicht mehr viel zu melden. Dass uigurische Sklaven möglicherweise die Smartphones und Laptops zusammen setzen, die über die neue Seidenstrasse quer durch Russland bis nach Duisburg gekarrt werden, oder über den Seeweg in den Hamburger Hafen, wird den Konsumenten hier wie dort gleichgültig sein. 

Dann folgen weitere Reisen Kleimanns durchs russische Reich, durch russische Geschichte. Geküsste Ikonen, hoffnungslose Schlachten, Zehntausende von Toten, Partisanen. Napoleons Vorstösse und ein Abprallen von SS- Verbänden kurz vor Minsk, und deren Ausweichen Richtung Stalingrad. Eine russische Ärztin ist sich sicher: Die Erde sei hier heilig. Sie gäbe Schutz. Freilich, die alten Kolchosen sind so gründlich zerschlagen, dass die Flächen heute komplett brach liegen. Man geht beten und trainiert Massen von Jugendlichen in Lagern, wie man Kalaschnikows bedient. Feiertag zur Befreiung vom Faschismus. Kleimann sieht in all dem die russische Seele, die „erprobt im Leiden“ (1) sei. Als Anthroposoph hofft er auf die Verwandlung dieses endlosen Leids „in zukunftstragende, eigenschöpferische Kraft“ (1). Freilich, die alten Ikonen werden nicht helfen, auch wenn der korrupte Patriarch vor kurzem eine Prozession in gepanzerter Mercedes- Limousine vollzogen hat, mit der Gottesmutter auf der Rückbank. Und was, so Kleimann, wird die „materialistische Bazillenfurcht“ (1) in diesem Zusammenhang noch anrichten? 

Der russische Anti- Materialismus ist, zumindest nach Rudolf Steiner, kein Wunder, das russische Mütterchen fühlt sich federleicht, schon weil ein Großteil des Landes geologisch erst seit der letzten Eiszeit aus der schweren Tiefe aufgestiegen sei (2). Allerdings hätten das typisch russische Phlegma, die religiösen Obsessionen und Nostalgie auch erst zur Politik als Religions- Ersatz geführt - ein Phänomen, das sich heute rund um die Erde wieder findet: „Im Osten ist zum Beispiel die Tragkraft des Bolschewismus darauf zurück zu führen, daß er eigentlich von den Menschen des Ostens, schon vom russischen Volke, wie eine Religionsbewegung aufgefasst wird, so daß die Träger wie neue Heilande angesehen werden, gewissermaßen wie die Fortsetzer früheren religiös- geistigen Strebens und Lebens.“ (3) So wird die Gottesmutter auf der Rückbank der Mercedes- Limousine nicht nur erklärlich, sie könnte auch rückstandfrei durch eine Ikone von Putin ersetzt werden. 

Steiners romantisches Russland- Bild war ja noch vom Bauern geprägt, der noch nicht einmal Zucker (4) zu sich nahm (geschweige denn Ali- Express benutzte, um sich Damen- Unterwäsche aus China schicken zu lassen), um sich leicht und unirdisch zu fühlen, andererseits aber auch spirituell bereit, die anthroposophische Dreigliederung zu realisieren (5). Aber dann kommt, ganz unromantisch, auch die Steiner- Gegen- Attacke, die die inneren Widersprüche, die Kleimann so treffend beschrieben hat, nicht nur bestätigt, sondern in der Folge geradezu dämonisiert. Steiner meint nämlich: „Und heute ist gerade der östliche Mensch bis herein nach Russland in einem merkwürdigen Zwiespalt, weil er auf der einen Seite noch aus seinem Erbe heraus in dem alten spirituellen Elemente lebt, und weil auf der anderen Seite auch auf ihn wirkt dasjenige, was aus der gegenwärtigen Epoche der Menschheits- Entwickelung kommt, das Trainieren zur Individualität hin. Das bedingt, daß im Osten eine starke Dekadenz der Menschheit ist, daß gewissermaßen der Mensch nicht Vollmensch werden kann.“ (6) Mitten in diesen inneren Widerspruch zwischen tradierter, aber politisierter, dekadenter Ikonographie einerseits und dem materialistischen Ego- Bewusstsein der Gegenwart andererseits hinein kann sich eine post- stalinistische Clique aus Geheimdienst- Offizieren und Petersburger Mobstern unter Putin seit 16 Jahren und weiter halten, Vaterlands- Mythen etablieren, die Muttergottes durch die Gegend fahren und politische Gegner vergiften. Rudolf Steiner beschreibt den Prozess als generalisierte Bewusstseins- Vergiftung in kollektivem Masstab, die bei Unproduktivität, mangelnder Fokussierung, Autoritätsgläubigkeit, falschem Idealismus bis hin zum Ausbreiten „eine(r) dumpfe(n) mystische(n) Atmosphäre unter den Menschen“ (6) führt- tödliche Waffen in einer totalitären Lügen- und Bewusstseins- Industrie, die heute, vom FSB gesteuert, das Internet flutet. Die heiligen Glöcklein, die goldene Ikone, die heilige Erde- das sind heute (auch) Waffen im Kampf um die Meinungs- Hoheit, die ideologische Superiorität. 

Freilich, in historischer Sicht tauchen die Wale auf und ab. Meist mehr ab als auf. Die Ikonen zerfallen zu Staub, die Weltreiche enden als Ferienlager mit Kalaschnikows, die Chakren schnappen nach frischer Luft. Die Maisfelder liegen hinter mir, der Akku ist noch halb voll, und ich wende mich nach Westen, auf dem Weg nach Hause. Es ist nicht mehr besonders weit.




Anmerkungen & Verweise __________________


1 Raphael Kleemann, Opfer und Auferstehung, Russische Oster- Impressionen in die Drei Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben, Juli August 2020, S. 3ff 

2 „Dieser Kontinent war umschlossen von einer Art von warmem (Meeresstrom), von einem Strom, bezüglich dessen das hellseherische Bewusstsein ergibt, daß er, so sonderbar es klingen mag, von Süden herauf ging, durch die Baffins-Bai gegen das nördliche Grönland verlaufend und es umfassend, dann herüber floss nach Osten, sich allmählich abkühlte, dann in der Zeit, in welcher Sibirien und Russland noch lange nicht zur Erdoberfläche gehoben waren, in der Gegend des Ural hinunter floss, sich umkehrte, die östlichen Karpathen berührte, in die Gegend hinein floss, wo die heutige Sahara ist, und endlich beim Meerbusen von Biskaya dem atlantischen Ozean zu ging, so dass er ein ganz geschlossenes Stromgebiet hatte. Dieser Strom ist noch in seinen allerletzten Resten vorhanden: der Golfstrom. Den Griechen tauchte auf das Bild des Okeanos, der eine Erinnerung ist an jene atlantische Zeit.“ R Steiner, GA 121.176f

3 R Steiner, GA 200.49

4 „Der russische Bauer wird das Ich so wenig wie möglich betonen. Bei dem Engländer ist das Gegenteil der Fall. Das findet schon einen rein äußerlichen Aus- druck in der Schreibweise: der Engländer schreibt das Ich groß. Geht man diesem Sachverhalt nach, so findet man, daß in England fünfmal so viel Zucker konsumiert wird als in Russland. Der Vorgang, welcher in der Verdauung durch Zuführung einer größeren Menge von Zucker bewirkt wird, hat im oberen Menschen sein Korrelat in einer stärkeren Selbständigkeit der Denkfunktion.“ R Steiner, GA 96.173

5 R Steiner: „Es wäre möglich gewesen, wenn nicht so vieles verschüttet worden wäre, in der Tat mit diesem dreigliedrigen Organismus gerade in Russland am ehesten Anhänger zu gewinnen.“ GA 330.221

6 R Steiner, GA 200.44f