Der alternde Modernismus und die Revolte der Corona- Skeptiker

Das individuelle Altern

Natürlich erinnere ich mich gern an das Missverständnis, dem Zeitgenossen des Grafen von Saint- Germain (3), Alchemist um 1760, zwischen Pompadour, Versailles und dem alten Lästerer Casanova, politischer Abenteurer und viel denunzierter Rosenkreuzer, aufgesessen sein sollen, die sich aus seiner kolportierten Aussage „Ich habe kein Alter“ irgend etwas pseudo- Okkultes zurecht legten, das davon raunte, er sei schon ewig am Leben, ein Unsterblicher. Aber die Bemerkung muss viel mehr etwas bedeutet haben wie „Das Ich hat kein Alter“- und bemerken wir das nicht alle, dass es wahr ist, dass, selbst wenn wir biologisch, selbst wenn wir von der Initiative, Energie oder Konzentration her altern sollten, die Art unserer konzentrierten Präsenz dies nicht ganz mit vollzieht? Die in der eigenen Präsenz unbemerkte Essenz, die sich in der Wahrnehmung verliert und im Nachklang der angeregten Gedanken verloren geht, kennt kein Alter. Sich ihrer bewusst zu werden ist der Beginn jedes verantwortlichen Schulungswegs. 

Aber sich dem Alter zu stellen, ist natürlich ebenso notwendig, ein Teil der konkreten Selbstvergegenwärtigung. Wenn man das verpasst, entstehen emotionale Gespenster aus den Ruinen verpasster Träume; eine latente Wut vielleicht, ein sinnloser Groll, eine hysterische Einsamkeit, seltsame Gewohnheiten, bizarre Rituale. Ich erinnere mich an eine alte Frau im Altenheim, die täglich im Mantel und mit Täschchen auf dem Stuhl vor dem Aufzug in ihrem Stockwerk erschien, sich auf einen Stuhl setzte und auf die Abfahrt eines Busses wartete, der niemals kam. Ein Kommen und Gehen war da trotzdem, dem sie aber stoisch mit unbewegter Miene begegnete. Das alles interessierte sie ebenso wenig wie ein Gruß oder gar ein Scherz, denn sie wartete offensichtlich auf den nur für sie bestimmten Bus.

Jean Amery hat in „Über das Altern“ (1) über das Ich geschrieben, das wir deshalb nur mehr schwer wieder erkennen, weil es ein Ich ist, das „vielfach dissoziiert im Alternsleiden“ (2) in dem Sinne ist, dass es nicht mehr ein Körper habe, sondern dass der Körper „schmerzenderweise mich hat“ (2). Mitgerissen von den Beschwernissen leugnet Amery, dass es dann „ein gelebtes Ich, ein wahre Identität“ (2) noch gäbe. Vielmehr sei der Zustand zu beschreiben als der einer der Ich- Dissoziation, einer anhaltenden, umfassenden Selbst- Entfremdung.

Natürlich übertreibt Amery, oder generalisiert zumindest. Wer mit Hospiz und Sterbebegleitung auch nur von fern zu tun hat, kennt viele Lebensgeschichten von Menschen, die um jeden Tag unter körperlichen Bedingungen ringen, die man von außen als vollkommene Entstellung, als unmenschliche Sondersituation zu beurteilen gewillt ist. Offensichtlich zu Unrecht. Und man kennt auch viele Geschichten, in denen Menschen durch die äußerste Grenze der Ich- Dissoziation, des Schmerzes und der Todesnöte gehen und danach in einer Weise in einen stabilen Zustand zurück kommen, den man nicht hätte vorher sagen können, sich „fangen“ und für manchmal längere Zeit fort leben, mit Genuss im Rahmen dessen, was ihnen möglich ist. Es gibt Formen des Hedonismus, die offenbar auf Messers Schneide beheimatet sein können. 


Selbst- Entfremdung und Welt- Entfremdung

Aber für Amery, und auch für viele Menschen, ist mit einem gewissen Grad der Selbstentfremdung im Alter die Grenze überschritten, die uns ohnehin immer als ambiguente Wesen zwischen Ich und Welt begleitet hat- der Körper neigt sich ebenso dem bloßen Weltsein zu wie auch der Geist, ja letztlich die Logik. Wir schauen im entsetzlichen Schmerz auf das alles wie von außen, und es ist uns fremd.  

Und so entwickelt sich die letzte, umfassende Entfremdung: „Schon ist, wenn wir die Höhe überschritten haben und es abwärts geht, immer steiler, immer geschwinder, ein Denken, das der Weltbewältigung gilt und darum in der Logik sich ein Weltabbild anziehen hat müssen, nicht mehr ganz unsere Sache. Die Urkontradiktion, der Tod, erwartet uns und zwingt uns, logisch unsaubere Sätze zu bilden, wie „wenn ich nicht mehr bin“. Er ist schon in uns und schafft Raum für Zweideutigkeit und Widerspruch. Wir werden Ich und Nicht- Ich. Wir besitzen das in der Haut eingeschlossene Ich und dürfen zugleich erfahren, dass die Grenzen immerdar fliessend waren und es blieben. Wir werden uns fremder und vertrauter. Nichts ist mehr selbstverständlich. Die Evidenzen sind nicht mehr glaubhaft. Die Selbst- Entfremdung wird zur Seins- Entfremdung, wie getreulich auch immer wir noch nach dem Tage nachgehen, unsere Steuererklärung ausfüllen, den Zahnarzt aufsuchen. Sagten wir, dass im Alter die Welt zu unserer Verneinung werde? Wir hätten ebenso sagen dürfen, dass wir schon im Begriffe stehen, die Negation unserer selbst zu sein. Tag und Nacht heben sich auf in der Dämmerung.“ (2)

An diesem Grad der Weltentfremdung möchte man sich nicht einmischen, aber auch niemanden aufhalten. Sollte der Gesetzgeber sich hilfreich bei Entscheidungen Einzelner zeigen, ein solches Leben zu beenden? Eine simulierte TV- Diskussion vor der Ethik- Kommission - „Gott“ von Ferdinand von Schirach (4) hat das Dilemma einem Millionen- Publikum nochmals vor Augen geführt: Der, der sich nur mehr als „Negation seiner selbst“ empfand, durfte in Deutschland nicht unter ärztlicher Begleitung würdig sterben, obwohl das Verfassungsgericht zu seinen Gunsten entschieden hatte, da die Bundesregierung eine Regelung jedweder Sterbehilfe durch Nichtstun einfach auszusitzen scheint. Während sich die evangelische Kirche auf die Seite der Sterbewilligen schlägt, stutzen die Katholiken wie üblich die Freiheitsrechte des Einzelnen auf das hinunter, was in ihren antiken Wertekanon passt. 

Die weltweite Pandemie wird, durch häufig auftretende Blutgerinnsel und Schlaganfälle, aber auch Atem- Probleme und frühe Demenz, chronische Fatigue und Organschäden für Zehntausende die Frage noch einmal neu und intensiver stellen. 


Eine alternde Palliativgesellschaft

Ist das alles eine Form des Lamentieren? Sollten wir mal den Hintern zusammen kneifen, uns zusammen reißen und auf die Seins- Entfremdung pfeifen? Byung- Chul Han jedenfalls teilt in seiner so diagnostizierten und benannten „Palliativgesellschaft“ (5) kräftig gegen die moderne Weichei- Gesellschaft aus, in der die „palliative Politik“ schon keinen „Mut zum Schmerz“ (5) habe, was Han in alle mögliche Richtungen generalisierend ausweitet. Im Prinzip habe die Selbstoptimierung als neoliberale Ideologie alle Winkel des modernen Denkens ergriffen, so dass selbst traumatische Erfahrungen des Individuums lediglich zum Zwang führten, daraus noch einmal einen Selbst- Optimierungssprung zu gewinnen: „Die neoliberale Ideologie der Resilienz macht aus traumatischen Erfahrungen Katalysatoren für Leistungssteigerung“ (5), da Schmerz an sich als „Zeichen der Schwäche“ gedeutet werde. Die grassierende Palliativgesellschaft  habe, als Symptom ihrer Tabuisierung des Schmerzes, den Missbrauch von Schmerzmitteln gefördert: „Die US- amerikanische Opioid- Krise hat paradigmatischen Charakter. An ihr ist nicht nur die materielle Gier einer Pharmakrise beteiligt. Ihr liegt vielmehr eine verhängnisvolle Annahme zur menschlichen Existenz zugrunde. Allein eine Dauerwohlfühl- Ideologie kann dazu führen, dass Medikamente, die ursprünglich in der Palliativmedizin eingesetzt wurden, im großen Stil auch an Gesunde verabreicht werden“ (5)

So reitet Han seine These mit der gewissen Monotonie einer Spur, die ein industrieller Traktor zieht, bis zum bitteren Ende, das dann thematisch doch nicht von der Corona- Epidemie lassen kann, die „postindustrielle, immaterielle Produktion“ (5) der kreativen Medien und der Social Media beklagt, die „die Hölle des Gleichen“ (5) herauf ziehen lässt, da das wahre „Angerührtsein“ vom Anderen verschütt gegangen, und man nun, in der Quarantäne, zur erzwungenen Untätigkeit“ (5) verdammt sei. So wird aus der glatt gebügelten, neoliberalen Palliativgesellschaft ein Lamento über den Schmerz, in eine globale Pandemie geraten zu sein. 

Offenbar schmiedet Han aus der erzwungenen Isolation sein populistisch geratenes Schwert gegen die Selbst- Optimierer, Instagrammer und Menschen der Gegenwart, die er so beschreibt: „Diese narzisstische, hypochondrische Introspektion ist wohl mitverantwortlich für unsere Hypersensibilität. (..) Die Menschen sind heute wohl am „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ erkrankt.“ (6) Von da wendet sich Han dem chronischen Schmerz und der Selbstverletzung zu, die er in Anlehnung (ausgerechnet!) an Ernst Jüngers markiger These von der „List des Schmerzes“ auf unterdrückte, aber latent virale Schmerzen zurück führt, die er wiederum generalisiert auf die „sinnentleerte Gesellschaft“ (7) der Gegenwart bezieht. So kommt er, was nicht besonders erstaunt, zur Diagnose einer den Schmerz leugnenden, und in der Folge postfaktischen Gesellschaft, die durch das Auftreten der Pandemie um so mehr erschüttert werde: „Im postfaktischen Zeitalter mit Fake News oder Deepfakes entsteht eine Wirklichkeitsapathie, ja eine Wirklichkeitsanästhesie. Allein ein schmerzender Wirklichkeitsschock könnte uns aus ihr herausholen. Die Panikraktion auf das Virus geht teilweise auf diese Schockwirkung zurück. Das Virus restituiert die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit meldet sich zurück in Form eines viralen Gegenkörpers.“ (8) Wird das Virus also eine Art heilsamen Schock auf eine materialistische, surreal wirklichkeitsfremde neoliberale Gesellschaft bewirken?


Social Distancing als Empathie- Losigkeit

Han bemüht sich um eine Poesie des Schmerzes, der die Produktivität des Schönen in der Kunst stets beflügelt habe. Schubert, Nietzsche und Kafka dienen als Belege: „Das Schöne ist die Gegenfarbe des Schmerzes“. Der Schmerz, der in unserer Gegenwart zu einer reinen Angelegenheit medizinischer Technik verkommen sei, solle wieder „singbar“ (9) gemacht werden. Zudem zwinge er zum „radikalen Perspektivenwechsel“ (10) und führe daher zu einer höheren Gesundheit im Sinne einer geistigen und intellektuellen Rekonvaleszenz. Natürlich kann man den immer zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit raffiniert chargierenden Heidegger in diesem Zusammenhang verwursten. Das geht immer, selbst wenn es ziemlich unklar aus dem Unterholz des Schwarzwalds tönt: „Die Erde ist das wesenhaft Sichverschließende“ (11) Ach ja, die Erde. 

Daraus wird bei Han, wieder passend zur Grundthese: „Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde geht heute zu Ende. Sie wird durch die digitale Ordnung abgelöst.“ (11). Da ist er wieder, der Weltschmerz. Kafka und Heidegger, wie auch eine größere Anzahl Anthroposophen, klatschen begeistert aus dem terranen Unterholz. Der „Datentotalitarismus“ der eskalierenden Konsumgesellschaft, die nur noch das Numerische, nicht mehr das Narrative kenne, die Algorithmen und KI über die Poesie stelle, sie ist den reaktionären Romantikern ein Stich ins Herz, so dass Han in deren Namen aufschreit: „Die verfügbare Welt verliert die Aura, ja den Duft.“ (11) Kein Wunder, dass Han auch das im Zeichen der Pandemie notwendige Social Distancing als Symptom für die grassierende Empathielosigkeit sieht. Den Anderen lediglich als möglichen Virusträger zu sehen, empört Han wie die Anti- Corona- Demonstranten, die zu Zehntausenden durch die Innenstädte fluten, ganz ohne Maske, aber, im Sinne von Han, doch offenbar von Poesie und Empathie beseelt. Sind diese Ritter gegen die Corona- Welle die letzten tapferen Kämpfer gegen den grassierenden Hedonismus der Moderne, der letzte Aufschrei der Zivilisationsmüden? 

Jedenfalls prophezeit Han: Der "westliche Liberalismus scheitert offensichtlich am Virus“ (12)- schon deshalb, weil die „biopolitische Überwachung des Individuums“ (12) in der Zukunft zu einem digitalen Überwachungsregime führen werde, schon aus der Notwendigkeit heraus. Alle „Gedanken, Gefühle und Absichten werden ausgelesen und ausgebeutet.“ (12). Der Orwellsche Alptraum steht bei Kulturpessimisten wie Han nicht nur vor der Tür, er ist bereits vollzogen. Dass diese apokalyptische Weltsicht selbst ein Beleg für die grassierenden Narrative ist, die nach Byung-Chul Han alle Macht in einer gealterten, todgeweihten liberalen Gesellschaft verloren haben sollen, da diese nur noch den Zahlen, Daten und der schmerzfreien Selbstausbeutung diene, ist diesem reaktionären Traktat völlig entgangen. Selbst der Narzissmus derer, die mit Ernst Jünger im Gepäck ein Loblied auf die Unmittelbarkeit des Schmerzes singen, als wären Soldaten- Tugenden das probate Mittel gegen eine palliative, nihilistische Gesellschaft, die auf Datensätze und Vermassung setze, bleibt unbemerkt. Eine intellektuelle Elite gefällt sich in der Attitüde des Widerstands gegen den herrschenden Liberalismus, dem die Maske (buchstäblich in Zeiten der Pandemie) herunter gerissen werden soll. Die „Selbstentfremdung“, die Amery dem alternden Individuum unterstellte, wird hier wie dort, als moderne reaktionäre Revolte, dem Liberalismus selbst vorgeworfen. Der Krieger in der Revolte gegen den Modernismus eint die Zivilisationsmüden. Kein Wunder, dass Ernst Jünger wieder aus den Regalen gekramt wird. 


Globale Märkte und unerfüllbares Begehren

Nun ist die zeitgeistige Zeitgeist- Kritik auch kein Privileg der Rechten, auch wenn sie sich zur Zeit so gibt. Die Linke ist natürlich seit langem der materialistischen Selbstausbeutung auf der Spur, und nennt sie sogar „Zombie Anthropophagie- zur neoliberalen Subjektivität“. (13) Eine ursprüngliche, radikale Subjektivität entsprang den 60ern und 70ern des letzten Jahrhunderts- auch im hier beschriebenen Brasilien, und führte zu einem waghalsigen „Experiment“, zu einem radikalen „Bruch mit dem Establishment“ (14), was zu einer Massenbewegung, einem umfassenden Protest und auch zu „makropolitischem Widerstand“ (14) führte. Der folgende „Prozess des kulturellen und existenziellen Experimentierens“ (14) hat dort wie hier eine Generation geprägt. Aber nach und nach wurde daraus eine „globale Reality Show“ (15), indem die flexible Subjektivität zu Treibstoff für neue Produktionsweisen wurde, was schließlich zu einer „Erfindung einer neuen produzierenden Klasse“ (15) führte, die man als „Kognitariat“ bezeichnen darf, das dazu beiträgt, etwa in der Werbung und in den Massenmedien „Welt- Bilder“ zu produzieren, „die den kulturellen, subjektiven und sozialen Boden für die Einrichtung der Märkte“ (15) bereiten- ein Begehren, das durch neue Märkte erschlossen wird, die in den neuen technischen Kommunikations- Formen, in visuellen Medien und Märkten global, aber auf die Subjektivität zielend, wirken. Es entsteht eine Klasse von „Kreativen“, Fotografen, Visualisten, Beratern, die eigentlich Selbstbilder produzieren und verkaufen, aber auch immer neue Produzenten dieser Reality Show benötigen und erschaffen- hin zu Trendscouts, Marketing, Investment- und Marketing- Experten. Ganze „Schöpfungsmaschinen“ (16) produzieren Welt- und Subjektivität- Bilder, denen gegenüber die eigentlichen,  gegenständlichen Produkte unwesentlich sind. 

Inzwischen tritt insofern eine neue Phase ein, als die Beworbenen über Social Media und YouTube ihre eigene Reality Show produzieren- sich selbst verzehren und zu Markte tragen, immer einen Steinwurf entfernt von der Erfüllung ihres Begehrens, in einer Massenmedien- Kultur wahrnehmbar zu werden: „In der Hoffnung, jenes Tages an ihrer Welt teilhaben zu können; identifiziert sie sich mit jenen Bildwesen, nimmt sie sich zum Vorbild und findet sich schließlich, durch das Begehren, so wie sie zu sein, in einer untergeordneten Position der Zärtlichkeit und des unablässigen Bettelns nach Anerkennung wieder. Weil ein solches Begehren notwendigerweise für immer unbefriedigt bleiben muss, ist der Hoffnung ein kurzes Leben beschieden. Das Gefühl der Ausgeschlossenheit kehrt immer wieder und um sich zu befreien, erniedrigt sich die Subjektivität noch tiefer.“ (17)

Die ewige Versuchung, den Idealen, die durch die Bilder produziert werden, zu entsprechen, ja selbst zu einer Instagram- Präsenz zu werden, die unendliches Begehren weckt, wie sie zu sein, muss unerfüllt bleiben und führt zu einer Selbstausbeutung, die Rolnik Anthropophagie nennt. Diese Markt- Mechanismen stehen einerseits im schärfsten Gegensatz zu dem, was Byung-Chul Han als post- narrative Gesellschaft beschreibt, die sich schmerzfrei nur dem Zählbaren verschrieben hätten. Die globalen Märkte funktionieren, wie Rolnik es beschreibt, vielmehr so, dass in den Massenmedien Subjektivität verkauft wird, die völlig idealistisch, völlig in ihren eigenen Narrativen verharrt. Geschichten, Begehren, ideale Gestalten, perfekte Körper: es geht eigentlich um ein transzendentes Begehren. Dass die idealisierten Bilder Märkte und Produzenten erschaffen, ist eine Sache. Der Versuch, Alter und Realismus dabei vollständig auszublenden, in dem Begehren, begehrt, angeschaut und angeklickt zu werden, wird zu einem Mechanismus eigenen Begehrens, der einer Sucht ähnelt und immer schmerzhaft enden muss. 


Instrumentalisierung durch die Rechte

Denn wir sind ja nicht die Figuren, die wie Saint- Germain von sich behaupten können: Ich habe kein Alter. Das Altern, die Realität des Vergänglichseins wird sicherlich in einer Kultur der idealistischen Anthropophagie doppelt, ja hundertfach schmerzhaft sein. Weltschmerz und Klage über „Datentotalitarismus“ sind selbst ein Narrativ, das vermarktet und politisch genutzt wird. Daher sind Corona- Proteste so schnell und gründlich von rechten Interessenkreisen zu instrumentalisieren. Die Corona- Leugner und Masken- Feinde passen so schön ins Weltschmerz- Narrativ. Das um so mehr, je gründlicher sie sowieso einem Elitarismus entspringen, der auch noch esoterisch aufgeladen daher kommt. So bei den Anthroposophen, vielen Yoga- Clubs und sonstigen Alternativen Denkern. Sie alle eint der Widerstand gegen die elektrische Anthropophagie, aber sie bemerken nicht, wie sie selbst vermarktet werden. Es ist dann eher niedlich, wenn ein Quer- Denker, Anthroposoph und Corona - Kritiker wie Professor Hueck erklärt: „Ich distanziere mich ausdrücklich von jeglichen rechtsnationalistischen oder rechtsradikalen Ideen und Bestrebungen, die sich gegen das Grundgesetz oder gegen die freiheitliche Grundordnung in Deutschland richten. Ich bilde mir mein eigenes Urteil über die Corona-Politik.“ (18) Das ist respektabel, wird aber schon deshalb schwierig werden, weil Hueck bis dahin einige der Narrative, derer sich die Rechten bedienen (Verschwörung, Bill- Gates), selbst vertreten hat. 

Die Attitüde des Widerstands gegen die durch Massenmedien vermittelten gesellschaftlichen Bilder, die sich selbst derselben Medien und ähnlicher suggestiver Bilder bedient, die Byung- Chul Han von philosophischer Seite her zu untermauern versucht, wird die rationale Corona- Maßnahmen- Kritik eher unterlaufen, weil die emotionale Besetzung und das Zielen auf subjektive Empfindlichkeiten alles andere mit sich reissen: So sind die Markt- Mechanismen, die längst - spätestens seit Trump- auch politisch einsetzbar sind. Trump gewann durch die Attitüde des Widerstands eines Individuums gegen das Establishment und die Fake- News. Auch er bediente sich der Fake- News- Mechanismen, die er vordergründig anprangerte: Das ist die schmerzhafte Spiegelwelt, in der wir stecken. Es wird immer schwieriger, Standpunkte einzunehmen, die nicht entweder schon Produkt solcher Bild- Mechanismen sind, oder doch schnell instrumentalisiert werden. 


——————Verweise


1 Jean Amery, Über das Altern, Revolte und Resignation,  Stuttgart 1968 

2 JA, S 74ff

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Graf_von_Saint_Germain

4 „Der 78-jährige ehemalige Architekt Richard Gärtner möchte seinem Leben ein Ende setzen. Dies soll jedoch nicht im Ausland, sondern ganz legal mit der Hilfe seiner Hausärztin geschehen. Für Dr. Brandt kommt es aus persönlicher Überzeugung nicht infrage, ihrem zwar betagten, aber gesunden Patienten ein todbringendes Präparat zu besorgen. Richard Gärtners Fall wird exemplarisch vor dem Deutschen Ethikrat diskutiert. Strittig ist dabei nicht die Frage, welche Formen von Sterbehilfe für Ärzte straffrei sind, sondern ob Mediziner dem Patientenwunsch eines Lebensmüden gerecht werden müssen – egal ob jung, alt, gesund oder krank.“ https://www.daserste.de/unterhaltung/film/gott-von-ferdinand-von-schirach/sendung/index.html

5 Byung-Chul Han, Palliativgesellschaft: Schmerz heute, Fröhliche Wissenschaft 169 oA

6 Han, S. 22

7 Han, S. 27

8 Han, S. 29

9 Han, S. 32

10 Han, S. 36

11 Han, S. 41ff

12 Han, S. 49

13 Suely Rolnik, Zombie Anthropophagie. Zur neoliberalen Subjektivität, Wien 2018

14 Rolnik, S. 35f

15 Rolnik, S. 41f

16 Rolnik S. 47

17 Rolnik, S. 53

18 https://www.akanthos-akademie.de/2020/12/01/wiederholte-distanzierung-von-rechts/