Das Antlitz Christi und narzisstische Kulte oder: Meditation ist heute politisch




Auf den Wegen geistiger Suchbewegungen gibt es keine gefühlige, sensationelle oder nur intellektuelle Zerrform, keine "Esoterik" im Sinne des zeitgenössischen Verständnisses, sondern stets etwas, was man nur als essentiell und wesenhaft erlebt, im Sinne einer höheren Vernunft, einer Rationalität, die in sich und durch sich heraus moralisch ist; einer Intelligenz, die praktikabel wird. Die allerdings muss sich bewähren; sie kann auf so vielfältige Art scheitern. 

Manchmal funktioniert sie in einer bestimmten sozialen Blase, in einer Situation oder Zeit. Manchmal wirkt sie gewinnend, lässt eine Initiative gedeihen, scheitert aber doch an zugrunde liegenden inneren Widersprüchen oder verborgenen Konflikten, die man nicht kommen sah. Die persönlichen, kollektiven und institutionellen  Wandlungen lassen eine Strategie, die funktioniert hat, eine Organisation, die sich bildet, auch altern- gerade die Institutionalisierung lässt das, was in der Gründungsphase mehr als konstruktiv und beflügelnd wirkte, in späteren Phasen wie ein Klotz am Bein erscheinen. Vielleicht beschwört man den Beginn, vielleicht man man einen Kult daraus, versteht aber doch die Version davon, die früher einmal funktioniert hat. Der Beginn kann zur Phrase, zur Maske, ja zum Hindernis werden, wie alles andere auch.


Kosmischer Narzissmus

Dennoch kann der Beginn kann nur im präzisen Denken liegen, da an diesem Punkt die höchst entwickelte Autonomie des Individuums vorliegt, wenn das hintergründige Umfeld gleichzeitig mit ausgeleuchtet werden und damit eine Distanz zum eigenen Impuls hergestellt werden kann. Die Intentionen sind nur an der Oberfläche transparent- das, was darunter liegt, bleibt vorerst unsichtbar, weil es so sehr mit der eigenen Perspektive verbacken ist, mit den Selbstgefühlen, dem biografischen Werdegang, den Gefühligkeit, dem Selbstbild, der Illusion, wie einen Andere sehen, den wirklich dominierenden Süchten wie denen, Anderen zu gefallen, sie zu belehren oder zu dominieren. Die Intentionen sind dort unsichtbar, wo sie ins Toxische übergehen. 

Andere toxische Ingredienzen, wenn es auch nur an den Spielfeldrand des Spirituellen geht, ergeben sich aus vielerlei Verschiebungen von Perspektiven. Gerade an Punkten, an denen die eigene klare Identität ins Schwimmen gerät, kann einerseits die Eitelkeit ins Unendliche, Kosmische verrücken. Die illusionären Selbstbilder werden in einen unerschütterlichen, pseudo- esoterischen Narzissmus entrückt, der zumindest im sozialen Kontext (außerhalb der sich bildenden sozialen Blase) bestenfalls als Seltsamkeit aufstösst. Andererseits werden die toxischen Anteile gerne in ein imaginäres Außen projiziert, wodurch eine imaginierte Welt der „Anderen“ entsteht, die dem Materialismus, den Massenmedien oder dem ideologischen Zeitgeist verfallen sein sollen. Die Konstruktion einer disparaten Welt, die sich aufteilt in Berufene und Gefallene, verlängert den spirituellen Narzissmus so weit, dass er religiösen und immer mehr kultischen Charakter annimmt.   


Das kosmische Superwesen und die Impfung

Ein weiterer, immer wieder bemerkter Aussetzer, der der fehlenden inneren Distanz und Objektivität sich selbst gegenüber entspringt und durch spirituelles Abenteuertum verstärkt werden kann, ist das simple Weg- Erklären, Abperlen- Lassen schlechter Nachrichten. Krankheit, Schicksalsschläge, Diskriminierung geschieht Anderen, weil sie es in der einen oder anderen Form herauf beschworen haben- eventuell auch durch karmisch bedingte Verfehlungen. 

Ich stehe faktisch auf einer höheren Stufe, womit ich mit derartigen Schlägen nicht belästigt werde. Meine Superiorität, die eindeutig gespeist wird aus moralischer Integrität, zeigt sich eben auch in der mir eigenen Gesundheit. Daher führe ich mir auch weiterhin geistige Nahrung zu und umgebe mich mit Menschen, die achtsam und geistvoll miteinander umgehen. Die Integrität meines moralisch- leiblich- geistig leuchtenden Leibes werde ich weder durch materialistische Gedanken und FakeNews noch durch biologisch minderwertige Nahrung ruinieren, geschweige denn durch Impfungen wie gegen das Corona- Virus. Ich bin schließlich als leuchtend- geistiges Wesen auch ein Teil kosmischer Aspekte, ein Atem- Prozess zwischen den Sternen, Christus und meinen Eingeweiden und Blut- Kreislauf. So etwas will man nicht verunreinigen durch manipulierte, im Labor erzeugte Eingriffe in die göttliche DNA. 


Korruption des Denkens, der Gefühle und Intentionen 

Dies sind nur -typische- Beispiele für Ego- Konstrukte, die auf einem realen Schulungsweg auffallen, der in einiger Skepsis gegenüber diesen Fallen, Selbstbeschönigungen und - Bespiegelungen dazu führt, wenn man tatsächlich den eigenen Denk- Meditationen wie den seelischen Verstrickungen geduldig nachgeht, dass der Adept des 21. Jahrhunderts in den Blick bekommt, was an narzisstischer Schlacke auf ihm liegt. Man geht durch Phasen und Aspekte der Korruption des Denkens, Gefühle und Intentionen, die nur bemerkbar werden können, indem der autarke innere Zeuge gestärkt wird, der auch in der Lage ist, die passiven Konstrukte, die ein Teil unserer Identität sind, anzuschauen, zu ertragen und sich situativ von ihnen frei zu machen. Letzteres ist auch deshalb ein so herber Verlust, da die nach außen gekehrten illusionären Selbstbilder ja auch der wesentlichste Aspekt unseres persönlichen Charmes, unserer Attraktivität auf Andere sind. 

Natürlich hat der leicht reden, der vom Adepten fordert: „Du musst die ablenkenden, bedürftigen, aber auch die sich elitär abgrenzenden Elemente, die dem Nur- Seelischen, den Selbstbildern, dem Haftenden, dem Anerzogenen, den genetischen Problemfeldern entspringen, im Sinne einer allmählichen Klärung ablegen, um in absolut reiner Konzentration Sein zu erfahren.“ Der Verzicht auf Macht, Suggestion, sexuelle Attraktivität, Dominanz, Führerschaft geht damit auch einher, dass der illusionäre Narzissmus, der sich nach außen kehrt, der wesentliche Aspekt dessen ist, was die „interessante Persönlichkeit“ determiniert. Suggestion, Macht, Attraktivität, Dominanz im Diskurs im Blick und im Griff zu haben, ist ein wesentlicher Aspekt geistiger Hygiene.


Loslösung und Illusionäre Schein- Inspiration

Man ist es nicht gewöhnt, ohne an irgend etwas anzustoßen, ohne Inhalte, ohne Spur, rein aus sich selbst heraus resistent - d.h. bewusst- zu sein. Normalerweise schläft man in einem solchen Zustand ein. Eine der schwierigeren Übung in dieser Willensschulung (und aus dieser besteht natürlich real praktizierte Anthroposophie) ist das Haften (im buddhistischen Sinne) an sensorischen und körperlichen Rückmeldungen. Die Aufmerksamkeit verliert sich in diesen sensorischen Rückkopplungen mit ihrer emotionalen Selbstvergewisserung. Wenn man an dem Punkt ankommt, sich davon situativ lösen zu können, ist das Seelisch- Bedürftige bereits zu Teilen geklärt, beruhigt, transparent- zumindest in der meditativen Situation. Aber der michaelische Mut besteht dann darin, so scheint es, über die Körper- Rückmeldungen hinaus weiter zu gehen, den Willen nochmals zu verstärken, um die Absolutheit des willentlichen Aus- Sich- Selbst- heraus- Existierens weiter und weiter zu führen. Es gibt da kein Ende, nur immer weitere überraschende Tiefen, da sich das Bewusstsein immer noch einen Schritt dafür erweitert. In der Tiefe dieser Stille gibt es kein Ende. So scheint es.

Tatsächlich verlaufen sich an dieser Stelle, an der das Ich- Bewusstsein für sich und aus sich heraus zu bestehen weiß, nicht wenige Adepten in eine illusionäre Schein- Inspiration, die kaum an etwas Greifbarem zu verifizieren ist, da jegliche Maßstäbe zu fehlen. Das Individuum fühlt sich, sieht sich, erlebt sich in einem objektiven erleuchteten Raum, glaubt sich in völliger Hingabe an einen Logos neu zu finden, der Perspektiven und umwälzende Erfahrungen der Erweckung eröffnet. So mancher fühlt sich an diesem Punkt erwählt, womöglich auf eine Mission geschickt, schöpft aus Eingebungen, die nicht anders als göttlich wahrgenommen werden können. Hier, an dieser Stelle, werden Gurus geboren. 


Irrlichternde Verwundbarkeit

Tatsächlich geht der Geistsucher jeglicher Schule in diese zeitlose Essenz hinein, aus der sich an diesem Punkt anbrandende Kräfte und Bilder offenbaren können. Es gibt Neigungen und Schulungselemente in dieser Region, die nicht anders erklärbar scheinen als aus früheren Mysterien stammend, aus einer bestimmten Tradition. Man erlebt für sich „Typisches“; man ist hier nicht zum ersten Mal; es ist aus vielen Gründen vertrautes Gebiet. Man hat hier und da Hinweise bekommen, Angebote zur Schulung und zur Unterweisung. Vieles war nett, manches anregend, aber letztlich blieb immer ein Rest im Inneren unbefriedigt. Das war es nicht. Es ist nicht lehrbar. Man hat, so scheint es, seinen eigenen Schlüssel gefunden, seine eigene Art des Zugangs. 

Tatsächlich gibt es kollektive Elemente dieses geistigen Raums, in dem sich das Ich in anbrandenden Lichtwellen einerseits zu verlieren droht, andererseits sehr wohl weiß um sein Bestehen in einem nicht- sinnlichen Umfeld. Aber an dieser Stelle ist die Verwundbarkeit auch groß; so mancher ändert mit so einer Erfahrung sein Leben, seine Einstellungen, seine Selbst- und Weltsicht; nicht unbedingt zum Guten. Die Bandbreite der Konsequenzen ist groß. Manche fühlen sich von nun an „erleuchtet“, was nichts als ein Label für die Grenze ist, an der die Denkerfahrung ihre eigene immanente Natur transparent macht: ein Grund für exaltierte Selbstbilder; es handelt sich um die Erfahrung des Denkens selbst und hat absolut kollektiven Charakter. Man kann dieselbe Erfahrung als als „Nichts“ kategorisieren und seinen Zynismus darüber hinweg ebenso entfalten wie Arroganz und Superiorität- Gefühle. 


Esoterische Institutionalisierung und Querdenkertum

Man kann auch ein kitschiges, selbst- referentielles System darauf aufbauen, in der ein esoterischer Vorstand eine anthroposophische Gesellschaft analog zur leibfreien Geisterfahrung des Individuums und Prozessen in der geistigen Welt anführt- in einer systematisierten, institutionalisierten Esoterik. Dieses Modell hat spätestens seit der Jahrtausendwende ausgedient; das Goetheanum als Kultstätte und Mysterienwort, an dem der Eingeweihte und Hohepriester inmitten einer feindlichen, materialistischen Welt einen sakralen Vorstand einberufen hat, an dem Mitglieder durch Teilhabe an Zweiglesungen und rituelle Verrichtungen in den Zustand höheren Wissens geführt werden, ist allmählich in sich zusammen gesackt. Man kann es in Vorstandsschriften der siebziger Jahre als historisches Dokument nach lesen (1), aber der ganze Stil, Duktus und die Emphase, die damals vielleicht überspannt wirkten, sind heute einfach aus der Welt gefallen. Freilich sind Elemente übrig geblieben und irrlichtern durch die rituellen Michaeli- Tagungen und Festtags- Ansprachen, vor allem aber, säkularisiert, durch die ideologisierte und politisierte Querdenkerschaft, die sich auf anthroposophischer Seite in den Kampf gegen die materialistischen Impfungen und die Pläne geheimer Weltregierungen wirft. Das alles kann den Blick nicht trüben, insgesamt eine heilsame Ernüchterung, Individualisierung und De- Zentralisierung der anthroposophischen Bewegung festzustellen. Der institutionalisierte Kultus hat pragmatische und differenzierte Seiten gewonnen, dafür aber die Stellvertreter- Hierarchie, in der die Nachfolger Rudolf Steiners inspiriert vor sich her repräsentierten, ebenso verloren wie die große Erwartung auf die Kulmination der Bewegung zu Beginn dieses Jahrhunderts.   


Esoterik als Weg des Logos

Die geistige Selbsterfahrung, um die es uns geht, das Gefühl, in der Realität des Menschseins auf einer weiteren Ebene angekommen zu sein, das sich in vielen Formen und Gestalten offenbart, aber doch einer individuellen, in seiner Essenz gleichen Form- und Zeitlosigkeit entspringt, kann nicht von irgend jemandem oder einer sakralen Institution abgenommen werden. Dass es in der Suchbewegung unsichere, erschütternde, möglicherweise auch Irrtümer und Fehleinschätzungen geben mag, ist selbstverständlich. Der Blick, der sich in der Suchbewegung erweitern und Sicherheit gewinnen sollte, kann abgelenkt, fixiert und seiner Kraft benommen werden. 

Die Suchbewegung, die nach sinnlichkeits- befreiter Autonomie des Geistes sucht, muss sich auch biografisch verankern in einer lebensklugen Rationalität, die vernunftbasierte Entscheidungen treffen kann und weiß, wann und wo solche Entscheidungen fällig sind. Ohne solche Verankerungen bekommen die geistigen Bemühungen, je näher sie an die „Schwelle“ kommen, leicht einen Einschlag, der weniger dem Narzissmus, sondern jetzt einer Derangiertheit der geistigen Orientierung nahe kommen. Die Möglichkeiten, sich zu verrennen - skurrile Obsessionen, Selbst- und Weltbilder zu entwickeln - erscheinen grenzenlos. Vor allem wird der innere Maßstab, die gefühlte Peilung des rationalen Urteils, merklich getrübt. In der ideologisierten, anti- rationalen Zeit, in der Putins und Trumps ihre Geschütze gegen rationale Maßstäbe auffuhren, folgen die ganz leicht entrückten Esoteriker politischen Slogans, Verschwörung- Erzählungen und Polit- Gurus ebenso wie den großen Trends auf Facebook. Die narzisstischen Kulte sind heute allgegenwärtig und säkularisiert, aber auch Teil der hybriden Kriege geworden, die die großen Machtsysteme entfalten. 

Esoterik als Weg des Logos sollte heute ein Weg sein, die eigene Anfälligkeit, die unbewussten Antriebe, aber auch die Manipulationen der öffentlichen Meinung besser zu erkennen. Die Vertiefung in Schweigephasen verschaffen eine Mitte in den anbrandenden Meinungsbildern. Die Autonomie bewährt sich im inneren Auspendeln verborgener innerer Bedürfnisse und der Versuche, an diese in Social- Media- Trends und politischer Stimmungsmache anzudocken. Meditation ist heute politisch.


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1 Rudolf Grosse, Die Weihnachtstagung als Zeitenwende, Dornach 1977/ 2