Der Flussdrache und die spanischen Kellner

Damals liefen wir gerne lange schweigend den Fluss entlang, in dessen Dunst, einem ganz speziellen Geruch, erdig, mit einem Anteil wie von vergorenen Muscheln. Im stetigen Wellenschlag stieg er zwischen den Steinen und aus dem sandigen Boden auf. Das Geräusch der leichten Wellen, das stete Knistern der Pappel- Blätter vor dem Deich und die Sonne, die auf dem mäandernden Wasser spielte, das nahm uns etwas mit sich, machte die Empfindungen leichter, als wir schweigend gingen. Eine Zeitlang, als wir trauerten, gingen wir fast täglich. Das war, weil er hier zu Hause gewesen war, ein Kind des Rheins, ein Fluss, der hier fast schwarz, aber nicht stetig war, nicht endlich in den Tiefen verwurzelt, der zu Zeiten von sich selbst überrollt wurde, von einem Wirbel mitgerissen, so wie er. Dann geriet er in einen dieser Zustände, trank viel zu viel Tee, rief mitten in der Nacht an, zog durch die nächtliche Stadt, egal bei welchem Wetter, sprach Spanisch mit den spanischen Kellnern, bis er beschloss, dem für heute ein Ende zu bereiten, auf einen Absacken, auf einen nächtlichen Gang. Du würdest dich wundern, wenn du nachts dort gehst, wo gerade noch das Leben pulsierte, Türen knallten, junge Männer ihre Jacken aufrissen, junge Frauen die Köpfe zusammen steckten. Die Nacht holt sich die Stadt zurück. Und dann riechst du auch den Fluss deutlicher als zu jeder anderen Stunde. Tagsüber schrieb er Briefe an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, an die Freunde, an die frühen Lieben, und damals, das war noch die Zeit, antworteten viele.

Der Gang am Fluss, das war für uns immer die Möglichkeit der Erinnerung, aber auch Vergegenwärtigung. Gerade die Mischung zwischen dem breiten, schweren Fließen, den Wirbeln und Licht- Reflexionen, aber auch dem Duft nach verrottenden Pflanzenresten im wieder und wieder durchtränkten, beweglichen Sandboden macht es möglich, dass man glaubt, dass dies, während man selbst im Gehen, Steigen, Klettern, freien Wandern, auf einem Stein hockend, der Part ist, der keinen wirklichen Stillstand findet, einen Ort darstellt, der ja nur scheinbar festen Bestand hat, weil der Fluss dieses Bett nicht gefunden hat- es ist ihm aufgezwungen worden. Früher wanderte er selbst, weit ins Hinterland hinein, verlegte sein Bett, splitterte sich auf, überschwemmte die zaghaft angelegten Saaten, und so, beklagen die Hausbesitzer, kann er noch heute unter der Oberfläche wandeln, der Nicht- Sesshafte. Ein Ort, direkt am Fluss gelegen, kann nur von kurzer Dauer sein. Er ist wie wir. Er wird alles, was wir bauen und schaffen, auch wieder vom Antlitz der Erde löschen.

Du aber legtest in der Nacht deinen Kopf aufs Pflaster, auch wenn es regnete, dein Haar floss in den Rinnstein, dein Mund wanderte in den Rinnsal, als wolltest du das Versickernde küssen, als die Lichter ausgingen, als die Schritte verhallten, als sich Pfützen und Rinnsale bildeten, die durch deinen Kragen wanderte, die Knopfleiste entlang, und dann wurdest du Teil des Flusses. 

Karsten Massei - ein Hinweis auf ein weiteres Buch von ihm unter 1) aber begleitet und an die Gewässer, die Bäche, Meere und auch an diesen Fluss. „An einem breiten Fluss zu stehen und in die Strömung zu schauen, ist ein besonderes Erlebnis“, (2), da man in diesem Fließen die Kraft spüre: „In fließendes Wasser zu schauen ruft einen besonderen Bewusstseinszustand hervor. Man meint, davonzubleiben, wegzuschwemmen, hat das Gefühl, sich von der Erde zu lösen, ja, sich aufzulösen. Es kann so weit gehen, dass man erschrickt und Angst vor dem empfindet, was nun geschehen könnte.“ (2) Das wandelbare Fließen zu erleben, sich hinein zu versetzen, kann den seelischen Punkt situativ lösen, der Orientierung, die „Orthaftigkeit“ vermittelt- eine Erfahrung, die man auch an der geistigen Schwelle macht. Das kann entweder zum Verträumen des Moments oder zu einer inneren Erkraftung führen. Es kann jedenfalls auch etwas wie ein seelischer Widerwille auftauchen, an die Grenze eines solchen träumenden, verwehenden und verwirbelnden Bewusstseins zu kommen. 

Massei erinnert sich am Fluss an all die verbundenen Quellen und Zuflüsse, die zu diesem situativen Wasserleib führen, vor dem er jetzt steht. Er sucht in all dem, was diesen Lein physisch erschaffen hat, ein geistiges Wesen, die den ganzen Fluss umfasst, einen Flussdrachen: „Durch den Flussdrachen werden sehr lebendige Kräfte unter den Wesen der elementaren Welt wirksam. Das Wasserelement ist der Lebensträger. Hohe Kräfte strömen durchs Wasser, die Grundlage des Lebendigen der Landschaft sind.“ (2)

Natürlich denkt man am Fluss daran, wie sehr er und die letzte Eiszeit diese Landschaft geprägt haben. Aber auch die Funktionalität, mit der der industrielle Komplex in seinen aufeinander folgenden Phasen in Hunderten von Jahren auf das ganze Bild eingewirkt haben. So sehr, dass eine natürliche Auen- Landschaft in den einmündenden Flüssen heute durch aufwändige Renaturierung  wieder hergestellt wird- allerdings mit Planverfahren, die sich über Jahrzehnte hinziehen werden. Unter den gegebenen Umständen wird die Renaturierung des alten Drachens mit hohem Aufwand, auch mit technischer Regulierung betrieben, der ursprüngliche Bewuchs und Baumbestand wieder hergestellt. Längst haben invasive Arten das Regiment übernommen, der Klimawandel muss berücksichtigt werden- alles, um „Natur“ wieder zu restaurieren. 

Was ist da mit den „kosmischen Kräften“, die der „Flussdrache“ repräsentierte, für die er einst verehrt wurde? Wo stecken sie im industrialisierten, zweckorientierten, in Betonbecken hinein gezwungenen Wasser? Die wandernden belebenden Kräfte, schreibt Massei, sind immer noch da und gebunden an das Fließende im und um den Fluss herum. Der Mensch könne die schmeichelnde Art der „Kräfte“ beim Schwimmen oder auf einer Bootsfahrt erleben: „Sie singen, sie lullen ihn ein, machen seinen Sinn schläfrig und umgarnen ihn mit Träumen. Sie erleichtern seine Seele, indem sie ihm bestimmte Bilder vorgaukeln. Sie erzählen von dem Zustand der Seele, die von der Entbehrung des irdischen Seins nicht nichts weiß“ (2) Sie sind die Traumwesen schlechthin und wirken auch die Erholung im Schlaf. Träumend liegen wir alle im großen Fluss: „Unter ihrer Begleitung kann die Seele die Bindungen an das irdische Leben hinter sich lassen.“ (2)

Anders in der Gischt, in Wasserfällen, im Aufspritzen des Flüssigen, bei den Felsen, im noch jungen Fluss. Hier leben noch „wilde Geister“, die es verlangt, sich im Licht an die Auflösung und Entgrenzung zu begeben, sie „haschen nach dem Licht“- und fallen danach in die fließende Schwere zurück, wie in einem „nie endenden kreisenden Traum.“ (2) Von den wandernden Wesen, den großen Sehnsüchten am Fluss, von den Geistern, die an den Mündungen und an den Quellen leben, sprechen wir heute nicht, sehr wohl aber von dem Wesen an der Quelle, das den Menschen, der sich ihm nähert, segnen möchte und sich daher „mit dem Scheitel- Chakra des Menschen verbindet“ (3). Und tatsächlich hat das Scheitel- Chakra ja im Erleben selbst etwas von einer herab strömenden Quelle, die sich stetig aus sich selbst erneuert. Es ist geradezu ein Ebenbild der Quelle. 

Dann aber, am Fluss, nach den Gesprächen mit den spanischen Kellnern, einem Absacken an der Bar, schüttelte er ein Medikament aus der Jackentasche und schluckte es mit dem letzten Tropfen aus dem Glas. Das war nah am großen Fluss, es schüttete, wie man so sagt, wie aus Eimern, und sein alter Burberry war sofort durch. Das Pflaster in Kaiserswerth ist tückisch, wenn es nass ist, auch wenn es im Lichtfeld der alten Gaslaternen wunderbar schwärzlich schimmert. Hier und da hatten sich Pfützen gebadet, er verschätzte sich bei einem übermütigen Sprung und kam mit hörbarem Geräusch falsch auf, rutschte auf den unregelmäßigen Basalt unglücklich aus, oder, vielleicht, hatten die Wassergeister des nahen Flusses ihn verträumt gemacht, bezaubert, verwirrt, oder vielleicht war es das ungewohnte Spanisch oder der Alkohol, das kann man nie genau ermessen, aber er fiel wie ein Baum, das zu nah am Wasser steht und sich im Schlick senkt und zu kippen droht, und es war, als hätte er kein Geschick mehr, sich zu wehren, als der Kopf ohne Gegenwehr auf die alten Steine prallte, ganz nah an einem Wasser, das aus den Kanälen am Rhein zurück staute, weil dieser Regen gar nicht mehr aufhörte und die Wassergeister frohlockten. 



Anmerkungen_____________________________

1 https://egoistenblog.blogspot.com/2018/01/vom-maandern-des-geistes-und-der-flusse.html In diesem Link zum Buch von Karsten Massei „Erde und Mensch Was uns verbindet“ (März 2018) https://www.futurumverlag.com/de/futurum-verlag/in-vorbereitung/erde-und-mensch

2 Karsten Massei, Botschaften der Elementarwesen, Basel 2013, S. 38f

3 KM, Botschaften, S. 36