Das Einbrechen der Herzkraft. Von Sophia zum Logos

 


In „Maria mit der Herzensrose“ (1) macht Salvatore Lavecchia auf ein besonderes Bild aufmerksam, eine Ikone der Maria aus dem 14. Jahrhundert, einer byzantinischen Ikone (Original Bild 2). Die den Betrachter anblickende kühle, nicht nährende, weniger mütterliche Maria hält einer einer zarten, fast luftleichten Gebärde ihrer linken Hand (was für zarte, lange Finger!) eine helle, unscheinbare Rosenblüte über ihrem Herzen, die bei näherem Hinsehen einen goldenen Schimmer zeigt. Nach dieser Blüte greift das Kind, das gleichzeitig gesäugt wird, ebenfalls mit seiner linken Hand, wobei es mit der rechten den Daumen der Mutter festhält und gleichzeitig so ins Nirgendwo blickt, als sehe es vor sich sein Schicksal. 

Das Stillen und das Erscheinen der Rose erscheint auf der gleichen Höhe- der Betrachter ist in den Vorgang wie eingebunden, wobei der fragende Blick der Maria an ihn appelliert, um sein Verständnis und Verstehen wirbt. Die Geschichte der Ikone, die ihren Weg aus Konstantinopel nach Udine fand, wird in dem Beitrag Lavecchias ausgeführt. Außerdem sucht er die Beziehung dieser Art von Darstellung und Verehrung, die sich in dieser Ikone ausdrückt, in einer eventuellen früh- christlichen Gemeindebildung durch den Evangelisten Markus. Er findet auch Verbindungen zu frühen Vorläufern des Rosenkreuzertums, auch weil die dargestellte Herzensrose in der Gebärde und im Blick der Maria so eindeutig an eine spezifische Erkenntnisseite appelliert, die Lavecchia mit dem wirklichen Rosenkreuzertum verknüpft sieht: das „wache und willensstarke, durch den Christus getragene Ich- Bewusstsein - bzw. die stimmig wirkende Bewusstseinsseele - mit den blühenden, sonnenhaft goldenen Herzenskräften, mit der Herzensrose der Isis- Maria- Sophie, h.h. der Christus- Sophia verbindet, das Astrale ichhaft verwandelnd und zum Bild der himmlischen Sophia aufblühen lassend.“ (3)

Die Grundströmung der kühlen Erkenntnis der Isis- Kräfte, der realen Logos- Ebene des erblühenden Herz- Chakras, soll im Blick, der Gestik und Symbolik dieses Bildes aus Udine anklingen und fordert unmittelbar zur inneren Teilhabe auf- ein Motiv, das über die Rosenkreuzer bis in die vorchristlichen Einweihungsschulen verweist. Salvatore Lavecchia nennt es „schöpferisches Herzensgespräch“ (4), das Urbild des Löwen. In diesem Zusammenhang sei auch verwiesen auf das noch zu erscheinende neue Buch Lavecchias „Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne“ im Verlag Freies Geistesleben (5).

Den Rahmen der zeitgenössischen Verbindung zu diesen Herz- Rosen- Kräften hat im 20. Jahrhundert Rudolf Steiner gebildet, der den Anfang des Weges so beschrieb: „Er muss nur nicht glauben, dass er nun gleich von heute auf morgen diese höheren Welten erobern kann. Er muss vielmehr die Geduld haben, diese Versenkung durch lange Zeit hindurch täglich immer wieder vorzunehmen. Hat er diese Geduld, dann wird er nach einiger Zeit bemerken, wie ihm ein Gedanke aufgeht, der nun kein bedachter Gedanke mehr ist, sondern ein von Kraft durchzogener, lebendiger Gedanke. Er wird sich etwas sagen können: so wie dieser mein Gedanke, so muss innerlich lebendig sein die Kraft, welche im Pflanzenkeime ist und ihn zu den Gliedern des Pflanzenkeimes auftreibt. Und bald wird sich ihm dieser Gedanke so zeigen, wie wenn er Licht ausströmte. In diesem innerlichen Lichtausströmen fühlt sich der Mensch froh und daseinsfreudig. Ein Gefühl durchdringt ihn, das man nur mit „freudiger Liebe am schöpferischen Dasein“ bezeichnen kann. Und dem Willen teilt sich eine Kraft mit, wie wenn ihn der genannte Gedanke mit Wärme durchstrahlt, die ihn energisch macht. Das alles kann der Mensch saugen aus der geschilderten richtigen Versenkung in das „Ich Bin“. Der Mensch wird nach und nach erkennen, dass intellektuelle seelische und moralische Kraft höchster Art auf diese Weise in ihm geboren wird, und dass er sich dadurch in ein immer mehr bewusstes Verhältnis bringt zu einer höheren Welt.“ (6)

Das Gemeinte stellt sich als lebenslanger, selbst gewählter und kaum zu kommunizierender Prozess heraus, ein Akt des freien Entschlusses, da nichts dazu anregt, nichts dabei heraus springen kann, nicht einmal ein erhöhtes Selbstgefühl oder Selbstbild. Selbst seelischer Profit verhindert jedes Fortschreiten augenblicklich und nachhaltig, selbst das Bespiegeln oder Beharren lässt den lebendigen Strom verstummen. Die Maria schaut einen an und fragt: Ihr allein wünscht der Befragte Antwort zu sein. Der Blick der Maria, die auf den Schauenden zurück verweist ist der Blick des Befragten auf sich selbst. Das Denken allein kann die sachliche Mystik nicht entzünden- nur der Rückverweis auf den Denkenden selbst, auf seine pure, unverfälschte und reine Präsenz. Das „schöpferische Dasein“ ist er selbst, in ihm findet er seine wirkliche, ungespiegelte aktive Identität. 

Aber selbst in der Stille der sprießenden Daseins- Kräfte, die sich behaupten im Nicht- Dialektischen, in der Leere des Nicht- Assoziativen, der ungebrochenen Aufmerksamkeit, wirken die Herzkräfte wie ein unterirdischer Strom, in den es nur von Zeit zu Zeit unvermittelt gelingt, hinein zu schlüpfen: das „unerschöpflich blühende Gold der sonnenhaften Herzenskräfte“ (7) ist ein Klang aus der Tiefe, der sich unvermittelt enthüllt und in einer noch weit umfänglicheren Hingabe zum Ausdruck bringt: In der Herzenshelligkeit (7), in der sich der „schöpferisches Zusammenklang von Geist/Ich, Seele, Leib sowie von Denken, Fühlen, Wollen verdichtet“ (7). Diese Marien- Kräfte - Massimo Scaligero nennt sie in seinen 1937 geschriebenen, nicht publizierten spirituellen Tagebüchern die „göttliche Mutter“- wirken lange wie schwebend über dem zentrierten und gleichzeitig flüssigen Bewusstsein; ihr Erwachen in der „Reinheit hoher Gelassenheit“ (Scaligero, 8) geschieht meist in einer unerwarteten Wendung, die sich wie eine Umstülpung ausnimmt, ein Wieder- Erwachen auf ungleich höherer energetischer Ebene, die zugleich Selbst und Nicht- Selbst darstellt, erlebbar als Neugeburt in einer nie geahnten Einheit des eigenen Wesens und aller eigenen Kräfte, aber zugleich in einer hingebenden Frömmigkeit, die sich ausmacht wie der Urgrund der Schöpfung selbst. 

Schon am Anfang dieses Prozesses, der nicht in der eigenen Hand liegt, der ebenso als Selbst- Offenbarung wie als Gnade erscheint, erlebt Scaligero die Rückkehr zum „reinen Ursprung“, zu einem „Frieden, den nichts stören kann“. Aber auch: „Entkommen ins Nichts, bin ich in abstrakter Stille, aufgelöst in einsamer Stille. Ich bin nicht, ich denke nicht, ich hasse nicht, ich sehe nicht, ich fühle nicht, ich existiere nicht. Das Leben ist vorüber, der Tod ist überwunden, Bindung überwunden, Angst überwunden. Im Mysterium der überlegenen Einsamkeit überlasse ich mich der Unendlichkeit, ich löse mich in ursprünglicher Reinheit auf… Ich bin ruhig wie ein schlafender See, durchsichtig wie die Luft, frisch wie der Morgen, temperiert wie der Herbst, warm wie der Frühling, immer noch so still, weich wie die Liebe. Ich existiere also nicht: Ich verliere mich im Nichtsein.“ (8) Aber dann, in späteren Notizen, erwacht in diesem Nichtsein dann die Erfahrung, dass dieses sich anders ausdrückt als: Sich selbst wieder in die Hände der Göttlichen Mutter zu legen, in einen transzendenten Frieden, in dem "ich blühe und blühe" (8). Erst nach und nach wird diese „Quelle flüssiger Vitalität“ zu dem, was Scaligero als „ein sicherer Hafen des Selbst“ erlebt, als etwas, was „immer präsent in mir“ (8) ist. 

Mit dem Wissen, dass Scaligero, der enge Freund Julius Evolas, nach Verfassen dieser ekstatischen Vertiefung in seinen Einweihungs- Prozess zugleich immer stärker rassistisch und antisemitisch abgedriftet ist und der Rasse- Begriff auch in seinen späteren öffentlichen mystischen Schriften immer wieder als nicht viel erwähntes, aber zentrales Element von ihm betrachtet wurde, fragt sich, ob er den „sicheren Hafen seines Selbst“ und seiner Erkenntnis nicht doch so verfehlt hat, dass die beschworene Erfahrung der absoluten Reinheit von ihm  auf derbe Weise auf die Rasse übertragen worden ist. Der spirituelle Ehrgeiz, dass die Marien- Kräfte „immer präsent“ in ihm sein sollten, könnte zu einem fatalen Irrglauben geführt haben- trotz der zweifellos intensiv erlebten Kraftfelder in der Überwindung der Bindungen. Kann eben diese Auflösung auch zum Irrweg führen?

So kommen dann, Ende April 1937, in diesen nicht veröffentlichen spirituellen Tagebüchern, auch ekstatische Anmerkungen zum Ausdruck, die wie von Nietzsche wirken, inmitten einer von Scaligero so erlebten totalen Transmutation: „Liebe zum Kampf, um die Kohorte der Geister des Nicht-Seins zu befreien, für die Verwandlung jeder menschlichen Sache im Übermensch.“ (8)

Hier übersteigt Scaligero das „schöpferische Herzgespräch“ (Lavecchia) vermutlich und verliert den fragenden Blick der Maria aus den Augen. Die „Einheit“ scheint zerbrochen.

Ganz anders Georg Kühlewind, der ebenfalls den Weg des Logos für das Gegenwarts- Bewusstsein aufzeigte, aber stets bemüht war, die innere „Einheit“ zu verwirklichen, den „Apparat“ der Denk- und Seelenstrukturen zu durchdringen, aber im Sinne eines sanften, empfangenden Willens: „Wer das Licht des Lebens erlangt, stellt eine Einheit her, die in der Urgeschichte zerbrochen war. Das menschliche Licht - das Bewusstsein- hat heute kein Leben; es stützt sich auf das lichtlose ihm gegenüber stehende Leben, das Leben des Leibes. Ohne den lebenden leiblichen „Apparat“ ist gewöhnliches Bewusstsein nicht möglich. Der Weg geht dahin, das Bewusstsein zu eigenem Leben zu entzünden. Dann braucht es das körperliche Instrument nicht mehr, um zu bestehen - es muss die Lebenskräfte des Leibes nicht zerstören (..). Eine solche Haltung sucht zweifellos das „ewige Leben“ im lebendigen „Bewusstsein des Ich-bin-da“ und überwindet situativ, in meditativen Momenten, das „Haften an dem psychischen Leben“ und dem „Sich-selbst-fühlen-Wollen“ (9), verliert aber doch nicht den Weg aus dem Blick: Dass es dauernder und anhaltender Bemühung bedarf in der „Erforschung der Hindernisse, die der Verwirklichung eines Gegenwartsbewusstseins im Wege stehen, und Erarbeitung der Methoden, diese Hindernisse zu beseitigen. Denn der Tröstergeist w o h n t noch nicht im Menschen.“ (10) Es ist, selbst dem Begabten, dem geistig Beschenkten, dem Erleuchteten, nicht gegeben, sich vorzustellen, dass die Marien- Kräfte ihn so durchdringen könnten, dass er sozusagen Erlösung erlange. Das Entzücken über das Freiwerden determinierender seelischer oder geistiger Automatismen und Reflektions- Ebenen kann gerade den Blick verstellen. Im Sinne des Neuen Testaments, schreibt Kühlewind, besteht das „Prinzip, das aus dem Menschen ein Tier macht; nicht ein Tier der Natur, sondern das Menschentier, das seine verdorbenen, nicht natürlichen Instinkte mit Intelligenz zu befriedigen bestrebt ist.“ (11) Die Arbeit am Geist in der kontinuierlichen Vertiefung der Erkenntnis- Möglichkeiten - Aletheia- und der „moralischen Intuitionsfähigkeit dazu“ - Charis- (11) ist eine Menschheits- Aufgabe, ein Entwicklungsprozess: „Der Logos ist durch die Sichtbarkeit gegangen und in die Unsichtbarkeit des Menschenherzens gekommen: Von diesem Ort aus erleuchtet er die Welt“. (11)

______________

1 die drei 2/22 S 53 

2 https://www.wikiwand.com/it/Santuario_della_Beata_Vergine_delle_Grazie_(Udine)

3 Lavecchia, die drei 2/22 S. 58

4 Lavecchia, die drei 2/22, S. 56

5 „Salvatore Lavecchia, Professor für Philosophie an der Universität Udine, repräsentiert eine moderne Anthroposophie, die den Austausch mit der zeitgenössischen Philosophie und mit anderen spirituellen Strömungen sucht.

Sein besonderes Interesse gilt einer Philosophie des Ich, die den Menschen gleichzeitig als Sinneswesen in den Blick nimmt. Dazu legt er jetzt ein grundlegendes Werk vor. Lavecchia zeigt darin, dass der menschliche Sinnesorganismus ursprünglich dazu bestimmt ist, die verstehende Begegnung mit anderen Ichwesen zu ermöglichen. In einer solchen Begegnung erweist sich das Ich als eine geistige Sphäre aus Wärme und Licht, in der das andere Ich sich offenbaren kann. Ich als Gespräch.“ https://www.geistesleben.de/Wissenschaft-und-Lebenskunst/Anthroposophie/Ich-als-Gespraech.html?listtype=search&searchparam=lavecchia

6 Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der Esoterischen Schule Band I, Im Selbstverlag heraus gebracht von Marie Steiner, 1949/2, S. 29

7 Lavecchia, die drei 2/22 S. 54e

8 Tagebuch - Notizen von Massimo Scaligero, auf Italienisch auf der Facebook- Seite von Piero Cammerinesi https://www.facebook.com/pierocammerinesi Übersetzung durch Google

9 Georg Kühlewind, Das Gewahrenden  des Logos, Stuttgart 1979, S. 64

10 Georg Kühlewind, S. 74

11 Georg Kühlewind, S. 86ff


Foto- Vorlage aus dem zitierten Artikel in die drei