Ich als Gespräch- geistige Selbsterfahrung, Begegnung und die Sinne
Natürlich kann man vermeiden, mit der Tür ins Haus zu fallen, aber warum eigentlich? Salvatore Lavecchia jedenfalls stürmt in seinem neuen Buch (1) bereits in seinem ersten Satz in das hinein, was eindeutig aus rein geistiger Erfahrung geschöpft, in eine immer wieder eigens geschöpfte Sprachgestalt hinein gegossen und damit für den Leser immer zu erschließen sein wird - der Leser wird wohl tun, in der Begegnung bereits mit der ersten Szene, quasi an der Haustür, die hungrige Info- Happen- Verdauung beiseite zu stellen, Luft zu holen, sich hin zu setzen und sich entweder darauf einzulassen oder es zu lassen: „Deine Stimme, Deine Worte, Deine Gedanken hörend, denkend, verstehend, bin ich Mitte geistiger Wärme und geistigen Lichtes, dem Du als Ich, als schöpferisches, unvorwegnehmbares Fragen von einer gegenwärtigen Unendlichkeit her antwortest. Diese wärme- und lichtvolle Unendlichkeit offenbart mein Ich, Dein Ich als Gespräch, als Gemeinschaft, wo ich mich durch Dich, in der Wahrnehmung von Dir als lebendiges, wahrhaftiges Bild Deines Ich, als Ich neu gebären und bilden kann.“ (2)
Diese Schilderung eines inneren Verstehens in der Begegnung schlägt als so auch benannte „Stimmung“ den Ton an, den dieses kleine, aber vielstimmige meditative Büchlein Lavecchias umkreist- geht es doch um das Ich, die geistige Erfahrung schlechthin, um Begegnung, das Verstehen als solches, die Sinneslehre Rudolf Steiners aus neuen Gesichtspunkten betrachtet. Es geht um die Überwindung des nur dualistischen Bewusstseins in einer Situation hundert Jahre nach Steiner: Ein Erleben, das man früher als „Schulungsweg“ bezeichnet, das Rudolf Steiner umrissen und ausgelotet hat, das Didaktiker wie Kühlewind schrittweise gangbar gemacht haben, ist heute so greifbar wie nie im Alltags- Bewusstsein. Es liegt jeder nicht nur ritualisierten Begegnung, jedem ernsthaften, aktuellen Akt des Begreifens, Erfassens und Verstehens zugrunde.
Natürlich kehrt Lavecchia nun auch wieder um und zu den Hieroglyphen unserer einsamen und dualen Welt- und Selbstbilder zurück, dem Selbstgefühl als selbstbezüglicher Bewusstseins- Punkt, dem eine Welt des Anderen gegenüber steht. Diesen Ursprung des Solipsismus, der Selbstbilder und Weltgefühl begründet, nennt Lavecchia die „einseitige (..) Konzentriertheit auf Innerliches, die mit der Vorstellung und dem Erleben des Ich als atomartiger, in sich zusammengeschrumpfter, finsterer Punkt zusammenhängt.“ (3) Das digital self mit seinen Spiegelungen in internet- fähigen Geräten ist eine weitere Zersplitterung auf einer elektronische Ebene, in der der erlebte Solipsismus sich immer wieder bestätigt.
Lavecchia will aber nicht darauf hinaus. Er beschäftigt sich ganz im Gegenteil mit dem Bild der „geistigen Wärme- und Lichtsphäre (..), das zu einem tieferen Erleben der Begegnung zwischen Ichwesen sowie zur Wahrnehmung des Gesprächs als Wesen des Ich beitragen kann.“ (3)
Die Methode, die er dabei anwendet, ist die Umkehr des Blicks - auch die des Lesers- auf die „fruchtbar leere Wachsamkeit“ (4), die das Ich in jeder Alltagsbegegnung dann erzeugt, wenn es tatsächlich so frei von sich wird, dass es über seine „subjektivistische, solipsistische Selbstprojektion“ (4) hinaus kommt und sich tatsächlich auf den Anderen einläßt. Lavecchia geht es um den „Augenblick des Verstehens“, um die Freiheit in der nicht durch irgend etwas bedingten Aufmerksamkeit, als „bewusste, fruchtbare Leere, als schöpferisch leere Ichsamkeit“ (4).
Diese aktive schöpferische, essentiell leere Hinwendung ist nun keine geistige Entität, die irgendwie und irgendwo hinter Wahrnehmung und Gedanken stecken würde, sondern die Wachsamkeit, Kraft und Wirksamkeit ist die Quelle, „die ich bin“ (4). Gegenwart „ereignet sich, in jeder Wahrnehmung, die ins Verstehen mündet, jenseits von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Subjekt und Objekt, von Identität und Andersheit.“ (4) Letztlich wird - für denjenigen, der dieser Erfahrung geistig folgt und sie vertieft- durch die geistige Wärme eine „gegenwärtige unendliche Sphäre aus geistigem Licht (geboren), in der sich ein anderes Wesen wahrhaftig offenbaren kann.“ (5)
Diese Erfahrung der wachen, leeren Sphäre ist der Ausgangspunkt, von dem aus Lavecchia die geistige Bewegung, die jeder Wahrnehmung, Begegnung, jedem Verständnis- Akt zugrunde liegt, weiter verfolgt und vertieft. Diesem essentiellen offenen Raum liegt - Rudolf Steiner hat darauf seine Meditation für Ärzte und Pfleger begründet (6)- eine für die geistige Selbsterfahrung wesentliche Wärme zugrunde, die in Lavecchias Worten so erfahrbar werden kann: „Im Verstehen ist das Ich (..) eine Mitte aus geistiger Wärme, die augenblicklich eine unendliche Sphäre gebären will“- zugleich aber zu einer „uneingeschränkten Durchsichtigkeit des Lichtes“ (7) wird, das Begreifen, Verstehen des Anderen konstituiert. Die geistige Selbsterfahrung wird so zum meditativen Erfassen des „geistig sphärende(n) Wesen(s) des phänomenalen Ich.“ (7)
Lavecchia geht in seinen Meditationen den Möglichkeiten zwischen Begegnung, Wärme und Herzkräften nach, nutzt dabei auch eigene Wortschöpfungen und bleibt konzentriert in seiner Perspektive. Natürlich könnte er auf dieser Ebene geistiger Erfahrung auf Themen wie die Ausbildung des Herz- Chakra kommen. Oder auf das „webende Gedankensein“ (8), das Rudolf Steiner so eindrücklich schildert, welches wie Lichtwellen von außen auf die innere Sphäre des Erlebens einwirkt, und das ebenso zur geistigen Selbsterfahrung dazu gehört. Stattdessen geht Laveccia mit dem erworbenen Rüstzeug - der Perspektive des herzwachen Gewahrseins- nun, als Herzstück des Buchs, auf die zwölfgliedrige Sinneslehre Rudolf Steiners ein. Er untersucht diese unkonventionelle Lehre so, dass die Intention Lavecchias eingelöst wird, „eine anfängliche Wahrnehmung der geistigen (..) Dynamik anzuregen, die der von Steiner charakterisierte zwölfgliedrige Sinnesorganismus offenbart, wenn wir die Begegnung zwischen Ichwesen als Ort der urbildhaften Sinnestätigkeit ernst nehmen wollen.“ (9)
Die meditative Betrachtung aller Sinne regt wie auch die bis dahin erfolgte Hinführung wie wenig andere Bücher selbst zu aktiver meditativer Arbeit an- das Lesen selbst im Erfassen und Nachverfolgen dessen, was Laveccia unter „Ich als Gespräch“ versteht- ist eine meditative Tätigkeit. So ist es auch keine Überraschung, dass Laveccia im dritten Teil des Buches auf Georg Kühlewind und Massimo Scaligero hinweist, die als Pioniere moderner meditativer Schulung gelten dürfen. Das aber mag ein Thema für eine spätere Betrachtung sein.
Verweise______________________
1 Salvatore Lavecchia, Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne, Stuttgart 2022
2 SL S. 9
3 SL, S. 13ff
4 SL, S. 19ff
5 SL, S. 23
6 Peter Selg „Die sogenannte ‘Wärme-Meditation’ erhielt die Medizinstudentin Helene von Grunelius im Frühjahr 1923 von Rudolf Steiner für sich und ihren Freundeskreis, der medizinische Grundlagenstudien betrieb. Die ‘Wärme-Meditation’ wurde zum zentralen esoterischen Gut der Freundesgruppe – Madeleine van Deventer zufolge bezeichnete Steiner sie ‘als den Weg des Mediziners zum Schauen des ätherischen Christus’. Das Buch beschreibt den geschichtlichen Kontext der Meditation und einige ihre geistigen Implikationen.“ https://goetheanum-verlag.ch/produkt/die-waerme-meditation/
7 SL, S. 28
8 Rudolf Steiner: „Würde die Geistesgegenwart in ausgiebigerem Sinne bei den Menschen heran erzogen, so würden heute schon alle Menschen reden können von geistig-übersinnlichen Impressionen, denn sie drängen sich eigentlich im eminentesten Maße auf beim Einschlafen und Aufwachen, insbesondere beim Aufwachen. Nur weil so wenig heran erzogen wird, was Geistesgegenwart ist, deshalb bemerken die Menschen das nicht.
Im Momente des Aufwachens tritt ja vor der Seele eine ganze Welt auf. Aber im Entstehen vergeht sie schon wiederum, und ehe sich die Menschen darauf besinnen, sie zu erfassen, ist sie fort. Was sich da abspielt im Momente des Aufwachens, das sind nicht Lebensreminiszenzen. Sie sind sehr gut zu unterscheiden von Lebensreminiszenzen, diese flutenden Gedanken.
Die Gedanken, die ich jetzt meine, sie stellen sich wie ganz objektiv dar gegenüber dem eindringenden Ich und dem astralischen Menschen, und man merkt ganz genau:
man muss passieren den Ätherleib; denn solange man den Ätherleib passiert, bleibt alles traumhaft. Man muss aber auch passieren den Abgrund, den Zwischenraum – möchte ich sagen, wenn ich mich recht uneigentlich, aber dadurch vielleicht deutlicher ausdrücke –, den Zwischenraum zwischen Ätherleib und physischem Leib, und schlüpft dann in das volle Ätherisch-Physische hinein, indem man aufwacht und die äußeren physischen Eindrücke der Sinne da sind.
Man kommt auf dem Wege einer solchen Beobachtung zu der Erkenntnis, dass sich zwischen unserem physischen Leib und Ätherleib, gleichgültig ob wir wachen, ob wir schlafen, immerzu Vorgänge abspielen, die eigentlich im webenden Gedankensein bestehen. Dieses webende Gedankenleben kommt eigentlich so, wie es ist, im Wachzustande nicht zu unserem Bewusstsein. Wenn wir nämlich aufgewacht sind, schlüpfen wir mit unserem Ich und mit unserem astralischen Leib in unseren physischen Leib hinein. Sie werden, indem Sie das Sinneswahrnehmungsleben in sich haben, mit den äußeren Weltengedanken, die Sie sich bilden können an den Sinneswahrnehmungen, durchdrungen und haben dann die Stärke, dieses objektive Gedankenweben zu übertönen.
An der Stelle, wo sonst die objektiven Gedanken weben, bilden wir also gewissermaßen aus der Substanz dieses Gedankenwebens heraus unsere alltäglichen Gedanken, die wir uns im Verkehre mit der Sinneswelt auf die eben angedeutete Weise ausbilden. Gewissermaßen in derselben Region unseres menschlichen Wesens ist beides vorhanden: das objektive Gedankenweben und das subjektive Gedankenweben. Das objektive Gedankenweben, wenn es wahrgenommen wird, wenn wirklich eintritt, was ich geschildert habe als das geistesgegenwärtige Ergreifen des Momentes des Aufwachens, dieses objektive Gedankenweben wird nicht als bloß Gedankliches erfasst, sondern es wird erfasst als dasjenige, was in uns lebt als die Kräfte des Wachstums, als die Kräfte des Lebens überhaupt.
Diese Kräfte des Lebens sind verbunden mit dem Gedankenweben. Sie durchsetzen dann den Ätherleib nach innen; sie konfigurieren nach außen den physischen Leib. Was in dieser Art in uns ist, wir nehmen es als ein innerliches Weben wahr, das aber durchaus ein Lebendiges darstellt. Das Denken verliert gewissermaßen seine Bildhaftigkeit und Abstraktheit. Es verliert auch alles das, was scharfe Konturen sind. Das Weltendenken webt in uns.
Wir erfahren wie wir mit unserem subjektiven Denken untertauchen in dieses Weltendenken.“
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Rudolf Steiner, GA 207, Seite 51ff
9 SL, S. 48