Die sonnenhafte Leere



Die Pflege der Bewusstsamkeit

Schon verschiedentlich habe ich auf Salvatore Lavecchia und auch auf sein letztes Buch (1) hingewiesen, das sich mit einem gelungenen, sehr modernen Drei-Sprung einer selbstreflektierten Esoterik folgend, Rudolf Steiners Sinneslehre annähert und dabei dem "Zusammenklang zwischen der zentrifugalen und der zentripetalen, der selbstbezogenen und der weltbezogenen Wahrnehmungsgebärde des Ich" (1) nachgeht. Der Drei-Sprung besteht darin, zunächst die Praxis einer selbstreflektierten Esoterik im Sinne einer intellektuellen Selbstschulung zu folgen und diese konkret zu beschreiben, dann die komplexe Sinneslehre Steiners in diesem Licht zu beleuchten- und schließlich daraus, im dritten Teil, Perspektiven auf das menschliche Ich und den Alltag der Gegenwart zu entwickeln. Dabei nutzt Lavecchia die klassische manichäischen Kunst- Gegensätze der Anthroposophie als Mittel der Illustration: "Das sich wahrnehmende Ich wird demzufolge weder von der eisig finsteren, sklerotisierten, stets verortbaren und überwachbaren Dichte eines atomistischen Selbst noch von der elektrisch hitzigen, emotional unzentrierten, unschöpferisch ekstatischen Leere eines geistlos psychischen Selbst eingesogen." (1) Das atomistische Selbst kann man als das sich fühlende, in sich beharrende Ego ansehen, das in einem Pendelschlag sich selbst immer wieder verloren geht in den unendlichen Ablenkungen sensorischer, medialer und kommunikativer Akte. Das in sich verkrustete Ego geht emotional und geistig verloren in äußeren Anforderungen, Gerüchten, Manipulationen und "öffentlichen Meinungen" der sozialen Netzwerke und propagandistischer Aktivitäten.

Der Schulungsweg will eben die Freiheit gewinnen, aus dieser inneren zwingenden Zerrissenheit heraus zu führen, in einer Pflege auch der höheren Sinne und der Entwicklung einer stabilen Mitte:

"Das Bild vom Ich als geistige Mitte - zu dem die leiblichen Sinne führen - und das Bild vom Ich als uneingeschränkt weltoffene Sphäre - zu dem die seelischen Sinne führen - können, ausgehend von den oberen Sinnen, als lebendige, schöpferische Einheit zusammenklingen: als ichsame, generative, sphärende Leere, unerschöpflich in sich zentriert und zugleich unendlich weltoffen sphärend; nicht als ichlose, sondern als unbedingt selbstlose, wachsam warme, sonnenhafte Leere." (1) Aber was meint Lavecchia damit? Er spricht von innigem Zusammenklang von Licht- und Wärme- Sphären, vom Ende der Götter und dem Beginn des eigentlich menschlichen Wollens, aber warum, wozu, wohin? Ganz offensichtlich geht es Lavecchia vorerst um eine „Entscheidung für die geistige Gegenwart“ (2), um eine freie Tat gegen die Entsinnlichen und Zombifizierung (sinngemäß: 2), also den tiefen Fall in den Materialismus, die dunklen Aspekte der Technifizierung, was zu gleich von Lavecchia aufgefasst wird als freie Entscheidung für die innere „Auferstehung als neue Schöpfung des Weltenlogos“ (2).

Das also soll die Pflege der „Bewusstsamkeit“ (3) bewirken. Die Entdeckung des paradiesischen Gartens der Leere, in dem die Blumen des Logos blühen, die Hingabe an die Tiefe, dunkle Seite des unterirdischen Meeres, in dem bislang unbekannte Tiefseebewohner zu entdecken sind, sind das nicht alles Räume der Chemischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz? Ja und nein. Ja, wenn man es als weghafte Bewegung des freien Ich versteht, das seine Liebe zur inneren Beweglichkeit entdeckt und pflegt.


Intuition und sanfter Wille

Aber auf der anderen Seite ist diese Leere, wie Georg Kühlewind so umfassend dargestellt hat, auch Element jedes einzelnen bewussten Denk- und Verständnisakts, jeder Begegnung in sensorischer und dialogischer Hinsicht; das Zurücknehmen des aktiven Eigenwillens, das Auf- und Wahrnehmen des Anderen in mir, des Ich im Anderen, ist Grundlage jeglichen menschlichen Verständnisses:

So „.. betont Steiner, dass das Denken unsere eigene Aktivität, unser Tun ist, in polarem, charakteristischem Gegensatz zu seiner Gegebenheit. Dass wir es als unsere Aktivität empfinden, gilt für die europäisch erzogene Menschheit seit etwa dem 9. Jahrhundert. Auch die klar erfahrene Aktivität ist eine Zweiheit. Einerseits ist das Denken immer eine Sache des Willens; dieser wird aber andererseits im Augenblick der Intuition der Erscheinung eines Neuen - ein «umgekehrter Wille», das heißt empfangend. Dieser Wille ist vom gewöhnlichen völlig verschieden. Es ist, als ob er sagen würde: «Dein Wille geschehe» oder «Präge mich». Dementsprechend ist er selten und bewusst nur schwer herstellbar. Es ist derselbe Wille, der in der Meditation wirksam ist und in Augenblicken des intuitiven Denkens aufleuchtet.

Im Laufe der Untersuchung oder Beobachtung des Denkens wird es immer klarer, dass Steiner die Intuition, den Verständnisakt selbst als das wahre Denken betrachtet. Nun ist das intuitive Finden einer neuen Idee einerseits etwas, das Geschenk oder Gnade genannt werden kann, andererseits aber in höchstem Maße individuell; ja, darin besteht eben die wahre Individualität, dass sie ganz einmalige und charakteristische Intuitionen hat.“ (4)

„Verständnis“ ist dabei mehr als ein rein mechanisches Konstatieren und Kategorisieren; gemeint ist ein Verstehen, eine Teilhabe, eine Zuwendung. In der Gebärde der Zuwendung, die sich leer macht von eigener Meinung und Erwartung kann das Verständnis des Anderen als Anderes entstehen- außerhalb des Kalküls und der Kontextualisierung. Das ist eben nicht nur die Aktivität des eigenen Denkens, es ist ein Moment des Innehalten und des aktiven Sich- Prägen- Lassens. Erst danach, nach der erkennenden Leere, folgt die Kontextualisierung, die Relativierung, die mögliche Erfassung der Konnotation, der verborgenen Absicht, der Nebenaspekte. 


Das Ausbleiben des inneren Raums

Leider nützt das mechanische Zurückhalten, wie man es bei Menschen, die bewusst „üben“ und mit dieser Haltung in Begegnungen hinein gehen, bemerken kann, wenig. Es schwingt im wirklichen sanften Willen ein liebevolles, ich- Haftes Mitgehen mit hinein. Fehlt das teilnehmende, warmherzige Element, ist alle Mühe umsonst, ja man stösst auf eine verstockte Egozentrik. Dagegen können wirkliche Meister der Stille bei ihrem gegenüber Wunder bewirken, zumindest bei Gelegenheit: Plötzlich sind in der Begegnung im Gespräch Dinge auf dem Tisch, die dem Aussprechenden nicht einmal bewusst waren; Intentionen schimmern auf, die noch im Inneren auf Bewusstwerdung warteten. Der Liebhaber der Stille, der Meister, kann wirklich Berge bewegen und als geistiger Geburtshelfer behilflich sein. 

Natürlich kann man das Verständnis auch nicht einfordern: „Versteh mich“ ist ein vergeblicher Hilferuf in einer verfahrenen Beziehung, der eine kommende Erschütterung ankündigt. Ist das dialogische Muster in Routinen des Alltags erstickt, kann vielleicht nur diese Erschütterung Bewegung in die Begegnungen bringen, die von gegenseitigen Erwartungen und Projektionen belastet sind. Auch wenn der seelische Apparat in gegenseitiger Bestätigung und ritualisierten Begegnungsabläufen Sicherheit und Kontinuität findet, kann das nach Freiheit rufende Ich im Untergrund dagegen opponieren, nicht wirklich verstanden, sondern von Ritualen verschüttet zu werden. Wie hat es so weit kommen können? Wie hat man sich so wenig Raum zugestehen können? Wieso erstickt man sich gegenseitig? Das Ausbleiben des inneren Raums lässt verstummen, bis sich hinter dem Verstummen und Verblassen, dem Unvermögen, den Anderen und die Dinge neu sehen zu können, der Untergrund des Ego aufgerührt wird, ein tiefer Fall, in die verquere Verstocktheit, die mit „Individualität“ verwechselt wird.


Individualität erwacht in der Stille

Paradox, dass die „wahre Individualität“ (Kühlewind) eben nicht auf ihrer Besonderheit und Auserwähltheit besteht - das wäre Narzissmus-, sondern gerade Raum lassen, sich leer machen kann, um im aktiven Zuhören und in der leeren Zuwendung das Andere und den Anderen zur Entfaltung bringen zu lassen. Die „wahre Individualität“ lebt erst in der Stille auf. Nur in ihr vermag das Originelle Form zu finden. Das Schöpferische tritt in Erscheinung- sei es als Intuition, als Erfassen der Intention Anderer oder als neuer Zusammenhang in einer Forschungsgemeinschaft. 

Leider kann man den sanften Willen, die innere Stille, die Beweglichkeit, die geistige Präsenz nicht festhalten. Es ist kein Teil der Person, kein Aspekt des Charakters. Man kann sich nicht damit schmücken oder es sich zu eigen machen. Es ist kein Teil des allzu menschlichen Wettbewerbs. Der, der etwas wie sein Eingeweihten als Monstranz vor sich herträgt, ist schon damit aller Ehren verlustig gegangen. Du kannst es nicht greifen, du kannst es nicht nehmen, du kannst es nicht behalten. Es ist immer nur eine Rückkehr in den ursprünglich schöpferischen Strom, der einfach da ist. Man legt die Selbstbilder ab, die Orden, die Monstranzen, die Erwartungen, die Beschönigungen, die „Imaginationen“, die seelischen Reflexe. Man steht ins Wasser bis zur Brust und taxiert den Horizont. Man vergisst die Perspektive. Man schwimmt. 

Innerlich und äußerlich werden in der Stille ebenso zu Formen einer anderen Welt wie die Zeit selbst. Die Bewusstsamkeit (Laveccia) in ihrer vollständigen Transparenz kennt weder Zeit noch Ort. Aber, erstaunlich genug, sehr wohl eine geistige Sphäre. Das ist es, was Lavecchia immer wieder betont. Der Geist erlebt sich in einer Quasi- Räumlichkeit, aber in reiner Präsenz, an die wie von außen wellenartiges Licht in unterschiedlichsten Formen anbrandet. Natürlich erlebt sich das Ich auch in unterschiedlichen Imaginationen. Aber die leere Sphäre ist das, wohin er immer wieder zurück kehrt: „..ichsame, generative, sphärende Leere, unerschöpflich in sich zentriert und zugleich unendlich weltoffen sphärend..“ (1)


Partizipierendes Bewusstsein und meditative Folklore

Dieses als geistige Sphäre erscheinende Ich- Bewusstsein in der Meditation hatte Vorläufer, die zurück gehen in frühe Kulturen, die noch ein in Natur und Jahreslauf partizipierendes Denken erlebten- auch eine Form von Sphäre. Das Ein- und Abschnüren von der Partizipation an natürlichen Prozessen war aber auch ein Weg zur Selbstreflexion und Selbstkonzeption, wie Kühlewind beschreibt: "Das nicht bewusst benutzte «schlafende» Denken ist wie ein Rest der Partizipierung, die sich schicht- oder stufenweise auflöst. Diese Auflösung kann man an der Entwicklung der Wissenschaften verfolgen, deren Reihenfolge einen Gang von der entferntesten Außenwelt zur Erfassung der Innenwelt zeigt. Zuerst erscheint das Wissen über die Sterne, ihren Gang, ihre Periodizität. Dann erfasst das Bewusstsein die nähere Umgebung: Es erscheint die Geometrie, die Erdmess- Kunde. Noch später erblickt der Mensch mit wissenschaftlichem Blick, das heißt entfremdet seinen Leib. Zuletzt werden das Bewusstsein und seine Inhalte beziehungsweise die Seele entdeckt - davon zeugen Seelenkunde, Erkenntnistheorie, Sprachwissenschaften. Auserwählte Vorläufer, die sich mit dem Bewusstsein oder der Seele beschäftigten, waren zwar von den frühesten Zeiten an schon da; allgemein wurde die Fähigkeit, auf sich selbst zu reflektieren, aber erst im Zeitalter der Bewusstseinsseele." (5)

Das Bewusstsein, das seiner selbst gewahr wird- aber vorerst mit Vergangenheit- Charakter, immer im Rückblick auf bereits geformte Inhalte reflektierend- ist am weitesten dadurch von der Partizipierung entfernt, als es auf sich selbst zurück geworden ist. Die „Bewusstsamkeit“ muss in einer inneren Wende aufgebaut, gepflegt, gestärkt werden, um nicht der Peripherie, der unendlichen Ablenkbarkeit, Ideologisierung und digitalen Abfütterung zu verfallen. Ein Akt, wie sich mit dem Schopf selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Eine Kultur der Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit zu entwickeln, braucht Freiräume, Interesse, Zeit und Energie. Das Versenken in die Leere bis hin zur Entwicklung der inneren Sphäre ist ein Schlüssel, den jede/r nur selbst finden kann. Rezepte gibt es nicht, nur Hinweise. An dem Punkt, an dem es wie bei der Entwicklung des Instrumentenspiels tatsächlich „fliesst“, wird es zum Bedürfnis; braucht keine besondere Situation, keinen Anlass, keine meditative Folklore. Viele, auch die anthroposophischen Mythologien, Bilderwelten, Vorgaben, Tipps und Traditionen werden zur Last, da sie die Suchbewegung selbst inhaltlich überschwemmen und vom Kern der weichen Fokussierung ablenken, ja regelrecht abhalten. Traditionelles esoterisches „Wissen“ in Form von Lehre wird leicht zum Ersatz für tatsächliche, reale Bewegung. Wuchernde Mythen und Schlussfolgerung, auch die Mystifizierung im politischen Feld schütten reale geistige Arbeit zu. 


Die innere Umkehr und das Verströmen

Es ist ja wie die Umwendung Maria Magdalenas am Grab: Das Gewahrenden der Aufmerksamkeit ist für das an vergangene Inhalte, Sensorien und Assoziation gefesselte Bewusstsein wie die Auferstehung; eine Art Entdeckung der lebendigen eigenen Natur; ein Jungbrunnen. Vor allem ist es aber auch eine Selbsterfahrung, denn das Selbst ist die Aufmerksamkeit. Die hier so viel beschriebene Sphäre besteht in einer Etablierung dieser Selbst- Erfahrung. Sie ist aber, wie sich in der Praxis zeigt, keineswegs der einzige Aspekt. 

Denn die Sphäre ist ein Pol, der beizeiten abgelöst wird von einer vollkommenen Innerlichkeit, eine Faltung des Bewusstseins, aber auch der Gefühlswelt, wie in eine punktuelle Dynamik: Der andere Pol. Und dieser Punkt strahlt, von der Herzgegend über die Gliedmaßen - vor allem die Mitte der Hände- in die Umgebung. Die Hingabe ist so umfassend wie irgendwie vorstellbar- es ist vor allem die essentielle, wesenhafte Liebe, die an diesem Pol erfahrbar wird. Bei Rudolf Steiner liest sich diese Ebene der Erfahrung so: „Geistige Wesen haben den Menschen umgestaltet, als das vorher nur in ihnen befindliche „Sie fühlt“ in den Menschenleib hinein strömte. Wenn sich daher der esoterisch Strebende wieder in ähnlicher Art, wie es oben geschildert worden ist, in dieses „Sie fühlt“ versenkt, so erhebt er sich zu den entsprechenden Schaffenskräften der höheren Welten. Er muss nur bei dem „Sie fühlt“ das ganze Bewusstsein auf die beiden Arme und Hände konzentrieren. Es wird ihm dann aus dem Gedanken „Sie fühlt“ ein inneres leben ausströmen von unbeschreiblicher Seligkeit. Man kann dieses Gefühl als das der Liebe im tätigen Dasein bezeichnen. Der Mensch erhält dadurch ein Bewusstsein, wie die schaffende Liebe durch den Weltraum hindeutet und durch ihre Tat in alles den belebenden Hauch einführt.“ (6)

So kann man sich auf dieser Ebene geistiger Erfahrung eine Art Atemschlag vorstellen, in dem das „Sie fühlt“ als Tor des Herz- Chakras durch die Arme und Hände ins Umfeld verströmt, während auf der anderen Seite in den sphärenden Ich ein innerer Raum stabilisiert wird, an den wie von außen wogendes Licht in wechselnden Farben Flächen und Formen anbrandet. Beide Seiten dieser Erfahrung werden als welt- geistig und dennoch als individuell erlebt. Im Gegenteil, im größten Hingeben verstärkt sich die Empfindung, ganz „ganz“ und bei sich zu sein. Das Ich kommt, im Gegensatz zum Ego, zu sich, indem es sich verschenkt. Und natürlich weiß dieses transparente Bewusstsein, dass dieser geistige Atem- Vorgang nur der erste Anfang von Allem ist. Natürlich wird auch diese Polarität überwunden werden, aber dafür ist dieses unreife geistige Selbst, das ich bin, noch viel zu vulnerabel. Ich werde es merken, wenn es so weit ist. Jeder wird es merken. Es ist ein vollkommen allgemein menschlicher Weg. Es ist nicht persönlich, aber zugleich das Persönlichste, was vorstellbar ist. Aber es ist immer ein Anfang. Das Anfang- Sein ist die geistige Natur und Signatur. 


Konzentrische Kreise ins „Weltenall“

Wer diesem dynamischen Prozess des Sphäre- Bildes, Einatmens, Ausbreitens wie den sich ausweitenden Wellen auf einer Teich- Oberfläche nach dem Wurf eines Kiesels folgen möchte, findet bei Rudolf Steiner viele Textstellen. Das überragt nicht selten die alltägliche meditative Praxis bei weitem- steht aber dennoch in genau der Dynamik, die an den ersten Schwellenrändern geistiger Erfahrung gemacht werden können. Um den Blick zu weiten, sei hier ein Text- Ausschnitt eingebracht, der eine bestimmte Phase im Leben nach dem Tod beschreibt:

Ja, aber wenn wir erst unser Wesen über den Kosmos ausgebreitet haben, dann es wiederum in uns herein ziehen, dann beginnt in uns, ich kann es nicht anders ausdrücken, dasjenige, was wir umfasst haben, indem wir unser Wesen ausgebreitet haben in die Weltenweiten, und was wir wiederum in uns zusammen ziehen, es beginnt in uns zu sagen, was es ist. Und wir sagen dann zwischen dem Tod und einer neuen Geburt: der Logos, in den wir uns zunächst hinaus versenkt  haben, der Logos spricht in uns.

Wir haben hier auf der Erde in Bezug auf die physische Sprache vorzugsweise das Gefühl, daß wir die Worte entwickeln, indem wir ausatmen. Wir haben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt die Wahrnehmung, daß die Worte, die im Weltenall ausgebreitet sind und die das Wesen des Weltenalls bedeuten, beim Einatmen unseres Wesens in uns hereinkommen und sich selber als Weltenwort in uns offenbaren. Wir sprechen hier auf der Erde ausatmend, wir sprechen in der geistigen Welt einatmend. Und indem wir mit uns vereinen, was uns der Logos, was uns das Weltenwort sagt, leuchten auf in unserem Wesen die Weltgedanken. Hier mühen wir uns durch unser Nervensystem ab, die Erdgedanken zu hegen, dort saugen wir in uns selbst die Weltgedanken aus der Sprache des Logos, die auftritt, nachdem wir zuerst unser Wesen ausgebreitet haben über das Weltenall.“ (7)


Eckensteher der Welt


Das mit dem Weltall und dem Nachtodlichen mag den Lesern zu weit gehen, womöglich auf die Nerven. Das kann man nicht verdenken. Überhaupt, das ganze Anthroposophentum ist nach immer weiter, und nicht ohne Grund, ins Querdenker- Gleis geraten. Selbst Jeremy Smith hat seinen Blog (8) während der Corona- Zeit geschlossen, nicht wegen seines Engagement für den Brexit, für die schräge Esoterik Judith von Halles und mit voller Corona- Skepsis, sondern wegen seines von ihm empfundenen „Versagens als Anthroposoph“: „I have always had a blockage when it comes to meditation and feel that I lack the basic ability to do this, despite having tried hard on various occasions with various teachers and writers about meditation over the years. This inability to meditate is a serious stumbling block on the path to spiritual development, which means that I fall at the first hurdle and have no access to working with the mantras of the First Class or the exercises in Knowledge of the Higher Worlds. This also means that the experiences and images Steiner describes when preparing to ‘cross the threshold’ between the physical/sense world and the non-visible worlds beyond are for me a closed book. Nor do I find The Philosophy of Freedom an easy work to engage with, though this is the book that Steiner said could be used like his Occult Science or Theosophy to produce an understanding of anthroposophy.

After years of reading Steiner’s lectures and books and writing about them on this blog, I feel that I can hold my own in conversations about most topics of anthroposophy, but I cannot claim to have developed any spiritual abilities whatsoever – no clairvoyance, no guidance from spiritual sources, no encounters with elementals or awareness of angels (apart from one encounter many years ago when I was in deep despair). So I remain stuck in what is primarily an intellectual worldview of anthroposophy but am making no progress in what should be the core, which is the development of new spiritual capacities.“ (8)

Das ist bitter und ehrlich zugleich. Es gilt auch die andere Wahrheit, dass das, was Smith für sich konstatiert, nämlich Mangel an substantieller und unabhängiger geistiger Arbeit, die Norm zu sein scheint. Die politisierte und ideologisierte Superiorität, Kämpfe um Deutungshoheit und Techtelmechtel mit rechten Weltbildern scheinen die persönliche Suchbewegung zu überlegen und die anthroposophische Identität zu banalisieren und zu korrumpieren. Das vor einer Generation trotz eigener Zweifel und Auseinandersetzungen formulierte Credo Georg Kühlewinds wird sicherlich immer weniger verstanden: „Der Mensch hört auf, Eckensteher der Welt zu sein, die lichtvolle Einheit, das Paradies mit Selbstbewusstsein, also das Reich der Himmel tritt ein.“ (9)


Verweise_________________________

1 Salvatore Lavecchia, Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne. Stuttgart 2012, S. 94

2 SL, S. 96f

3 SL, S. 111

4 Georg Kühlewind, Die Esoterik des Erkennens und Handelns in der Philosophie der Freiheit und der Geheimwissenschaft Rudolf Steiners, Stuttgart 2009. S. 29

5 GK, S. 27

6 Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Schule, Heft 1, Selbstverlag von Marie Steiner, Dornach 1949, S. 32

7 Rudolf Steiner, Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen.. GA 219, Dornach 1994, S. 18

8 https://anthropopper.com/2021/11/04/my-failures-as-an-anthroposophist/

9 Georg Kühlewind, de profundis. Briefe an die Freunde, Stuttgart 2013, S. 94