Chakra und Samadhi- bei Rudolf Steiner und Annie Besant
Es ist ja immer wieder schwierig, festzustellen, wir rudimentär und vernachlässigt das Thema dieser inneren Kraftpunkte - Lotosblumen- im Werk Rudolf Steiners ist, wie er es anreisst, aber nicht zu Ende führt, bestimmte Bereiche kaum berührt, dafür aber umso ausführlicher vor Gefahren und Abwegen warnt. Darauf weist auch ein Standardwerk zum Thema (1) hin, das einen breiten Überblick über Traditionen, Schulen und Lehren bringt, den spezifisch anthroposophischen aber nur ein schmales Kapitel widmet: „Die Lotosblumenblätter von Rudolf Steiner“, (2) Ernüchternd resümiert Kurt Leland darin: „Obwohl Steiner ein Innovator und Validator war, hatten seine Lehren über die Chakren nur wenig Einfluss auf die Entwicklung des westlichen Chakrasystems.“ (3) Lesenswert ist auch dieses Kapitel aber sehr wohl.
Dabei war Steiner der „erste theosophische Autor“ gewesen, der „hellsichtige Visionen von den Chakren im Detail beschrieb“ und nach Helena Blavatsky der zweite, der „ein System für ihre Entwicklung veröffentlichte“ (4)- wobei Steiner sich allerdings, abweichend von der Tradition, auf fünf Chakren beschränkte und diesen eine früher unübliche Ziffernfolge verpasste: Steiner zählte von oben nach unten, ausgehend vom Nasenwurzel- Chakra. Seine Benennung variiert im Frühwerk, aber im allgemeinen nennt er die Chakren „Räder, Lotosblumen, Mittelpunkte und Sinnesorgane der Seele“ (4). Bei den oberen Energiepunkten ging Steiner von einer latenten- wahrscheinlich vegetativen- Tätigkeit aus, die sich bei entsprechender meditativer Praxis entfalte, verstärke und zu geistigen Fähigkeiten führen könne: „Wenn nun ein (Schüler) mit seinen Übungen beginnt, so ist das erste, dass sich die Lotosblumen aufhellen; später beginnen sie sich zu drehen. Wenn dies letztere eintritt, so beginnt die Fähigkeit des Hellsehens.“ (5)
Die Grundlage für die Entwicklung des Hals- und Herz- Chakras sind nach Steiner die Realisation der klassischen buddhistischen Tugenden durch den Schüler, die Steiner teilweise auch als „Nebenübungen“ bezeichnete- es handelt sich um eine anthroposophische Interpretation des achtgliedrigen Pfades, die auf den spirituellen Lehrer Sankara im 9. Jahrhundert zurück gehen. Rudolf Steiner hat diese Verbindung von Annie Besant übernommen, deren Buch „The Ancient Wisdom“ bereits 1889 in deutscher Übersetzung erschienen war. Besant nannte die „Tugenden“ allerdings „mentale Attribute“ (6). Auch die Beschreibungen Steiners zu den zehn Blütenblättern des Solarplexus- Chakras ähneln als „Anweisungen für die Meditation“ ebenfalls denen, die Annie Besant in einem anderen Band beschreibt, nämlich in „Thought Power“ (1901, deutsche Übersetzung 1902). Steiner gibt als eigenen Beitrag der Entwicklung des Solarplexus einen hohen Schwierigkeitsgrad an, da „die vollkommene Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewusstsein angestrebt werden“ müsse, so dass sich „Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen Harmonie“ (7) befänden- dies sei ein Stadium der Läuterung, kommentiert Kurt Leland.
Auch Besant schreibt 1902 von einer notwendigen „Läuterung von Handlungen, Gefühlen und Gedanken“ (8), allerdings in Bezug auf die Entwicklung der Chakren insgesamt. Diese Entwicklung, Entfaltung und Beherrschung ist in ihren Texten identisch mit den höheren Stufen zur Entwicklung des Denkvermögens wie Konzentration, Meditation und Samadhi. Während Meditation noch über die Fokussierung auf „einen beliebigen Gegenstand“ den inneren Schleier durchdringen will, um „das Leben“ (essenzielle Seinsheit“) zu erreichen und „jenes Leben in die Vereinigung mit dem Leben zu ziehen, zu welchem der Geist gehört“ (9), lässt die Bemühung im Samadhi vollständig nach, im Sinne einer Absorption in ein leeres Bewusstsein, in eine, wie es Besant so treffend und berührend nennt, „Einsgerichtetheit“ des ganzen Wesens. Der Geist sei dabei, so Besant, in einer „ausgerichteten Aufmerksamkeit (..), ohne dass die Aufmerksamkeit auf irgendetwas gerichtet ist.“ (10).
Der Zustand der Einsgerichtetheit müsse aber eben auch - so Besant- für eine “kleine Weile“ aufrecht erhalten werden können. Es geht bei Besant ebenso wenig wie bei Steiner um ein situatives Erleuchtetsein, sondern nur eine geistig- seelisch- leibliche Verfassung: „Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen Harmonie“ (7). Die Hingabe und Selbstvergessenheit ist zugleich der Punkt der vollständigen Aufmerksamkeit im Sinne eines weichen Willens. Diesem scheinbar leeren Bewusstsein kommt eine Sensitivität, ein Empfindungs- Vermögen zu, das im Alltagsleben verdeckt und verschüttet ist; und eben in dieser Empfindsamkeit besteht ja die Aktivität der Chakren. Das Einsgerichtetsein ist ein Zustand höchster Aktivität, in dem das Bewusstsein sich selbst transparent wird- es ist eine Erfahrung des unzersplitterten Ich ohne jeden Mystizismus. Es ist aber auch ein Zustand, in dem die Chakren als ein einziges Organ zusammen fallen, in einer Art energetischer Synthese. Weiter unten folgen Ausführungen Rudolf Steiners, wie dieser Synthese eine Art innerer leuchtender Strukturierung und geistiger Organbildung folgen könne.
Vielleicht sollte man vorher noch anmerken, dass der in diesem Zusammenhang von Rudolf Steiner genannte Begriff „Hellsichtigkeit“ mit großer Vorsicht aufgefasst werden sollte, da die in diesem Punkt der Eingerichtetheit gemachten Wahrnehmungen und Erfahrungen, sofern sie wie von außen an den Meditierenden heran treten, immer zeichenhafter Natur sind, also interpretiert werden müssen. Eine wirkliche Kontextualisierung ist aber in der nicht- sinnlichen Umgebung nicht möglich, ein eigenes entwickeltes Verstehen nur schrittweise, in mühsamem Nachgehen von Spuren und in Studien und Abwägungen aufbaubar. Was sich allzu leicht entschlüsselt, kann sehr wohl eine Täuschung darstellen. Anderes bleibt ein Rätsel, selbst wenn es sich immer neu aufrollt, entpuppt und anbietet.
Aber zurück zu Leland. In den vorliegenden Kapitel des Buches werden noch die Besonderheiten des anthroposophischen Chakra- Verständnisses aufgeführt, womit vor allem gemeint ist: „Die Nummerierung von oben nach unten zeigt nicht nur eine bevorzugte Richtung der Übung/Praxis an, sondern auch eine zunehmende Schwierigkeit der Entwicklung.“ (11) Dabei ist nochmals zu betonen, dass - wenn man die kryptischen Bemerkungen Steiners so deuten darf- das untere Chakra, das an sich vage und undifferenziert bleibt, eigentlich die Harmonisierung aller oberen mit sich bringt. Der Zusammenklang aller energetischen Felder zu einem in sich transparenten Ganzen, das Geist, Seele und Leib harmonisiert, ist für Steiner offenbar das Betreten einer neuen Ebene des in sich transparenten Bewusstseins.
Da die Entwicklung jedes einzelnen Chakra bei Steiner in signifikanten Phasen (träge, glühend, rotierend) geschildert werde, habe, so vermerkt Kurt Leland, ein spiritueller Lehrer tiefe Einsicht in den individuellen Entwicklungsstand eines Adepten. Er könne damit auch feststellen, ob ganz spezifische Aspekte dieses Pfades beim Schüler noch der Hilfestellung bedürfen würden- so sei der Mangel an Toleranz am dunklen Blütenblatt des Herz- Chakra erkennbar. Wohl dem, der einen einsichtigen Lehrer gefunden hat. Steiner sehe in der Entwicklung in der spezifischen Abfolge der Chakra auch ein Fortschreiten in der spirituellen Entfaltung selbst. So gesehen könnte sich daraus ein regelrechtes anthroposophisches Programm zur Schulung entwickeln, insbesondere wenn man die hier nicht aufgeführten spezifischen Gefährdungen und Abwege, die Steiner vielfach darlegt, noch einbezieht. Leider hat sich das skizzierte strukturierte Schulung- Programm, das Leland hier angelegt sieht, nicht oder kaum entwickelt. Das Festhalten an ritualisierten Zweig- und Klassenstunden, die grassierende Second- Hand- Esoterik und die assoziative Fortspinnen von Steiner- Zitaten haben sicherlich nicht zu einer lebendigen esoterischen Kultur geführt.
Aber auch esoterisch führen einige Anmerkungen Rudolf Steiners zum spezifischen Verhältnis von Astral- zu Ätherleib und der Etablierung eines „vorläufigen Mittelpunkts“ (12) hinter dem Stirn- Chakra auch beim sehr kundigen Autor Leland zeitweise zur Verwirrung. Die geglückte Verbindung der drei zentralen Chakras kann nach Steiner sich aber dann - als vorläufigem Höhepunkt- in einem komplizierten Gebilde entfalten: „Ein wunderbares Organ. Es leuchtet und schillert geistig in den allerverschiedensten Farben und zeigt Formen von großer Regelmäßigkeit, die sich mit Schnelligkeit verändern können. Und weitere Formen und Farbenströmungen laufen von diesem Organ nach den übrigen Teilen des Körpers und auch zu jenen des Astralkörpers, den sie gänzlich durchziehen und durchleuchten. Die wichtigsten dieser Strömungen aber gehen zu den Lotosblumen. Sie durchziehen die einzelnen Blätter derselben und regeln ihre Drehung. Dann strömen sie an den Spitzen der Blätter nach außen, um sich im äußeren Raum zu verlieren. Je entwickelter ein Mensch ist, desto größer wird der Umkreis, in dem sich diese Strömungen verbreiten.“ (13)
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1 Kurt Leland, Das Chakra- System. Die feinstoffliche Struktur des Menschen, Grafik 2016
2 KL, S. 149ff
3 Kl, S. 158
4 KL S. 150
5 KL S. 151
6 KL S. 152
7 KL S. 153
8 KL S. 153
9 KL S 153f
10 KL S.154, nach Annie Besant, Thought Power, S. 95
11 KL S., 155
12 KL S. 156
13 KL S. 156f, zurück übersetzt nach Steiner, Initation and its Results, p 42