Der Duft, die Lotusblumen und die synästhetische Geisterfahrung
Auch Leland deutet diesen Samadhi- Umkehrpunkt an, an dem das Unterste, Archaische, Materielle zur Ebene des Eintauchens in die Welt der geistigen Düfte wird. James Morgan Pryse hatte sich mit den „Chakras der Apokalypse“ (4) beschäftigt; er hatte die Apokalypse des Johannes und die darin ausgeprägten Bilder in eine Beziehung gestellt zu Phasen der Einweihung -die „höchste spirituelle Wahrheit des Yoga“ (4), die mit der Entwicklung der Chakras zusammen hängt. Der heute weitgehend vergessene Pryse war Theosoph der zweiten Generation, verstand sich als Blavatsky- Schüler und beschäftigte sich vor allem mit der Schlangenkraft, der Kundalini (5). Sein Buch, das er als Erläuterung von Blavatskys esoterischer Schulung auf der Grundlage der Apokalypse des Johannes verstand, hat mehrere Auflagen erlebt und war rund zwanzig Jahre im Handel. Pryse hat seine Synthese verschiedenster Quellen- zwischen griechischen Mysterien bis hin zur Astrologie- immer weiter ausgebaut, und so vielleicht eine „All you can eat“ - Esoterik etabliert, die Häppchen für jedermann bereit hielt und sich wie in einem Baukasten aus nahezu allen esoterischen Traditionen bediente. Pryse war aber im Verlauf ihres letzten Lebensjahres tatsächlich täglich in Kontakt mit Helena Blavatsky gewesen, da er mit der Herausgabe ihrer esoterischen Instruktionen „zur Verteilung unter den amerikanischen Mitgliedern der Esoterischen Schule“ (6) beschäftigt war. Man darf also davon ausgehen, dass seine Angaben, so sehr er sie auch aufbereitet und in diverse Traditionen eingegliedert haben mag, doch aus erster Hand waren und dass er tatsächlich intensiv mit Helena Blavatsky zusammen gearbeitet hat.
Pryse hat in „Die Apokalypse entschleiert“ auch die „sieben Zeichen des Tierkreises mit Blavatsky sieben Tattvas und den Chakras (verknüpft). Die übrigen Zeichen ordnet er den fünf Prana - Vayus zu - Lebenskraft- Strömen, die durch den Körper zirkulieren und verschiedene lebenswichtige Funktionen erfüllen. Er präsentiert auch eine Kreiszeichnung des Zodiaks, in deren inneres Rund eine menschliche Gestalt gezeichnet ist- den Kopf bei Widder, den Fuß bei Fische, die Vorderseite nach außen-, um zu zeigen, wie die Chakras aufgereiht sind, von oben nach unten, von Krebs bis Steinbock.“ (6) Vor allem beschäftigte Pryse die von Blavatsky gelehrte Kundalini- Kraft, die die „sieben Siegel am Buch des Lebens“ (Offenbarungen 5,1) erwecke und die Siegel erbreche- so „wie die Chakras von der Kundalini durchdrungen werden müssen, und zwar in einer bestimmten Reihenfolge.."(6).
Bei Rudolf Steiner ist dieser Moment der Erweckung des inneren Wahrnehmungs- und Kundalini- Lichtes stets mit dem Herz- Chakra verbunden dargestellt worden: „Hat es der Geheimschüler zu einem solchen Leben in seinem höheren Ich gebracht, dann – oder vielmehr schon während der Aneignung des höheren Bewusstseins – wird ihm klar, wie er die geistige Wahrnehmungskraft in dem in der Herzgegend erzeugten Organ zum Dasein erwecken kann und die Strömungen leiten kann. Die Wahrnehmungskraft ist ein Element von höherer Stofflichkeit, das von dem genannten Organ ausgeht und in leuchtender Schönheit durch die sich bewegenden Lotusblumen und auch durch die anderen Kanäle des ausgebildeten Ätherleibes strömt. Es strahlt von da nach außen in die umgebende geistige Welt und macht sie geistig sichtbar (denn, um etwas wahrnehmen zu können, muß man es beleuchten können), wie das von außen auf die Gegenstände fallende Sonnenlicht diese physisch sichtbar macht. Wie diese Wahrnehmungskraft im Herzorgane erzeugt wird, das kann nur allmählich im Ausbilden selbst verstanden werden.“ (7)
Pryse dagegen sieht das Aufsteigen der Kundalini- Kraft in den Zentren des Gehirns wirken, wo das mystische dritte Auge des Sehers „nun zum Fenster in den Raum“ wird: „Die Gehirn- Zentren werden nach und nach durch die Schlangenkraft „von den Toten erweckt““ (6). Rudolf Steiner bestreitet nicht, dass das Kundalini- Licht an diversen signifikanten Stellen der Leiblichkeit entzündet werden könnte- die Herzregion ist aber für ihn der Zugang, der eine gesunde Verbindung zur rationalen Umgebung, zur physischen Wahrnehmung gewährleisten kann: „Das Herzorgan ist nur der Ort, wo der Mensch von außen her dieses geistige Lichtorgan entfacht. Würde er es nicht hier, sondern an einem anderen Orte entzünden, so hätten die durch dasselbe zustande gebrachten geistigen Wahrnehmungen keinen Zusammenhang mit der physischen Welt. Das Herzorgan ist gerade dasjenige, durch welches das höhere Ich das sinnliche Selbst zu seinem Werkzeuge macht und von dem aus dies letztere gehandhabt wird.“ (7) Er bevorzugte ohnehin eine eigene Methode, in der die tiefen Kundalini- Kräfte von oben, durch die Nasenwurzel, durch das Gehirn und durch die gesamte Wirbelsäule hinunter geleitet wurden, um die darauf hin aufsteigenden Kräfte durch das Herz- Chakra hindurch strahlen zu lassen - eine Praxis, die er gelegentlich und verstreut während der frühen theosophischen Jahre lehrte, die aber später ebenso wie das ganze Lotosblumen- Thema bei Rudolf Steiner in Vergessenheit geriet- im Gegensatz zu den theosophischen Freunden, die nach Blavatsky und Leadbeater die „gewissen Kraftzentren“ und „das heilige Schlangenfeuer“ (8) nicht nur am Köcheln hielten, sondern über Generationen von mehr oder weniger bekannten Autoren beharrlich weiter verbanden mit allem, was der Kosmos und der Leib des Menschen so hergaben- von Regenbogen- Farbsystemen über Edelstein- Therapien bis hin zu organischen Bezügen. Alice Bailey baute ein schon vielfach angedeutetes System aus, indem sie die feste Korrelation der endokrinen Drüsen zu den Chakras herstellte. Im Gegensatz zu ihren sonstigen Büchern, von denen sie behauptete, sie seien von ihrem übersinnlichen tibetischen Meister diktiert, war sie auf diese Beziehung offenbar von selbst gekommen (9).
So sah die Korrelation dann aus:
Basis der Wirbelsäule- Nebennieren
Kreuzbeinzentrum- Keimdrüsen
Sonnengeflechtszentrum- Bauchspeicheldrüse
Herzzentrum- Thymusdrüse
Kehlzentrum- Schilddrüse
Zentrum zwischen den Augenbrauen- Hypophyse
Kopfzentrum-Zirbeldrüse.
Damit war die Grundlage für das geschaffen, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „spirituelles Heilen“ entstand und ungemein populär wurde: „So werden zum Beispiel die Vorstellungen von blockierten Chakras im Ätherkörper als eine Komponente oder Ursache von körperlicher Krankheit und vom Chakra- „Ausgleichen“ als einer Methode zur Förderung von Heilung und wohlregulierter Selbstentfaltung (..)“ (10) nicht nur thematisiert, sondern zur Grundlage immer neuer Thema umgedeutet- darunter esoterische Therapieansätze seit den 1970ern wie „Polarity, Reiki und Pranaheilen“ (10). Vor der schier endlosen Fülle von Yoginis, Hellsehern, Heilern und Betrügern kapitulierte der Rest der Welt; die Chakra- Systeme wurden zum esoterischen Schmuddelkind, aber auch zum Allgemeingut. Jedermann versteht allegorische Andeutungen, ob in Literatur, Kitsch- Bildern oder Werbung, dass man „mit dem Herzen“ besser sehen könne oder dass jemand verspreche, das „dritte Auge“ zu öffnen. So zu einem Hintergrund- Rauschen verkommen, wird man in populären Yoga- Praktiken heute vielleicht von energetischem Fließen, aber nicht mehr von Chakras sprechen.
Davon war man vor 100 Jahren noch weit entfernt. Bei Pryse dagegen, als Vertreter der zweiten theosophischen Generation nach der von Blavatsky, beginnt - vielleicht aufgrund eines Ausbleibens esoterischer Erfüllung- zunehmend die Suche nach Querverbindungen, assoziativen Verknüpfungen und praktikablen meditativen Vorlagen. Aber bei Pryse kam am Punkt des Samadhi, an dem die „Schlangenkraft“ die „Gehirn- Zentren“ erweckt, auch die typische esoterische Synästhesie zur Sprache, bei der in der „Einsrichtetheit“ (1) des Erlebens auch sensorisch Überschneidungen auftauchen- so tiefgreifend, dass das Bewusstsein sich als tastend- schmeckend- riechendes Organ in einer gleichwohl nicht mehr sinnlichen Welt neu entdeckt; ein Bewusstsein, das sich jenseits des Ego wie eine fühlende Membran empfindet. Pryse beschrieb dieses Szenario so: „Gesicht und Gehör werden zu einem einzigen Sinn verschmolzen, so dass Farben gehört und Töne gesehen werden- oder, um es anders auszudrücken, Farbe und Ton werden Eins und können von einem Sinn wahrgenommen werden, der weder Gesicht noch Gehör, sondern beides ist. Die psychischen Sinne Geschmack und Geruch werden vereinigt. Diese beiden aus den vier reduzierten Sinne werde zu dem inneren, intimen Sinn der Berührung. Dieser geht im Erkenntnisvermögen (Mamas) auf, der gnostischen Kraft des Sehers- erhöht über alle Sinneswahrnehmung- um ewige Wirklichkeiten aufzunehmen.“ (11) Insgesamt führe dieser synthetische Prozess bis hin zu einer Initiation, die eine „Wiedergeburt in dem unvergänglichen Sonnenkörper“ (11) darstelle.
Allerdings ist diese Synästhesie jenseits der geistigen Schwelle nach Pryse weitgehend vergessen und von diversen Heil- und Wellness- Versprechungen ersetzt worden. Insbesondere das „höhere Riechorgan“ ist in meinen Augen praktisch nie literarisch zum Ausdruck gekommen- außer vielleicht als Allegorie oder Metapher-, auch wenn es bei Rudolf Steiner auch noch eine Rolle gespielt hat als Beschreibung der aktivierten „zweiblättrigen Lotosblume“, Ajna, oder als Stirn- Chakra (12) bekannt. Steiner sagte darüber u.a.: „Dieses Organ ist ein ins Astrallicht hinaufgehobenes Geruchsorgan. Damit lernt der Geistesschüler die wahre Stofflichkeit aller Dinge erkennen, die wahre Materie.“ (13) Den Prozess der Umwandlung habe angeblich Michelangelo visualisiert (14). Mit der Aktivierung dieses höheren Geruchssinns im Stirn- Chakra sei, so Steiner, eine typische Erfahrung jedes Schülers verbunden, nämlich eines signifikanten Farben- und Lichtflutens- ganz im Sinne der synästhetischen Grenz- Erfahrung (15).
Allerdings ist dieses freie Schweben in einer geistigen, synästhetischen Umgebung nur auf den ersten Blick eine bewusst gewählte Entwicklung: „An Stelle dieser physischen Welt tritt eine Welt auf- und abwogender Bilder auf, auf- und abwogender Eindrücke tonartiger, geruchsartiger, geschmacksartiger, lichtartiger Natur. Das dringt und wirbelt in unseren okkulten Gesichtskreis hinein, und wir machen die Erfahrungen der imaginativen Visionen, die uns von allen Seiten dann umgeben, die unsere Welt sind, in der wir mit unserer Seele leben und weben.“ (16) Das Riechen stellt auf der anderen Seite auch eine Art Hintergrundrauschen für das Denken schlechthin dar, auch wenn uns das nicht bewusst wird: „Wir Menschen möchten eigentlich fortwährend fliegen durch unseren Geruch(ssinn, Anm). Aber wir können nicht fliegen. Unsere Gedanken sind eigentlich die umgewandelten Flugkräfte. Und so sind alle unsere Gedanken eigentlich im Grunde genommen umgewandelte Gerüche. Und der Mensch ist deshalb ein so vollkommener Denker, weil er all das, was der Hund in der Nase erlebt, im Gehirn erlebt mit dem, was ich da vorstelle. Wir verdanken als Menschen eigentlich unserer Nase außerordentlich viel.“ (17) Also ist der Denkvorgang schlechthin im Sinne Rudolf Steiners ein synästhetisches Erschnüffeln, ein geistiges Ergreifen und Kontextualisieren wie im freien Flug- zumindest dann, wenn man tatsächlich aktiv denkt, etwa im Versuch einer Lösungsfindung. Man erschnuppert gedanklich einen Weg, folgt einer Spur und improvisiert zugleich, balanciert, wägt und wertet. Das alles vor aller geistigen Erfahrung, mit dem Kopf in den auf- und abwägenden Wellen „tonartiger, geruchsartiger, geschmacksartiger, lichtartiger Natur“. (16)
Samadhi, die Initiation, ist in diesem Sinn lediglich das bewusste Erfahren dieser Welt des Duftes, der Schönheit und der wogenden Helle der Natur.
——————Anmerkungen & Verweise
1 in Annie Besant, The Ancient Wisdom, 1898, zitiert in Kurt Leland, Das Chakra- System. Die feinstoffliche Struktur des Menschen, 2016
2 nach Rudolf Steiner, Initation and its Results, p 42
3 Augustinus, Confessiones, X, 27
4 Leland, 2016, S. 179
5 in James Morgan Pryse, Die Apokalypse entschleiert (1910)
6 Leland, 2016, S. 180ff
7 Rudolf Steiner, GA 10, S. 163ff
8 Clairvoyance von Leadbeater, nach Leland, S. 196
9 Alice Bailey, The Soul and its Mechanism, 1930, nach Leland, S. 236
10 Leland, S. 239
11 Leland, S. 183 (vereinfacht)
12 https://anthrowiki.at/Zweibl%C3%A4ttrige_Lotosblume
13 Rudolf Steiner, GA 233a.S. 80
14 „Michelangelo hat an seinem Moses die zweiblättrige Lotusblume als zwei Hörner wiedergegeben. Zunächst werden da zwei Lichtstrahlen bemerkbar, die immer breiter werden und dann anfangen, sich zu bewegen. Sie befähigt uns den Willen auszubilden.“ R.St. GA 94, S. 175f
15 „Könnte man miterleben mit der Farbe, daß Rot und Blau lebendig und beweglich wird, so würde man tatsächlich auch innerlich mit dem lebendig sich bewegenden Farbenflutigen mitgehen, man würde die wie im Wirbel übereinander sich lagernden Attacken und Sehnsuchten, gleichzeitig in seiner Seele nachempfinden. All das, was der Mensch empfangen soll an Sehnsuchtsgewalten, ist etwas, was sich etwa in dem Blauen ausleben könnte. Das muß der Mensch auf der einen Seite so in seinem Haupte tragen, daß es gestaltend ist, und alles das, was in der roten Hälfte ausgedrückt ist, das muß der Mensch so haben, daß es aus seinem Organismus hinauf flutet bis zum Gehirn. Und diese zwei Strömungen sind tätig im menschlichen Gehirnbau. Äußerlich die Welt – das, nach dem der Mensch Sehnsucht hat, und das immer überflutet wird durch das, was aus dem eigenen Leibe aufwärts flutet. Bei Tage ist es so, daß dasjenige, was in der blauen Hälfte ist, stärker flutet als dasjenige, was in der rot-gelben Hälfte ist. Bei Nacht ist es umgekehrt mit dem physischen Organismus. Und ein getreues Abbild von dem ist die 2-blättrige Lotusblume, die ebensolche Beweglichkeit und ebensolche Farbigkeit zeigt für den Betrachter. Und niemand wird je das, was in der Gestaltenwelt als das Produktive lebt, als der obere Teil des menschlichen Hauptes, richtig durchschauen können, wenn er nicht imstande ist, dieses verborgene Farbenfluten wiederum zu verfolgen.“ R.St. GA 286, S.104
16 R. St., GA 155, S. 37ff
17 R.St GA 348.134ff
Grafik erstellt mit Open AI