Karma- Deoroller, Kundalini und die sexuelle Revolution


Ihr Gralssucher und anderweitig prekär Beschäftigten, natürlich habt Ihr Euch schon mit der zweiblättrigen Lotosblume und dem Geruchssinn beschäftigt- womöglich umfassend, wodurch jeder weitere Beitrag darüber obsolet werden würde, aber, wie der Weise sagt, Sei’ s drum. 

Kurt Leland großes Chakra- Buch jedenfalls (1), das wir hier zweimal angesprochen und noch immer nicht ausgeschöpft haben, endet mit ziemlich kryptischen Aussagen über den Geruchssinn in Bezug auf meditative Praxis. Es wird empfohlen, bestimmte Ebenen geistiger Erfahrung mit diversen Gerüchen zu markieren. Benötigt werden dazu nicht etwa Kräutern aus dem Garten, sondern die „aromatherapeutischen Chakra- Ausgleichs- Deoroller von Aura Cacis“ (2)(3), die je nach Level der Erleuchtung diverse Düfte assoziieren lassen, wodurch, wie Leland verspricht, später eine Rückkehr in diesen Zustand deutlich erleichtert werde, denn: „Man weiß schon lange, dass Düfte starke Auslöser von Erinnerungen sind.“ (2). Man muss ja auch bedenken, wie alle Morgenlandfahrer und Gralssucher wissen: Der „Pfad der Meisterung der Körper und Ebenen“ (2) ist auch deshalb so dornig, weil man in diesen Zonen so verdammt vergesslich ist. Es könnte durchaus sein, dass es der Adept sämtliche Körperhüllen bis hin zur Aura, dem Kasusalkörper, zum „voll funktionierenden Träger des Bewusstseins ..durch Aktivierung und Meisterung der Chakras in dem jeweiligen Körper und und zugeordneten Unterebenen“ (2) geschafft hat, sich aber danach nicht im geringsten daran erinnern kann. Darum, wenn man die wie auf einem Spruchband auf dem Kausalkörper herumlaufenden Folgen von vergangenen Inkarnationen sehen möchte, sollte man schnell das geeignete Karma- Deo heraus holen und sich mit dem Duft markieren, damit sich der sonst unwiederbringlich verlorene Augenblick (rauchig süß nicht nur als Geruch, sondern im Gedächtnis) verankern kann, denn denke daran: 

Gleicht die Krone Chakra aus

• Befreit Energien der siebten Chakra

• Erregt Körper & Seele

• Kreiert ein rauchiges süsses Aroma

 CHAKRA AUSGLEICHENDE AROMATHERAPIE DEOROLLER hilft den spirituellen und emotionalen Energiefluss der Krone Chakra auszugleichen. Eine der sieben Energie Mittelpunkte die den Körper und Seele verbinden, die Hals Chakra ist auch als das siebte Chakra bekannt. Es ist auf dem Kopf, es ist der Energie Mittelpunkt  zur Aufmerksamkeit, spirituellen Verbindung und höheres Bewusstsein. CHAKRA AUSGLEICHENDE AROMATHERAPIE DEOROLLER enthält eine Mischung einer biologischen Aura von Cacia Öl wie Lavendel, Zitrus und Vanille um die freie Energie in diesem Chakra fliessen zu lassen um das Gefühl von Aufklärung, Zusammenhang und Optimismus zu steigern. Um die Krone Chakra zu pflegen, tragen Sie CHAKRA AUSGLEICHENDE AROMATHERAPIE DEOROLLER hinter Ihren Ohren auf.“ (3)

Nun mag es den einen oder anderen möglicherweise auch leicht deprimieren, zu sehen, wie über 100 Jahre Evolution der Chakra - System- Auffassungen in einem kommerziellen Produkt münden, das verspricht, Blockaden aufzulösen, um die freie Energie in einem Chakra fließen zu lassen. Der lange Weg von Leadbeater und Blavatsky, also den theosophischen Stammvätern und -müttern, die die Visionen von Shambala- inspirierten tibetischen Meistern empfingen, bis hin zum kalifornischen Esalen- Institut, Rolfing, Encounter- Gruppen, Oshos riesigen Sanyassin- Versammlungen endet in einem Lavendel- Öl- Duft- Deo- Roller?

Aber es wird in mancher Hinsicht noch ernüchternder. Olav Hammer, einer der von Leland angeführten Religionsgeschichte und Esoterik- Forscher, hat ein bestimmtes Phänomen untersucht, das Leland selbst in seiner Beschäftigung im Studium von Chakra- Systemen aufgefallen ist: Olav Hammer nennt das Phänomen „in der Evolution von New- Age- Glaubensinhalten (..) Quellen- Amnesie“ (4): „In der Psychologie bezieht sich dieser Begriff auf die nicht ungewöhnliche Tatsache, dass man sich an ein Stück Information erinnert, aber vergisst, wo man es erfahren hat.“ (5) Quellen- Amnesie könne auch so verstanden werden, dass ein allgemeiner Begriff, der in Verbindung mit einer älteren Tradition gebräuchlich ist, mit spezifischen modernen Neuinterpretationen assoziiert wird (5). Dadurch baut sich mit der Zeit eine „Kette von Übermittlungen auf, in welcher die letzten Sprecher vielleicht über einen Zeithorizont verfügen, der nicht weiter als zwanzig oder dreißig Jahre zurück reicht und vor dem alles, was älter ist, als Teil einer fernen, diffusen Vergangenheit empfunden wird.“ (5) 

Nicht selten ist die Ungenauigkeit nicht einfach auf Nachlässigkeit oder Ungenauigkeit zurück zu führen, sondern wird absichtlich und wiederholt betrieben, da der „Autor wünscht, einen Eindruck von eigenständiger Kompetenz zu vermitteln, um Verleger und Lesern zu imponieren, oder ist besorgt, man könne ihm vorwerfen, dass er Material stehle, das von anderen geliehen ist und dass er nichts Neues zu sagen habe.“ (4) Und so ein offensichtliches Plagiat gehört nun gerade nicht in das Selbst- und Außenbild von Okkultisten, die angeblich Tag für Tag von durch Hellsichtigkeit bedingten unerschöpflichen Inspirationen zehren. Die Rechtfertigung für das Weglassen von Quellen und absichtliches Plagiieren ist in der Esoterik- Szene nicht selten, dass sowohl Quelle wie Plagiat angeblich in einer zeitlosen Weisheit wurzelten, die fortwährend „in alten und modernen spirituellen und religiösen Doktrinen und Praktiken Ausdruck“ (4) fände. Es beruhe alles auf Intuitionen „in Form von Einbrüchen aus einem kollektiven Unbewussten oder als Lehren aus einer ewigen Überlieferungslinie sterblicher oder unsterblicher, verkörperter oder entkörperter (d.h. gechanneltes Material) menschlicher oder außenplanetarischer spiritueller Meister“ (4), wodurch so etwas wie Herkunft, Quellen oder gar Urheberrechtsfragen praktisch irrelevant werden würden. 

In der Esoterik- Literatur scheint die Quellen- Amnesie weit verbreitet zu sein. Gegen die Annahme, dies betreffe auch Rudolf Steiner, kämpfen wackere Anthroposophen bis heute an, indem sie - allen voran Lorenzo Ravagli-  Forschungsarbeiten wie die von Helmut Zander zu „widerlegen“ versuchen, der das geistige Umfeld und die Quellen Steiners im Detail untersucht und analysiert. Die reaktionären Anthroposophen führen dabei die klassischen Argumente esoterischer Plagiatoren an, Rudolf Steiners Schauungen entstammten einer zeitlosen Weisheit, einer ewigen Überlieferungslinie: „All diese mythischen und mystischen Traditionen existierten bereits vor der Theosophie des 19. Jahrhunderts, hatten keinerlei Bezug zu indischen Quellen, sind aber deutliche Indizien dafür, dass die mystische Erkenntnis, die sowohl den Mythen als auch der historischen Gnosis und der jüdischen Überlieferung zugrunde liegt, immer schon die Anschauung von einer »geistigen Grundlage der Welt« besessen hat, in der die Geschichte des Vergänglichen wurzelt.

Es ist also nicht erforderlich, erklärt Lorenzo Ravagli, auf.. »okkultistische Memorationskonzepte« zurück zu greifen, um den Gedanken einer Akasha-Chronik, eines Weltgedächtnisses, aus diesen herzuleiten, wie Zander dies tut. (Zander I, S. 621 f.) Es ist auch nicht erforderlich, die Quelle für diese Vorstellung, die dann »auf nicht näher nachvollziehbaren Wegen« zu Steiner gekommen sein soll (Zander I, S. 622), bei Blavatsky zu vermuten. Orientiert man sich an Steiners eigenem Selbstverständnis, ist es ohnehin nicht erforderlich, irgendeine Quelle außerhalb seiner eigenen Forschungen zu postulieren.“ (6) Aber darum geht es ja: Orientiert man sich nur am Selbstverständnis des Esoterikers, wird man die Entwicklung einer Ideen- Gestalt selten nachvollziehen können, da die Quellen häufig nicht genannt werden. Da Rudolf Steiner in Form der „Akasha- Chronik“ selbst ein okkultistisches Memorationskonzept vorgelegt hat, liegt bei ihm die „ewige Überlieferungslinie“ argumentativ vor der Nase des geneigten Anthroposophie- Followers. Quellen sind für den Anhänger durchaus nachrangig. Wie originell und einzigartig Rudolf Steiner auf Konzepte wie die Chakras eingegangen ist, lässt sich durch eine weit genug gefasste Textsuche im Gesamtwerk ohnehin jederzeit nachweisen. 

Ein weiteres Kennzeichen der Evolution esoterischer Erklärungsmodelle - neben der selektiven Amnesie- scheint die eskalierende Assoziationskette oder Synthese zu sein. Dem schönen 7er- System der Chakras hat sich, Autor für Autor, Jahr um Jahr, Hellseher um Hellseher, stets ein Jahresring weiterer synthetischer Zuordnungen hinzugesellt, so dass am Ende ganze Tabellen von Bezügen entstanden. Waren es zuerst die Farben, gehörten später Edelsteine, Drüsen des Körpers, meditative Symbole, diverse Grade der Erleuchtung, Planeten, Triebe und Begierden bzw. deren Auflösung, Massage- Griffe und Grals- Bilder zu jeweils einem Chakra. Häufig handelt es sich keineswegs nur um eine Theorie, sondern um ein Lebenswerk, dem sich ein hellsichtiger Meister widmet, Buch um Buch schreibt, Schulen gründet, eine Schar von Adepten um sich schart, eine Weile publizistisch Verbreitung findet, um dann ganz und gar vergessen zu werden- oder um in einem neuen Werk eines späteren Meisters aufzugehen, manchmal ohne jemals namentlich erwähnt zu werden. Handbücher zum höheren Bewusstsein bringt jedes Zeitalter und jede Generation hervor, aber die Protagonisten werden meist vergessen. Bei einigen, die in jüngster Vergangenheit doch noch in Standardwerken (7) Erwähnung fanden, erzielen antiquarische Ausgaben bei Amazon absolute Höchstpreise.

Reziproke Bedeutungs- Aufladung (der Begriff ist erfunden) erscheint mir ein weiteres Phänomen der eskalierenden Esoterik- Chakra- Systeme zu sein. Es ist eine Sache, Assoziationsringe zu bilden- Farben werden Chakras zugeordnet, den Farben wiederum Edelsteine, den Edelsteinen Planeten, usw. Zugleich wird aber ein Art Umkehrschluss gezogen, dass die Farben oder Edelsteine, die gerade erst assoziiert worden sind, auch auf das Chakra heilend, besänftigend, Blockaden abbauend wirken sollen. Damit kommt in die Kette erst richtig Schwung, und es wird eben auch wirtschaftlich interessant. Ein ganzes Buch- Genre, Heiler- Dynastien und Industrien können solchen reziproken Zuordnungen entspringen, ja sogar psychologische Richtungen, die in der Ausprägung von Chakras Persönlichkeit- Typen entdecken. So entstehen bizarr wirkende kombinierte Diagnosen wie „Der Kristall von Grün ist eine Modifikation des Quadrates, fast sechseckig“. Selbst Blumen, Monate, spezifische Bedürfnisse, musikalische Noten und chemische Substanzen finden ihre Entsprechungen, wobei der eine oder andere Bezug auch mal wieder für Jahrzehnte vergessen werden kann. 

Die Hierarchie innerhalb des Chakra- Systems - ein weiteres Charakteristikum der Chakra- System- Entwicklung-, wird durch die aufsteigende Kundalini- Energie beschrieben und ist heute in jedem Yoga- Seminar als energetischer Flow, Überwindung von Blockaden im allgemeinen Sprachgebrauch. Schon Helena Blavatsky hatte ihre Schüler im engen Kreis ihrer Schüler über Kundalini unterrichtet- erstmals populär wurde die Schlangenkraft ab 1893 durch den Königlichen Yoga des Swami Vivekananda, der regelrechte Tourneen damit durch England und Amerika unternahm. Sein System bezeichnete er auch als Raja- Yoga. Die Befreiung der durch die Chakren aufsteigenden und befreiten Energie geschah von unten nach oben und wurde durch Atem- Techniken angeregt. In den theosophischen Schriften und Übungen gab es Varianten beim Wecken der Kundalini durch Meditation - beispielsweise auch Einbeziehung von Nebenströmungen oder Bezugnahme auf die Apokalypse: „Das Öffnen der sieben Siegel“ (8). Dazu kam später die westliche Inbeziehung- Setzung zu inneren Organen und Drüsen, was vor allem durch Alice Bailey um 1930 (9) als feste Korrelation formuliert und in Tabellen visualisiert wurde. Sexualität- Liebe- Macht - Kreativität- Selbstausdruck- Imagination wurden in einer Hierarchisiserung der Chakras zu vulnerablen seelischen, sozialen und spirituellen Ebenen, in denen sich das Individuum als blockiert erleben konnte. Der spirituelle Lehrer wurde so in der Folge ersetzt durch diverse Heiler, da die Blockierung des Chakras wegen der Verbindung zu den assoziierten inneren Organen auch zu körperlicher Erkrankung führen konnte. Das so assoziierte und hierarchische Chakra- System wurde so zur Grundlage esoterischen Heilens. 

Ein besonderes Beispiel für die Verquickung eines solchen Kundalini- Systems mit Anthroposophie ist das, was Max Heindel und die von ihm begründete Rosicrucian Fellowship vertrat. Besonders auch deshalb, weil der als so moderat geltende Rudolf Steiner gerade über Heindel in Rage geriet und diesen beschimpfte (10). Der chronisch klamme Heindel war auf Einladung einer Schülerin Steiners nach Dornach gekommen und dort sehr bald in die engsten esoterischen Zirkel um den Meister gelangt. Er hatte sich, wie es Rudolf Steiner öfter passierte, dessen Vertrauen offenbar erschlichen. Als es zum Zerwürfnis kam, musste Heindel, von seiner Dornacher Gönnerin entfremdet, in die USA zurück kehren (11) und schrieb im Rahmen seiner Version von Rosenkreuzertum Bücher, in denen er sich der anthroposophischen Nomenklatur bediente, aber doch so weit distanzierte, dass der Vorwurf des Plagiats, den Rudolf Steiner vertrat (oder des Mysterien- Verrats, wie geneigte Anthroposophen gerne munkelten) übertrieben erscheint. Heindel behauptete ja, erst nach seinem Fortgang aus Dornach durch einen Meister eingeweiht worden zu sein. Im Kern vertrat Heindel in seinem Rosenkreuzer- Buch (12) ein 7er- System im Sinne von Helena Blavatsky mit den Zeilen des Vaterunser, wobei bei Heindel z.B. „Erlöse uns von dem Übel“ als „Gebet für den Intellekt“ (13) in der Mitte steht, in der „siebenfachen Zusammensetzung des Menschen“ (13). 

Das alles sind aber beim Übergang der Verschmelzung östlicher Kundalini- und Chakra- Strömungen mit dem, was der Westen daraus machte, nur exotische Nebenkriegs- Schauplätze. Denn was als die nächste Merger- Eskalationsstufe von Kundalini, Chakren- Systemen auf der einen und der boomenden Selbst- Vervollkommnungs- und -Verwirklichungs -Industrie auf der anderen Seite zusammenfließen sollte, war psychedelischer und sexueller Natur. Ja, die sexuelle Revolution nahte. Vielleicht war es C.G. Jung, der nach einem Studium von The Serpent Power im Gespräch mit einer Patientin Bilder von Kundalini und Chakras erfolgreich ins Spiel brachte: „Die Vorstellungen von Kundalini und den Ebenen des Bewusstseins, die mit den Chakras assoziiert werden, boten Jung einen Weg, mit der Bildersprache in den Träumen und Mandalas seiner Patienten zu arbeiten, was zu einem Rückgang ihrer Symptome führte. (14) Von nun an beschäftigte sich Jung mit Indologen, Mythologen, spirituellen Fachleuten, hielt aber auch selbst Vorträge über sein Verständnis von Kundalini. Diese „Grenzüberschreitung“ C.G. Jungs von Psychiatrie zu östlichem Okkultismus und Symbolik inspirierte sofort weitere Fachleute wie den deutschen Indologen Spiegelberg, der später den Begründer des kalifornischen Esalen- Instituts beriet. Jungs Vorträge selbst wurden allerdings erst eine Generation später, in den 70ern, publiziert. Für Jung war die Basis der „Ort, wo der Menschen Opfer von Impulsen, Instinkten, Unbewusstheit“ sind, das Genital „Irrtum und Begehren“, der Nabel ein „Zentrum der Emotionen“, das Herz der Anfang der Individuation, die Kehle das „Aufgeben der Bilderwelt, eine Bewusstwerdung der ewigen Dinge“, die Stirn die Uni mystica mit der Gottesmacht und schließlich der Scheitel: „da ist kein Objekt.. da ist Gott nicht mehr, sondern nur noch Brahman..“ (15)

Brahman hin oder her, worum es bei dem Esalen- Institut, im New- Age und der psychedelischen Erfahrung ab der 60ern ging, waren die subtilen Energien. Darunter wurde alles gefasst, was bislang als Chakras, Kundalini und Aura durch die Esoterik- Literatur, durch Communities, Sekten und Seminare waberte: „Im New- Age- Kontext wird das Wort Energie häufig als grundsätzliche Gegebenheit vorausgesetzt und absichtlich vage und unerklärt gelassen- oder von pseudowissenschaftlichen Grafiken und Spekulationen umgeben, die es mit Quantenphysik in Verbindung bringen.“ (16) In Esalen versuchte man, das menschliche Potential auszuschöpfen und bediente sich dabei der vorhandenen Energien, sei es von Individuen oder Gruppen, um eine „gesteigerte Vitalität“ (16) zu entfachen. Das war faktisch die materialistische Umdeutung von Knadalini und Einweihung. In Esalen ging es um Erfüllung- sei es „körperlich, sexuell, emotional, gesellschaftlich (oder) spirituell“ (16), ja Esalen verstand die „Wirklichkeit und Macht der Energie“ im Sinne einer „mystischen und erotischen Kraft“ (16). Die ursprüngliche Quelle der verwestlichten Kundalini- Chakra- Interpretationen, die theosophische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderte, war aber nicht mehr Teil dieser esoterischen Umdeutungen- wohl auch, da der moralisierende, ja warnende Ton bei Leadbeater und seiner Generation nicht mehr ins Weltbild passte. Leadbeater hatte noch gewarnt, das vorzeitige Wecken der Kundalini werde „Satyrn in Ungeheuer (sexueller) Verderbtheit“ (16) verwandeln. Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich diese Befürchtungen verstreut, und stattdessen wurde, etwa bei Sydney Arundale, Sexualität und Kundalini als weibliche, kreative Elemente, als Ausdruck von Vitalität verstanden. Dennoch entstand mit den aufkommenden Yogis ein schmaler Grad zwischen esoterischer Beeinflussbarkeit und hedonistischer Promiskuität. Indirekt war auch Esalen durch tantrische Yogis beeinflusst. Vor allem aber natürlich auch durch ein Schwergewicht, nämlich Wilhelm Reich. 

Reichs „Orgon“- Begriff ging über Sigmund Freuds Libido- Vorstellung weit hinaus, denn der zunächst instinkthafte Sexualtrieb, der sublimiert in intellektuellen, schöpferischen und geistigen Aktivitäten sichtbar werden konnte, wurde für Wilhelm Reich zu einer kosmischen und universellen Kraft. Das hatte, von der Psychoanalyse kommend, große Ähnlichkeit mit den Kundalini- Chakra- Interpretationen. Auch die „Blockaden“ oder „Panzerungen“ - seien sie sexuell, von den Chakren her, spirituell, emotional oder körperlich aufgefasst (und die Notwendigkeit ihrer Er- Lösung, um den Anschluss des Individuums ans orgastische oder kosmische Ganze zu bewerkstelligen), wurden zum Anstoss für immer neue Therapie- Ansätze wie die Bioenergetik. Dass Wilhelm Reich tatsächlich sieben Zonen körperlicher Panzerung identifizierte führte dazu- „dass die Leute in Esalen (Reichs Vorstellungen) als eine unabhängige, westliche, wissenschaftliche Validieren der Existenz des östlichen Chakrasystems betrachteten.“ (17) Neo- Tantrische Bewegungen wie die von Osho folgten später und hoben Bhagwan Shree Rajneesh eine Zeitlang, bis zu seinem tiefen Sturz, auf den goldenen Thron des King of Gurus. 

Seit der Jahrtausendwende tauchen immer wieder messianische Gestalten auf, die eine Zeitlang die Vorzüge modernen Gurutums und die damit verbundene Neu- Ausrichtung der Follower in Richtung Erleuchtung predigen- teilweise, angeschoben auch durch YouTube und Social Media insgesamt, mit riesigem Gefolge und weltweiten Organisationen. Meist evozieren bestimmte Übungen, Meditationen und Massen- Suggestionen bestimmte spirituell beeindruckende Erfahrungen in den Anhängern, die den eigentlich schlichten hierarchischen Strukturen der klassisch- theosophischen und neo- tantrischen Kundalini- Chakra- Muster folgen. Meist zerbrechen die Guru- Schüler- Beziehungen meist aufgrund innerer Widersprüche und Spannungen innerhalb des Systems. 

Anders sieht es mit der Säkularisierung der Kundalini aus, die heute z.B. in der Health- App von Apple und bei YouTube in unzähligen Yoga- Kursen, in Fitness- Studios und Selfcare- Ratgebern. Vor einem Millionen- Publikum raten die Online- Yoga- Lehrer, das Licht durch ihren Scheitel einzuatmen, die Energien fließen zu lassen und sich in der Herzmitte zu sammeln. Das Vokabular, die esoterische Symbolik, die alte energetische Vorstellung fließen ein in die Lebenswirklichkeit der Allgemeinheit. Das Fremdeln, Schaudern, narzisstische Empfinden von Auserwähltheit, das den Nimbus der Esoterik ausmacht, ist in eine pragmatische, völlig säkulare Gesundheit- Vorsorge übergegangen. Auf Instagram beweisen Jung und Alt, Frauen, Männer, Kinder, Hausfrauen und gestählte Muskelmänner in exotischen Umgebungen, in freier Natur oder im heimischen Wohnzimmer vor der Klangschale, wie gut und gesund die ausgewogene, gekonnte Bewegung, die dem Weg der Kundalini folgt, tatsächlich aussieht. Tatsächlich wirken Meister der Balance in ihrer ganz eigenen Ästhetik von Ruhe, Bewegung, Balance und Stille wie eine eigene Kunstform. Dass die Übungen in körperlicher Balance, die ein Multi- Millionen - Publikum erreichen, das seine Chakras energetisch auslotet, von Apple nicht nur auf jedes Smartphone gestreamt wird, sondern selbst auf die Uhren, bringt die stets anschließenden meditativen Phasen in jedermanns Alltag hinein. Fokussierung, Stille, das Erwachen des inneren Bewusstseins, wird aus den Nischen der esoterischen Zirkel mit ihrem Muff und ihren autoritären Strukturen ins technologische und demokratische Allgemein- Wissen überführt. 

Tragen wir den Karma- Deo- Roller- Duft und befreien das Herz- Chakra! Feiern wir die Erleuchtung auf der Apple- Watch! Freiheit für Helena- Blavatsky und ihre theosophische Kundalini- Schlange! Raus aus dem Muff der esoterischen Kopf- Geburten und der verdrucksten Orgon- Spezialisten! 


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Verweise, Zitate und Links


1 Kurt Leland, Das Chakra System. Die feinstoffliche Struktur des Menschen, Grafing 2016

2 KL S. 430ff

3 https://www.biovea.com/de/product/detail/6062/chakra-ausgleichende-aromatherapie-deoroller-biologisch-enlightening-crown

4 KL, S. 83 ff

5 Olav Hammer nach KL, S. 83f

6 Ravagli in https://www.zander-zitiert.de/publikationen/anthroposophie-in-deutschland/dubiose-quellen/?tx_bbzitate_zitate%5B%40widget_0%5D%5BcurrentPage%5D=2&cHash=3a218cf8e4d3073fc7ca9e54793eb53f

7 Etwa in Barbara Brennans „Lichtarbeit“, dem komplexesten Chakra- Werk, in dem die Assoziationskette sich selbst übertrifft, da zusätzlich Neben- Chakras, chinesische Medizin und Akupunktur- Punkte ins Chakra- System eingeführt werden https://de.wikipedia.org/wiki/Barbara_Brennan

8 KL, S. 184

9 in The Soul and its Mechanism (1930)

10 Rudolf Steiner über Max Heindel: „Sehen Sie, wir haben heute schon gründlich genug Feinde, und die Art, wie sie vorgehen, ist ja eine ganz eigentümliche. Ich will über diesen Punkt nicht sprechen, Sie kennen ihn vielleicht aus den «Mitteilungen». Sie kennen ja auch die merkwürdige Tatsache, daß es seit längerer Zeit Menschen gibt, die davon sprechen, wie infiziert von allem möglichen engherzigen Christentum, ja sogar von Jesuitismus die Lehre ist, die von mir verkündet wird. Insbesondere sind es gewisse Anhänger der sogenannten Adyar-Theosophie, welche in der schlimmsten Weise eben diesen Jesuitismus verkünden und lauter gehässiges, gewissenloses Zeug reden. Aber dabei tritt auch noch das zutage, daß von einer Stelle aus, wo man recht sehr gewütet hat gegen das Engherzige, Verkehrte, Verwerfliche, unsere Lehre bodenlos gefälscht worden ist. Es hat unsere Lehre ein Mann, der aus Amerika kam, durch viele Wochen und Monate kennengelernt, aufgeschrieben und dann in verwässerter Gestalt nach Amerika getragen und dort eine Rosenkreuzer- Theosophie herausgegeben, die er von uns übernommen hat. Er sagt zwar, daß er von uns hier manches gelernt habe, daß er aber dann erst zu den Meistern gerufen wurde und von ihnen mehr gelernt habe. Das Tiefere aber, was er aus den damals unveröffentlichten Zyklen gelernt hatte, verschwieg er als von uns gelernt. Daß so etwas in Amerika geschah - man könnte ja, wie der alte Hillel, in Sanftmut bleiben; man brauchte sich diese auch nicht nehmen lassen, wenn das auch nach Europa herüber spielt. Es wurde an der Stelle, wo man am meisten gegen, uns gewütet hat, eine Übersetzung gemacht dessen, was über uns nach Amerika geliefert worden ist, und diese Übersetzung wurde eingeleitet damit, daß man sagte: Zwar träte eine rosenkreuzerische Weltanschauung auch in Europa zutage, aber in engherziger, jesuitischer Weise. Und erst in der reinen Luft Kaliforniens konnte sie weiter gedeihen. - Nun, ich mache Punkte . . . ! Das ist die Methode unserer Gegner. Wir können nicht nur mit Milde, sondern sogar mit Mitleid diese Dinge ansehen, aber wir dürfen den Blick nicht davor verschließen.“  R. Steiner, GA 148, S. 97

11 „In der Adyar-TG hatte er Alma von Brandis kennengelernt, die eine esoterische „Geheimschülerin“ Rudolf Steiners war. Diese lud ihn 1907 ein, auf ihre Kosten mit nach Deutschland zu Rudolf Steiner zu fahren. Steiner war zu jener Zeit Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Auf Brandis Empfehlung und wegen seines früheren Vizepräsidentenpostens bei den Theosophen in Los Angeles, akzeptierte Steiner ihn als «Geheimschüler» in seiner rosenkreuzerisch ausgerichteten Esoterischen Sektion, deren Gründer und autokratischer Leiter er war. Dort nahm Heindel fünf Monate lang, von November 1907 bis März 1908, an dessen Geheimschulungen und esoterischen Vorträgen teil. Auch in der noch geheimeren steinerschen „Freimaurerei“ des sogenannten Misraim-Dienstes wurde er aufgenommen. Steiner sprach in dieser Zeit unter anderem über die Rosenkreuzer, die Referate waren unter Verwendung der theosophischen Terminologie ausschließlich von Steiners eigenen Gedanken geprägt. Heindel war von den Ausführungen Steiners sehr enttäuscht. Das führte im April 1908 zur Abkühlung des Verhältnisses zu Brandis. Da damit auch seine Geldquelle ausfiel, musste er im Sommer 1908 in die USA zurückkehren.“ https://anthrowiki.at/Max_Heindel

12 Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder Mystisches Christentum, 1909

13 KL, S. 264, Grafik

14 KL, S. 317

15 KL, S. 319f

16 KL, S. 336ff

17 KL, S. 339