Das Klagelied aus dem anthroposophischen Elfenbeinturm
„Die letzten Jahre waren mehr als herausfordernd – auch für viele Menschen in der Anthroposophische Bewegung und Gesellschaft. Wie lassen sich diese gegenwärtigen Veränderungen beschreiben und verstehen? Was ist in dramatischer Weise anders geworden? Was bleibt von dem Jahr 2022 und was haben wir 2023 zu erwarten? Dies ist der Versuch eines persönlichen Blicks auf die kulturverändernden Vorgänge.“ (1)
Schmock beklagt nach den Krisen während der Pandemie und nach Ausbruch der Krieges - die russische Invasion benennt Schmock als solche nicht- die „Art des öffentlichen Denkens, Sprechens und kommunikativen Handelns“, die „zu sozialen Spaltungen und Zerwürfnissen“ (1) führe. Auch an dieser Stelle wäre es für den Generalsekretär einer Erkenntnis- Gemeinschaft förderlich gewesen, zu der Fülle von anthroposophischen Publikationen, die von berechtigter Kritik an überzogenen Corona- Maßnahmen bis hin zu Leugnung und absurden politischen Verschwörungstheorien reichten, zumindest ein selbstkritisches Wort zu finden. Stattdessen beruft sich Schmock auf in Umfragen festgestellte Gefühle und das Erleben „vieler Menschen“, „die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung“ (1) eingeschränkt zu erfahren. Die „andersdenkenden Menschen“ fühlten sich diskriminiert und etikettiert. Offenbar beobachtet Schmock eine Eskalation der Narrative, die zu beklagenswerten öffentlichen Zuschreibungen wie „„Volksverräter“, „links-grün-versifft“, „rechts“, „Antisemit“, „Corona-Leugner“, „Schwurbler“, „Putin-Versteher“, „Esoteriker“, „wissenschaftsfeindlich““ (1) führten. So ginge insgesamt „das gemeinsame Ringen um Argumente und Verständnis verloren“ (1).
Von dieser Eskalation sei auch die Rezeption der Anthroposophie und Rudolf Steiners betroffen, wie eine Analyse der vielen kritischen Beiträge und Artikel gezeigt habe. Anthroposophen gegenüber werde „eine Reproduktion von Meinungen oder Vorurteilen“ (1) betrieben, die in Diffamierungen wie „„Schwurbler“, „Querdenker“, „Rassisten“, „Esoterik-Spinner“, „Corona-Leugner“, „Staatsfeinde“ oder „gefährliche Wissenschaftsleugner““ gipfeln würde. Das sei ein Signal „für ein Ende der Debatte und den Beginn einer sozialen, ethischen und weltanschaulichen Diffamierung“ (1) von Anthroposophen schlechthin. Damit sei die „diskursive Grundlage der Demokratie in Deutschland gefährdet?“ (1) Da hat Schmock nun die ganz große Keule heraus geholt. Die Schuldigen an der Eskalation der Diskurse liege bei den „Medienmachern“ (1), deren Wirken Schmock bei Bestseller- Autoren und Markus-Lanz-Couch-Philosophen wie Precht und Welzer studiert hat: „Harald Welzer und Richard David Precht analysieren in ihrem Buch „Die vierte Gewalt – Medien auf dem Prüfstand“, wie die Meinungsbildung als eine Art sozial-psychologisch motivierte „konzertierte Aktion“ zu einem stromlinienförmigen Produkt der Medienmacher geworden ist.“ (1)
Aber das weiß er noch weiter zuzuspitzen. Lusseyran (2), den Widerstandskämpfer und KZ- Insassen, zitiert er in dessen berechtigtem Aufschrei gegen Fanatismus und Autoritarismus, gegen die Manipulation der Massen und ihres Unbewussten. Daraus folgert Schmock: „Diese Zeilen stammen aus einer Zeit, in der die Manipulation der Massen, die Ausgrenzung und die Vernichtungsstrategien menschenverachtend und tödlich geworden waren. So weit sind wir heute nicht. Trotzdem scheint es mir sinnvoll, sich heute auf dieses Zeitzeugnis zu besinnen, um an den gegenwärtigen Symptomen und dem Umgang mit unseren gemeinsamen Sprachen aufzuwachen.“ (1)
Trotz der Relativierung scheint in den Augen Schmocks ein innerer Zusammenhang zwischen den Intentionen der Kritiker an anthroposophischen Weltanschauungen und den Zuständen zu bestehen, denen Lusseyran in Buchenwald ausgesetzt war. Diese Analogie erscheint mir nicht nur vollkommen überzogen, sondern auch geschmacklos zu sein. Zudem wirkt die Identifikation der „andersdenkenden“ Anthroposophen mit gefangenen Widerstandskämpfern genau als die Art von eskalierenden Narrativen, die Schmock gerade lauthals beklagt hat. Die Anthroposophen als Opfer einer medialen Meinungsdikatatur, die die freien Denker knechtet und verhöhnt. Es ist zum Mäusemelken. Die schlichten Weltbilder, die lähmenden Schwarz- Weiß- Narrative und Selbstgefühle, die Schmock beklagt: Er praktiziert eben das, was er den „Medienmachern“ unterstellt.
So bleibt leider wenig Hoffnung für seinen Schluss- Appell: „Für das Jahr 2023 wünsche und erhoffe ich mir diesen Aufwachprozess im gesamtgesellschaftlichen Diskurs.“
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1 https://www.anthroposophische-gesellschaft.org/blog/aufwachen-am-gesamtgesellschaftlichen-diskurs